Stellungnahme von HIV-GRADE zu zwei Vorträgen
Viraler Tropismus
In Glasgow wurden Ende letzten Jahres im Rahmen des 10th International Congress on Drug Therapy in HIV Infection zwei Beiträge präsentiert, die aufgrund fraglicher therapeutischer und diagnostischer Implikationen HIV-GRADE zu einer Stellungnahme hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Einordnung veranlassen.
Beitrag 1:
„HIV Entry blocked by MVC can cause an
overestimation of viral load”
von Sloan R D, vorgestellt von Mark
Wainberg
Mark Wainberg präsentierte in dieser Untersuchung eine Analyse an Zellkulturen. Dabei stellte er fest, dass in der Zellkultur die Aufnahme von HIV in die Zellen durch MVC behindert wird. Die Viren bleiben daher – wegen des effektiven Wirkstoffs – im Zellkulturüberstand nachweisbar. Diese Zellkulturergebnisse wurden wie folgt auf die Situation im Patienten übertragen: wenn MVC im Patienten den gleichen Effekt wie in Zellkultur hätte, würde HIV-RNA im Plasma verbleiben und nicht in die Zellen aufgenommen. Damit könnte trotz eigentlich erfolgreicher Therapie die Viruslast im Vergleich zu anderen Therapieregimen hoch bleiben. Dieser postulierte Effekt wurde auch als Erklärung dafür herangezogen, dass die Nichtunterlegenheit von MVC in der MERIT-Studie nicht gezeigt werden konnte. Wie von Dan Kuritzkes unmittelbar nach dem Vortrag korrekt bemerkt wurde, ist die Zeit, die HIV frei im Plasma verbleibt, mit den Bedingungen in der Zellkultur nicht zu vergleichen. Zwar sind die Ergebnisse für die Zellkultur nicht anzuzweifeln, denn sie demonstrieren letztendlich die Wirkungsweise der Entry-Inhibitoren. Freie HIV-Partikel verbleiben allerdings nur für kurze Zeit als nachweisbares Virus im Plasma. Die individuelle Halbwertszeit der Viren im Plasma schwankt im Bereich von wenigen Minuten bis zu zwei Stunden2, eine relevante Akkumulation von Virus ist daher keinesfalls zu erwarten. Dadurch sollte der oben angeführte Effekt in vivo – wenn überhaupt – nur marginal messbar sein. Die direkte Übertragung der Zellkulturergebnisse auf die Patientensituation ohne Unterstützung durch entsprechende Untersuchungen erscheint uns als äußerst gewagt.
Zusammenfassend zu diesem Beitrag ist zu sagen: man therapiert keine Zellkulturen sondern Patienten, daher ist der beschriebene Effekt so nicht übertragbar.
Abb 1 Wirkmechanismus des CCR5-Antagonisten Maraviroc
Beitrag 2:
„Impact of baseline HIV-1 tropism on
viral response and CD4 gain on first-line ARV therapy”
von Seclén E et al.3
In diesem Vortrag wurde beschrieben, dass Patienten mit X4-Viren einen schlechteren Therapieverlauf hatten als Patienten mit R5-Viren. Dabei ging es wohlgemerkt nicht um Behandlung mit einem CCR5-Antagonisten, die bei X4-Viren ausgeschlossen ist. Es ist bekannt, dass unbehandelte Patienten mit X4-Viren einen ungünstigeren Krankheitsverlauf haben. In Bezug auf die Therapierbarkeit ist die Datenlage dagegen durchaus kontrovers: Während von einigen Autoren vergleichbare Therapie-Ansprechraten beschrieben wurden4,5,6, sehen andere durchaus ein vermindertes Ansprechen7,8, wieder andere sehen sogar eine bessere Behandelbarkeit der Patienten mit X4-tropen Viren.9 In der in Glasgow vorgestellten multivariaten Analyse wurde eine geringere Rate des virologischen Therapieansprechens in Patienten mit X4-Viren gesehen. In der Gesamtanalyse war neben CD4-Zellzahl und Viruslast auch der Tropismus zu Therapiebeginn mit dem virologischen Ansprechen assoziiert, wenn auch knapp nicht signifikant. Bei Patienten mit Subtyp B Viren waren dann allein Viruslast und Tropismus signifikante Prädiktoren für das Ansprechen. Inwiefern jedoch der Tropismus kausal mit dem virologischen Ansprechen auf andere Medikamentenklassen als CCR5-Antagonisten assoziiert ist oder zusätzlich zu Viruslast und CD4-Zellzahl als weiterer Surrogatmarker für eine fortgeschrittene HIV-Infektion anzusehen ist, kann auch mit dieser Studie nicht abschließend beantwortet werden. Die Bestimmung des viralen Tropismus, allein um eine Vorhersage auf ein künftiges Therapieansprechen machen zu können und ohne eine konkrete Handlung aus dem Ergebnis ableiten zu können, lässt sich derzeit sicher nicht rechtfertigen.
Nach Ansicht der Mitglieder des HIV-GRADE sind aus beiden Beiträgen derzeit keine Konsequenzen in Bezug auf Labordiagnostik oder Therapieempfehlungen zu ziehen.
