KASUISTIK
HIV-Infektion nach sexueller Gewalt
Im April 2006 hatte ein 19-jähriger Mann im Rahmen einer Einstellungsuntersuchung einem HIV-Test zugestimmt, der reaktiv war. Für den Patienten brach eine Welt zusammen, denn wenige Monate zuvor, im Januar, war der Test noch negativ gewesen. Nach längerem Zögern berichtete der Patient schließlich, dass er Opfer sexueller Gewalt geworden war.
Im Januar hatte der 19-Jährige in Köln in einer Diskothek die sogenannte "White Party", besucht. Dort wurde ihm übel und er verließ die Diskothek. Freunde fanden ihn dann später auf dem Parkplatz. Er war kaum ansprechbar, hatte nahezu vollständig das Bewusstsein verloren und lag mit herabgezogenen Hosen halbnackt auf der Motorhaube eines Wagens. Er erinnerte sich später nicht an ein Ereignis, er war aber anal penetriert worden und hatte über mehrere Tage starke Schmerzen im Anus. Da der junge Mann sein Coming out noch nicht lange hinter sich hatte, ging er aus Scham nicht zur Polizei. In Köln wäre das durchaus möglich und ratsam gewesen, hier gibt es eine Spezialeinheit der Polizei bei Gewalt gegen Schwule.
Immerhin suchte der junge Mann drei Wochen später einen Arzt auf, ohne allerdings die Risikosituation zu thematisieren. Es wurde ein HIV-Antikörpertest durchgeführt, der nicht reaktiv war.
An wen bei einer Gewalttat wenden?
Bisher gibt es für Gewalt gegen Schwule und Lesben nur in wenigen größeren Städten Ansprechpartner bei der Polizei. Und nur in Berlin gibt es dafür hauptamtliche Mitarbeiter. Ansonsten arbeiten wie in Hamburg die Polizeibeamten nebenamtlich als Ansprechpartner für Schwule und Lesben. Bundesweit haben sich viele Überfalltelefone der Verbände etabliert, an die man sich wenden kann. Eines der bundesweit bekanntesten ist das Überfalltelefon von "Maneo" in Berlin, das sich an Schwule und Bi-sexuelle wendet, die Opfer von Gewalt geworden sind. Dabei kann es sich beispielsweise um schwulenfeindliche oder häusliche Gewalt, um Diskriminierung und Beleidigungen, aber auch Gewalttaten handeln. Maneo ist als professionelle Opferberatungsstelle in erster Linie ein Berliner Projekt, dennoch können sich Opfer oder Ärzte außerhalb Berlins an Mitarbeiter von Maneo wenden, die an entsprechende Angebote in der jeweiligen Stadt oder Region weiter vermitteln:
www.maneo.de;
telefonische Beratung unter 0 30 / 216 33 36 täglich von 17-19 Uhr
MULTIRESISTENTES VIRUS
Im Rahmen einer Einstellungsuntersuchung fiel ein positiver HIV-Test auf. Danach suchte der Betroffene tief geschockt schließlich eine HIV-Schwerpunktpraxis auf. Er berichtete über Schweißausbrüche, Hitzegefühl, wechselnde Durchfälle und vermehrtes Nasenbluten seit Januar 2006.
Bei der ersten Laboruntersuchung wies der Patient 1.045 CD4+-Zellen/µl (31,8%) und eine Viruslast von 42.999 Kopien/ml auf. Die Resistenzanalyse ergab die Infektion mit einem Zweiklassen-resistenten Virus. Folgende Mutationen wurden detektiert: M41L, E44D, D67N, K103N, L210W, T215DSY im Reverse-Transkriptase-Gen und L63P und V77I im Protease Gen. Gleichzeitig wurde eine HCV-Infektion festgestellt. Die HCV-Antikörper waren positiv, die HCV-PCR lag im Mai 2006 jedoch erfreulicherweise unter der Nachweisgrenze von 12 IU/ml.
In den nächsten zwei Monaten fielen die absoluten CD4+-Zellen auf 788 Zellen/µl, wobei sich der relative Anteil auf 16,3% halbierte. Im Oktober lagen die CD4+-Zellen bei 616 (25%) und die Viruslast 117.963 Kopien/ml. Dieses Bild spricht für eine relativ kurz zurückliegende Infektion.
VIELE OFFENE FRAGEN
Die Geschichte des Betroffenen klingt glaubwürdig, denn meist wird als Grund für eine frische HIV-Infektion ein angeblich geplatztes Kondom angegeben und nicht eine sexuelle Gewalttat. Die Beschreibung des Zustands des Patienten nach dem Delikt passt gut zu "K.O.-Tropfen" (Gamma-Hydroxy-Buttersäure (GHB) oder 4-Hydroxybutansäure). Diese Substanz ist geschmacklos, macht die Opfer reaktionsunfähig und führt zudem zu einer retrograden Amnesie. In Aachen z.B. wurden 2006 insgesamt 24 (!) Frauen Opfer dieser Droge (AWO 30.08.06). Ebensogut könnte die Droge auch im schwulen Milieu eingesetzt werden, wo junge, unerfahrene Männer als (unfreiwillige) Sexobjekte begehrt sind.
Daraus ergeben sich in diesem Zusammenhang einige Fragen. Sollte man das Opfer motivieren, das Delikt anzuzeigen? Eine Anzeige würde in diesem Fall aber für den Betroffenen ein Outing als Schwuler und HIV-Infizierter bedeuten. Wie ist die Straftat zu beurteilen? Wie ist die Übertragung eines multiresistenten Virus zu werten? Möglicherweise wusste der Täter nichts von seiner Infektion. Falls er es aber doch wusste? Ändert dies den Schweregrad des Deliktes? Was bedeuten die RNA-Besonderheiten des Virus? Sind sie vergleichbar mit DNA-Proben?
Auch aus medizinischer Sicht ergeben sich einige Fragen. Sollte man Vergewaltigungsopfer sofort gegen Lues behandeln oder gegen Hepatitis B impfen? Welche Medikamente sollte man zur PEP einsetzen? Die empfohlene Standardtherapie ist bei multiresistenten Viren ja möglicherweise nicht wirksam. Die Diskussion, welche Handlungsleitlinien Ärzte für solche Fälle brauchen, hat gerade erst begonnen.
Jan Vachta und Dr. Heribert Knechten
Blondelstr. 9 · 52062 Aachen
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