Stillen oder besser doch nicht?

HIV-positiven Frauen in Ländern mit Zugang zu sauberem Wasser wurde bisher grundsätzlich vom Stillen abgeraten. Das Risiko einer HIV-Transmission sei zu hoch. Eine Gruppe von Schweizer Ärzt_innen sieht das nicht so und rät nicht mehr grundsätzlich vom Stillen ab. Was raten Sie Ihren Patientinnen?

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© fotolia, Seventyfour

Erstvorstellung in der Praxis 6/2015. 20jährige Patientin aus Nigeria. Patientin spricht gut englisch, kein Deutsch. Seit 2012 in Europa in verschiedenen Ländern. Anfang 2016 sei in Spanien wegen einer Parotisschwellung ein HIV-Test gemacht und gleich eine ART mit Atripla® eingeleitet worden. Sonst keine HIV-assoziierten Erkrankungen, keine Beschwerden. Jetzt hat sie sich in München als Flüchtling registriert. Atripla® verträgt sie sehr gut.

6/2015: Labor VL 90 Kopien/ml, CD4 370/µl 37%. Alle übrigen Laborwerte im Normbereich.

7/2015: VL <20 Kopien/ml, CD4 380/µl, 40%.

1. Schwangerschaft

9/2015: SSW4, deshalb Switch von Atripla® auf Reyataz/r/Truvada

10/2015: Krankenhauseinweisung wegen offener TB. Dort Switch auf Truvada®/Isentress® Laborkontrollen während Schwangerschaft immer <20 Kopien/ml, CD4 dauerhaft >400/µl

4/2016: Vaginale Entbindung, gesundes Kind. Stillverzicht

6/2016: Ende TB-Therapie und Switch auf Wunsch der Patientin auf Atripla®.

2. Schwangerschaft

10/2016: SSW4, Switch auf Reyataz®/r/Truvada®

11/2016: VL 38 Kopien/ml

12/2016: Abgang der Schwangerschaft, Switch auf Atripla®

3monatliche Kontrollen, bis 7/2018 einmalig VL 670 Kopien/ml, „Tabletten ausgegangen“

3. Schwangerschaft

10/2018: SSW8, VL <20 Kopien/ml, Atripla® weiter

Im Verlauf der Schwangerschaft vier Kontrollen VL unter Nachweisgrenze, einmal VL 120 und einmal 78 Kopien/ml.

Vaginale Entbindung geplant. Patientin möchte stillen. Beim ersten Kind hätte sie allen sagen können, dass sie wegen den Tuberkulose-Medikamenten nicht stillen kann. Jetzt sei das nicht möglich. „Wenn ich nicht stille, wissen alle, dass ich HIV habe!“. Das will sie auf keinen Fall. „Ist das Stillen wirklich so gefährlich für mein Kind? Was soll ich tun? Ich verlasse mich auf Ihren Rat!“




Kommentar Dr. Anja Meurer, München

Beraten und betreuen

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Dr. Anja Meurer
Zentrum für Innere Medizin und Infektiologie (ZIMI)

Dr. Anja Meurer und
Dr. Joanna Eger
Ainmillerstraße 26
80801 München

Nicht zu stillen ist bei der hier betroffenen Frau mit einem Stigma belegt. In der Vergangenheit hat sie gute Adhärenz gezeigt. Eine Verständigung ist gut möglich. Unter diesen Voraussetzungen würde ich folgendes mit ihr besprechen:

  • Aufgrund der Datenlage kann man eine postpartale MTCT durch Stillen nicht zu 100% ausschließen, bei
    adaptierter Säuglingsnahrung schon.
  • Unter suppressiver antiretroviraler Therapie ist das Risiko sehr gering, wenn alles gut läuft.
  • Das Kind wird den antiretroviralen Medikamenten, die die Mutter einnimmt, teilweise ausgesetzt.
  • Wenn sie sich dazu entschließt, sollte sie monatlich zur Viruslastkontrolle kommen. Dabei kann auch die
    Adärenz überprüft werden.
  • Sie sollte dann ausschließlich stillen, also nicht zufüttern.
  • Sie sollte gut durch eine Hebamme betreut werden und bei Schwierigkeiten wie Mastitis, Rhagaden der Mamillen etc. nicht stillen.

In den Guidelines der BHIVA (Update 2019) sowie den Deutsch-Österreichischen Leitlinien (2017) wird das ähnlich formuliert.

In jedem Fall sollten die Daten sorgfältig gesammelt werden, um mehr Sicherheit in unseren Empfehlungen zu bekommen.


Kommentar Fabian Weiß, München

Nicht stillen ist besser!

 Fabian Weiß  Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe

Fabian Weiß

Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe

Klinikum der
Ludwig-Maximilian-Universität München

Die zentrale Botschaft einer Aufklärung der englischsprachigen HIV-positiven Drittgravida sollte sein – unabhängig von einer Entscheidung für oder gegen das Stillen – dass nach der Geburt eine interdisziplinäre Anbindung notwendig bleibt.

Aktuell empfiehlt keine Leitlinie (AWMF, BHIVA, ACOG, GFMER) das Stillen. Dies gründet auf der nachgewiesenen möglichen Transmission via Muttermilch und breiter Verfügbarkeit von Ersatznahrung. Aufgrund dessen würde ich der Patientin nicht explizit zum Stillen raten.