Das HIV-GRADE Team (http://www.hiv-grade.de/cms/grade/about-grade.html)
1 Sloan, R. u. a. HIV entry blocked by maraviroc can cause an overestimation of viral load. J Int AIDS Soc 13, O46 (2010).
2 Ramratnam, B. u. a. Rapid production and clearance of HIV-1 and hepatitis C virus assessed by large volume plasma apheresis. The Lancet 354, 1782-1785 (1999).
3 Seclén, E. u. a. Impact of baseline HIV-1 tropism on viral response and CD4 gains in antiretroviral-naïve patients. J Int AIDS Soc 13, O10 (2010).
4 Schneweis, K.E. u. a. Graded cytopathogenicity of the human immunodeficiency virus (HIV) in the course of HIV infection. Med. Microbiol. Immunol 179, 193-203 (1990).
5 Brumme, Z.L. u. a. Molecular and Clinical Epidemiology of CXCR4-Using HIV-1 in a Large Population of Antiretroviral – Naive Individuals. The Journal of Infectious Diseases 192, 466-474 (2005).
6 Waters, L. u. a. The impact of HIV tropism on decreases in CD4 cell count, clinical progression, and subsequent response to a first antiretroviral therapy regimen. Clin. Infect. Dis 46, 1617-1623 (2008).
7 Weiser, B. u. a. HIV-1 coreceptor usage and CXCR4-specific viral load predict clinical disease progression during combination antiretroviral therapy. AIDS 22, 469-479 (2008).
8 Brumme, Z.L. u. a. Clinical and immunological impact of HIV envelope V3 sequence variation after starting initial triple antiretroviral therapy. AIDS 18, F1-9 (2004).
9 Philpott, S. u. a. Preferential suppression of CXCR4-specific strains of HIV-1 by antiviral therapy. J. Clin. Invest 107, 431-438 (2001).
Stand der HIV-Korezeptor-Tropismustestung
Derzeit keine Kassenleistung
Mit der Zulassung des ersten CCR5-Korezeptor-Antagonisten Maraviroc zur Behandlung der HIV-Infektion 2007 ergab sich die Notwendigkeit, vor dem Einsatz dieses Medikaments den Korezeptor-Tropismus der Viren im Blut des Patienten zu bestimmen. Nur beim Vorliegen R5-troper Viren ist eine therapeutische Wirksamkeit von Maraviroc zu erwarten. Anfangs wurde die Korezeptor-Tropismustestung fast ausschließlich phänotypisch mit dem in den Zulassungsstudien verwendeten TROFILE®-Test in den USA durchgeführt, was einen enormen logistischen Aufwand erforderte und lange Testbearbeitungszeiten nach sich zog.
Genotypischer Tropismustest
Mittlerweile hat sich die kostengünstige, schnelle und auch in einer Reihe von Labors in Deutschland etablierte Genotypisierung durch Analyse des V3-Loop mittels bioinformatischen Methoden als gleichwertiges Instrument erwiesen. Als weitere Vorteile kann die genotypische Tropismustestung aus viraler RNA bei geringer Viruslast oder bei Verwendung von proviraler DNA auch bei nicht nachweisbarer Viruslast durchgeführt werden. Im Rahmen von HIV-GRADE durchgeführten Studien, konnten die im HIV-GRADE e.V. organisierten Labore die Untersuchung für viele Patienten anbieten. Auf Basis dieser und anderer Studien konnte die genotypische Tropismustestung in die Leitlinien der DAIG (http://www.daignet.de/site-content/hiv-therapie/leitlinien-1) eingebracht werden. Als Interpretationssystem zur Vorhersage des Tropismus auf der Basis von Sequenzanalysen hat sich mittlerweile das am Max-Planck-Institut für Informatik in Saarbrücken in Kooperation mit der Virologie in Köln entwickelte System geno2pheno[core- ceptor] weltweit durchgesetzt. Ergebnisse der durch HIV-GRADE oder deren Mitglieder durchgeführten Studien konnten sowohl auf nationalen als auch auf internationalen Kongressen präsentiert werden.
Individueller Antrag notwendig
Nach Auslaufen der aktuell durchgeführten Studie zum 28.02.2011, in deren Rahmen ein breites Screening von V3-Loop Sequenzen erforderlich war, können genotypische Korezeptor-Tropismustestungen derzeit nur im Rahmen privater Krankenversicherungen oder als IGEL-Leistungen durchgeführt werden. Ein Antrag auf Durchführung eines verkürzten HTA-Verfahrens zur Aufnahme der Tropismustestung in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkassen ist gestellt. Der Antrag zielt auf eine Erweiterung der bereits vorhandenen Gebührenziffer zur genotypischen Resistenztestung ab. Dies sollte eine schnelle Entscheidung der entsprechenden Gremien vereinfachen. Solange darüber nicht positiv entschieden ist, bleibt als Möglichkeit für die Erstattung der Untersuchung für Kassenpatienten nur ein Einzelantrag an die jeweilige Krankenkasse. Hier bieten die im HIV-GRADE e.V. organisierten Labore Unterstützung bei der Formulierung entsprechender Anträge an.