Hans-Jürgen Stellbrink, Hamburg
Kommentar zur Neufassung der Deutsch-Österreichischen Leitlinien zur antiretroviralen Therapie

Die Leitlinien der Deutschen und der Österreichischen AIDS-Gesellschaft zur antiretroviralen Therapie der HIV-Infektion wurden neu gefasst.1 Die aktuelle Version beinhaltet einige Änderungen gegenüber der Vorversion und einige Unterschiede zu den Leitlinien der Europäischen AIDS-Gesellschaft (EACS)2 und den DHHS- Leitlinien.3

Tab. 1: Graduierung
Tab. 1: Graduierung

Tab. 2: Therapiebeginn
Tab. 2: Therapiebeginn

Therapieindikation

Tabelle 1 zeigt die Bewertungsgrundlage, Tabelle 2 die aktuellen Empfehlungen zum Therapiebeginn auf der Basis von CD4+-Zellzahlen und Zusatzkriterien. Darin wird jetzt bei Unterschreiten einer CD4+-Zellzahl von 350/µL generell eine Therapie empfohlen. Wenn bei höheren CD4+-Zellzahlen als 350/µL weitere Kriterien hinzutreten, wird die Einleitung einer Therapie im Bereich von 350-500/µL im allgemeinen als ratsam, wenn diese nicht vorliegen, als vertretbar betrachtet. Im Bereich von über 500 CD4+-Zellen/µL ist eine Therapieeinleitung vertretbar, wenn Zusatzkriterien vorliegen (Tab. 3). Liegen diese nicht vor, ist die Therapieindikation im allgemeinen abzulehnen.

In diesem Punkt sind die EACS-Leitlinien ähnlich, wenn auch etwas zurückhaltender, während die DHHS-Leitlinien die Therapie bei 350-500 CD4+-Zellen/µL für empfehlenswert und sogar über 500 CD4+-Zellen/µL für eher angezeigt oder vertretbar halten, allerdings mit Verweis auf die ungenügende Datenlage. Eine zweifelsfrei diagnostizierte HIV-Nephropathie gilt in den Deutsch-Österreichischen Leitlinien als symptomatische HIV-Infektion und begründet daher ebenso wie WHO/CDC B- und C-Symptome eine Therapieindikation.

  • Schwangerschaft
  • Alter >50 Jahre
  • HCV
  • HBV
  • Hohes kardiovaskuläres Risiko
    (Framingham-Risiko >20%/10 J.)
  • Absinken der CD4+-Zellzahl
  • Plasmavirämie >100.000 Kopien/mL
  • Reduktion der Infektiosität

Tab. 3: Zusatzkriterien für die Therapieeinleitung


Einstufung:

  • „Empfohlen“ = Vorrangige/s Medikament/Kombination für die Primärtherapie. Es können Einschränkungen im Detail gemacht werden.
  • „Alternative“ =  Mögliche Verwendung, falls eine der empfohlenen Optionen nicht sinnvoll erscheint oder nicht in Frage kommt.
  • „Nicht empfohlen“ = vertretbare Alternative in Einzelfällen, die Verwendung soll begründet erfolgen.
  • „Kontraindiziert“ = Verwendung ist nicht oder allenfalls in sehr sorgfältig begründeten Einzelfällen vertretbar.

Tab. 4: Bewertung Substanzen/Kombinationen

Akute Infektion

Bei der Frage nach der Therapieindikation bei primärer (akuter) HIV-Infektion wird jetzt differenziert: Bei protrahierten und/oder schweren Serokonversionssymptomen ist die Spontanprognose bezüglich Progression und CD4+-Zellzahlverlust sehr ungünstig. Eine Therapie wird daher im allgemeinen als ratsam angesehen, wobei die Frage nach einer zeitlichen Begrenzung im Einzelfall mit dem Patienten abgesprochen werden muss. Bei asymptomatischer oder gering symptomatischer Infektion ist die Therapie vertretbar, wird aber nicht allgemein empfohlen.

Die EACS-Leitlinien nennen als zusätzliches Kriterium eine CD4+-Zellzahl von unter 350/µL an Monat 3. In den DHHS-Empfehlungen wird die Therapie der akuten HIV-Infektion im Unterschied dazu generell als optional angesehen.

Mittel der Wahl

Bei den Empfehlungen zur Substanzwahl wurden folgende Bewertungsprinzipien verfolgt:

  1. Vorliegen von langfristigen Wirksamkeitsdaten bzw. Vergleichsstudien mit dem therapeutischen Standard über mindestens 96 Wochen,
  2. Bevorzugung von Substanzen/Kombinationen mit pharmakologischen Vorteilen wie Fixkombinationen oder Unabhängigkeit von Kühlung,
  3. Geringere Priorisierung oder spezielle Anmerkungen bei Vorliegen von Anwendungsbeschränkungen (z.B. CD4+-Zellzahl-Restriktion) oder substanz-spezifischen Toxizitäten,
  4. Unterschiede in Wirksamkeit, Toxizität und Resistenzentwicklung.

Dabei wurde eine neue, vereinheitlichte Bewertung eingeführt (Tab. 4).