Anschließen sollte sich die Erläuterung, dass auch andere Erkrankungen wie z.B. ausgeprägte Brustentzündungen zum Abstillen führen können – was sicherlich auch als Vorwand benutzt werden könnte, da die Patientin bei Stillverzicht soziale Ausgrenzung fürchtet.

Wenn die Patientin weiterhin Stillen möchte, ist besonders dann eine komplette Virus-Suppression wichtig. Bis zu 30% der Mütter im Wochenbett haben aufgrund verschiedener Faktoren wieder nachweisbare Viruslasten und damit ein erhöhtes Transmissionsrisiko. Nur im „optimal scenario“ bei dauerhaft supprimierter Viruslast vor, in und nach der Schwangerschaft befürworten Kahlert et al. die Unterstützung beim Stillen. Die Mutter hatte immer wieder, wenn auch niedrige, Viruslasten in der Schwangerschaft, sodass auch unter diesem Aspekt keine Empfehlung ausgesprochen werden sollte.

Doch auch bei regelmäßiger ART-Einnahme sind Nebenwirkungen, Langzeitfolgen und mögliche Resistenzbildungen beim Neugeborenen bisher noch nicht abschließend geklärt. Auch kann eine HIV-Transmission bei supprimierter Viruslast über die Muttermilch noch nicht abschließend ausgeschlossen werden (Stichwort zellulär gebundener Virus), selbst wenn das Risiko als extrem(!) niedrig gilt.

Mischfütterung oder „heimliches Stillen“ sind aber in jedem Fall zu vermeiden, ebenso ein gegebenenfalls daraus resultierendes Ausbleiben von weiterer interdisziplinärer Betreuung. Sollte sich die Patientin abschließend für das Stillen entscheiden, gilt es das zu akzeptieren. Ich würde dann ein Gespräch mit einem infektiologischen Kinderarzt organisieren sowie eine Nachsorgehebamme zur Unterstützung empfehlen. Postpartal sollten monatlich die mütterliche Viruslast und kindliche HIV-PCR bestimmt werden.

Zusammenfassend würde ich der Patientin zum Stillverzicht raten, ihr bei ausdrücklichem Wunsch aber eine engmaschige
Betreuung anbieten. Spätestens bei erneut nachweisbarer Viruslast, Mastitis oder nach 6 Monaten sollte sofort abgestillt werden.



Kommentar Dr. Annette Haberl, Frankfurt

Die Patientin hat sich bereits entschieden

Dr. Annette Haberl

Dr. Annette Haberl

Leiterin des Bereichs HIV
und Frauen am HIVCENTER des Universitätsklinikums Frankfurt

Als Ergänzung zum generellen Stillverzicht bei mütterlicher HIV-Infektion sieht die Deutsch-Österreichische Leitlinie eine individualisierte medizinische Betreuung vor, wenn Frauen ihre Kinder dennoch stillen möchten. Grundvoraussetzung für das Stillen ist eine dauerhaft supprimierte mütterliche Viruslast unter ART. Diese Forderung findet sich auch in den Britischen und Schweizer Empfehlungen zum Stillen mit HIV, allerdings wird hier die „dauerhafte“ Suppression noch genauer definiert: Die mütterliche Viruslast sollte während der gesamten Schwangerschaft unter 50 Kopien liegen.

Im vorliegenden Fall hatte die Schwangere bereits zweimal eine – wenn auch sehr niedrige – nachweisbare Viruslast. Ob Schwangerschaftserbrechen, Adhärenzprobleme oder niedrige Medikamentenspiegel zu den Blips geführt haben, bleibt offen. Fest steht, dass die Patientin damit nicht die optimalen Voraussetzungen für das Stillen erfüllt. Genauso fest steht aber auch, dass sie sich in ihrem privaten Umfeld keinesfalls durch einen Stillverzicht als HIV-positiv outen will. Beim ersten Kind hatte sie wegen der TB-Medikation noch auf das Stillen verzichtet. Jetzt klingt es so, als habe sie ihre Entscheidung für das Stillen bereits getroffen. Trotzdem sollten mit ihr noch einmal die Vor- und Nachteile des Stillens sowie das Monitoring während der Stillperiode besprochen werden. Wird die Patientin definitiv stillen, ist mit ihr die Dauer festzulegen und das sofortige Abstillen bei einem erneuten Viruslastanstieg zu vereinbaren. Die Entscheidung der Patientin sollte so früh wie möglich interdisziplinär im lokalen Behandlungsnetzwerk kommuniziert und dann von allen Beteiligten mitgetragen werden.

Stillen unter ART: In der PROMISE Study wurde die Sicherheit des Stillens bei 2.431 Mutter-Kind-Paaren untersucht. Dabei erhielt entweder die Mutter eine ART oder das Kind eine Prophylaxe mit Nevirapin. Die HIV-Transmissionsrate lag bei 0,3% bzw. 0,7% nach sechs bzw. 12 Monaten Stilldauer. Zwei Transmissionen erfolgten bei negativer mütterlicher Viruslast. In der Studie konnten keine negativen Effekte der ART-Exposition bei den gestillten Kindern festgestellt werden. Daten zu möglichen Langzeiteffekten der ART-Exposition bei gestillten Kindern liegen noch nicht vor.

Datenlage in Deutschland: Das Deutsche HIV-Schwangerschaftsregister erfasst inzwischen auch das Stillen. Darüber hinaus untersuchen derzeit zwei Studien die bisherigen Stillerfahrungen mit HIV in Deutschland.



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