NRTI

Tab. 5: Substanzwahl
Tab. 5: Substanzwahl 

Die neue Fassung der Leitlinien unterscheidet sich von der Vorversion vor allem in der Bewertung von ABC/3TC, Proteaseinhibitoren und Raltegravir (Tab. 5). ABC/3TC wird wegen der geringfügig unterlegenen virologischen Wirksamkeit in ASSERT und ACTG5202, des Risikos einer Hypersensitivitätsreaktion (HSR) und der statistischen Assoziation mit Koronarereignissen zwar weiterhin für die Primärtherapie empfohlen, dies jedoch mit den entsprechenden Anmerkungen. Die fortgeführte Einstufung als „empfohlen“ wird durch die gleiche Wirksamkeit wie TDF/FTC in Kombination mit LPV/r, die Möglichkeit der Minimierung des HSR-Risikos durch Ausschluss eines hohen genetischen Risikos und das geringe Ausmaß der kardiovaskulären Risikoerhöhung bei Patienten mit niedrigem vorbestehendem Koronarrisiko begründet. Auch TDF/FTC wird aufgrund der ASSERT- und ACTG5202-Studien mit der Anmerkung des erhöhten Verlustes an Knochendichte versehen. Tenofovir+Lamivudin (TDF+3TC) wird wegen des Nachteils einer fehlenden Koformulierung als Alternative betrachtet. In Bezug auf ABC/3TC entsprechen diese Leitlinien den EACS-Leitlinien und unterscheiden sich damit von den DHHS-Leitlinien, in denen ABC/3TC als Alternative aufgeführt wird.

Proteasehemmer

Die neuen Studiendaten zur Primärtherapie mit Darunavir/r (ARTEMIS) und Atazanavir (CASTLE) haben die Einstufung als „empfohlen“ zur Folge gehabt. Lopinavir/r wird – im Gegensatz zu den DHHS-Empfehlungen, aber in Übereinstimmung mit den EACS-Leitlinien – wegen der vorliegenden Langzeiterfahrungen und des pharmakologischen Vorteils der Koformulierung weiterhin empfohlen, allerdings mit der Anmerkung eines evtl. erhöhten Koronarrisikos. Für Fosamprenavir besteht bezüglich der Wirksamkeit eine ähnliche Datenlage wie für Lopinavir/r, so dass es weiterhin empfohlen wird. In den EACS- und DHHS-Leitlinien wird es als Alternative genannt. Vor allem die fehlenden Vergleichsdaten über 48 Wochen hinaus haben in den Deutsch-Österreichischen Leitlinien zur Einstufung von Saquinavir/r als „Alternative“ geführt. Dies ist ein Unterschied gegenüber den EACS-Leitlinien, die SQV/r weiterhin als „empfohlen“ führen.

Integrasehemmer

Neu ist die Einstufung von Raltegravir (RGV) als „empfohlen“. Sie beruht auf der sehr guten Datenlage über 96 Wochen mit Nichtunterlegenheit gegenüber Efavirenz. Diese entspricht den DHHS-Empfehlungen und geht weiter als die EACS-Leitlinien, die RGV wegen der hohen Kosten als Alternative betrachten. Der Hersteller ist diesen Bedenken bereits entgegengekommen und hat den Preis gesenkt.

NNRTI

Die Einstufung der NNRTI Efavirenz (EFV) und Nevirapin (NVP) hat sich nicht wesentlich verändert. Hier hat die verbesserte Studienlage bezüglich der virologischen Wirksamkeit für Nevirapin im Vergleich mit Atazanavir durch die
ARTEN-Studie die Toxizitätsrisiken nicht aufwiegen können, die zu den entsprechenden Anmerkungen führten, hat aber die fortgeführte Einstufung als „empfohlen“ bekräftigt. Im Gegensatz dazu wird NVP in den DHHS-Leitlinien nur noch als Alternative genannt.

Folgetherapien

Einige Passagen der Leitlinien, die sich mit Folgetherapien und Therapien bei Therapieversagen befassen, wurden gekürzt oder gestrichen. Hier werden angesichts der Vielfalt der Möglichkeiten nur noch strategische Empfehlungen gegeben (Tab. 6).

Tab. 6: Therapie bei Versagen
Tab. 6: Therapie bei Versagen

Virologisches Versagen

Als weitere Neuerung erfolgt die Definition des virologischen Therapieversagens jetzt indirekt. Bei fehlendem oder unzureichendem Ansprechen (Abfall der HIV-RNA um weniger als 2 log-Stufen nach 4 Wochen, eine nachweisbare HIV-RNA nach 6 Monaten oder einen Wiederanstieg auf über 50 Kopien/mL) soll eine Überprüfung der ART im Hinblick auf die Effektivität erfolgen. Dies hat seinen Grund in der Vielzahl von Möglichkeiten, die einem unzureichenden Ansprechen oder einem Wiederanstieg der Plasmavirämie zugrunde liegen (z.B. Adhärenzprobleme, Interaktionen, Resistenzen, Blips oder low-level-Virämie unter PI/r-basierter Therapie). Die therapeutischen Konsequenzen einer sinkenden CD4+-Zellzahl oder des Auftretens opportunistischer Infektionen trotz virologischen Therapieerfolgs sind derzeit unklar, so dass auch hier die Empfehlungen vage gehalten sind und im Wesentlichen auf die möglichen Ursachen verweisen.

Wirtschaftlichkeit

Ein weiterer neuer Aspekt dieser Leitlinien ist das Eingehen auf den Aspekt der Wirtschaftlichkeit.

  • Klarstellung der bisher unbefriedigenden Datenlage für Österreich und Deutschland
  • Betonung des Primats der Orientierung am individuellen Patienten-Interesse
  • Allein Preise erlauben keine Abschätzung der Kosteneffektivität, nur bei gleichwertigen Optionen hilfreich
  • Keine schematische Vorgehensweise

Siehe auch Beitrag Stoll  --



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