JÖRG GÖLZ, BERLIN
Heilende Aspekte der Sucht
Abstinenz als einziges Ziel der Suchttherapie ist medizinisch nicht begründet, sondern der Medizin von der Gesellschaft aufgezwungen. Abstinenz ist die Lebensmaxime einer Welt, die allein an der Funktionsfähigkeit des Einzelnen im industriellen Arbeitsprozess orientiert ist bzw. einer Gesellschaft, die religiöse Erleuchtung heroisiert, und in der Askese den einzigen Weg dahin sieht. Beides sind medizinisch fragwürdige Ideale.
In jeder Sucht steckt ein individueller Versuch, sich selbst zu heilen. Es handelt sich zwar um eine substanzgebundene "Schiefheilung" im Sinne Sigmund Freuds, die einen quälenden seelischen Zustand beendet, doch diese "Heilung" lässt sich nicht einfach durch Abstinenz ersetzen. Der Süchtige lässt sich den "heilenden" Gewinn der Sucht nicht nehmen, selbst wenn er dafür mit den Mühen eines abhängigen Lebens bezahlen muss. Dieser Aspekt der Selbstheilung wird verdammt, da die dabei angewandten Substanzen durch die Prohibition geächtet sind.
Die "heilende" Wirkung kann in den Eigenschaften der Substanz (endogene Disposition), in sozialen Effekten (exogene Disposition) oder in psychischen Auswirkungen (psychogene Disposition) liegen.
HEILUNG VON GENETISCHEN STÖRUNGEN
Eine endogene Disposition zur Sucht liegt dann vor, wenn durch genetische Besonderheiten das Rauschmittel eine normalisierende Funktion beim Individuum besitzt, d.h. ohne die Substanz fehlt diesen Menschen etwas Elementares im Erleben und Empfinden. Beispiele dafür sind Genvarianten für CRH (Cortisol-Releasing Hormone)-Rezeptoren, bei denen nur erhöhter Alkoholkonsum Wirkung zeigt oder Genvarianten, die für die Bindung von Nikotin und Opioiden verantwortlich sind. Menschen mit solchen Gen-Varianten empfinden erst mit dem Rauschmittel eine umfassende Vitalität, Leistungs- und Genussfähigkeit. Musterbeispiel für eine solche Genvariante ist die hohe Konkordanz im Rauchverhalten bei eineiigen Zwillingen: entweder rauchen beide oder keiner von beiden. Eine Reihe von neurobiologischen Defekten lassen sich mit Drogen gut coupieren. Klassisches Beispiel dafür sind Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Wenn sie zufällig auf Amphetamine oder Kokain stoßen, erleben sie mit der Einnahme dieser Substanzen die fast vollständige Beseitigung ihrer Probleme: sie sind sofort weniger sprunghaft, konzentrierter und durch bessere Impulskontrolle sozial weniger auffällig.
STABILITÄT UND LUXUS
Eine exogene Disposition zur Sucht entsteht dann, wenn auswegslose soziale Lebensumstände sich durch eine Sucht erleichtern lassen. Zum Beispiel wirken so die Verhältnisse unter denen schwarze Jugendliche in den Ghettos der amerikanischen Großstädte heranwachsen müssen. Drogenkonsum erleichtert das Ertragen der Ausweglosigkeit, Drogenhandel eröffnet den Zugang zu finanziellen Mitteln, die auf legalem Weg unerreichbar sind. Paradoxerweise wirkt auch der Stress bei der Drogenbeschaffung und beim Handel mit illegalen Drogen stabilisierend auf die Betroffenen. Sie unterliegen einer klaren Hierarchie von wichtigen und unwichtigen Tätigkeiten und Zielen. Bei Beginn der Substitutionsbehandlung wirken Heroinabhängige deshalb monatelang deutlich desorganisierter, unstrukturierter und ratloser als während ihrer Heroinphase.
Nicht nur das Elend, sondern auch der fragwürdige Glanz der Welt disponiert zu Abhängigkeit. Kokainhandel und -schmuggel findet aus Gründen der besseren Geheimhaltung häufig im Ambiente der "upper-class" statt. Attribute dieser Tätigkeit sind Luxushotels und die Benutzung privat gecharterter Flugzeuge und Yachten. Der narzisstische Gewinn eines solchen Lebens ist außerordentlich, vor allem in einer Welt, in der der Wert einer Person überwiegend am Besitz oder an der Nutzung solch luxuriöser Attribute gemessen wird. Wir ahnen, wie schäbig sich daneben das Angebot der innerweltlichen Askese ausmacht, wie sie im Angebot der Abstinenz erscheint.
EMOTIONALER GEWINN
Ein anderes Beispiel ist der immense Gewinn, der durch eine Sucht aus bestimmten familiendynamischen Konstellationen gezogen werden kann. Diesen Mehrwert liefert z.B. die Rolle des "externen Problemlieferanten". Ein ganzer Familienverband mit vielfältigen hochproblematischen Beziehungen wird stabilisiert, da sich alle auf den heroinabhängigen Jugendlichen konzentrieren können, der täglich neue "Sensationen" liefert. Der Gewinn liegt in der Zunahme an Aufmerksamkeit, den der Abhängige gewinnt, auch wenn es sich um heftige negative Gefühle handelt. Der gefühlsmäßig Verwahrloste reagiert nur auf die Quantität der Gefühle, die ihm entgegengebracht werden. Die Wut der Familie verwandelt sich für ihn zu dem Triumph endlich im Focus der Aufmerksamkeit zu stehen.
DROGEN ALS PSYCHOTHERAPEUTIKA
Eine ganze Reihe seelischer Störungen lassen sich gut durch Suchtstoffe kompensieren.
Nikotin ist ein exzellentes Antidepressivum. Viele Raucher müssen nach dem Nikotinentzug dauerhaft mit Antidepressiva behandelt werden, d.h. sie hatten vorher ihre Depression mit Nikotin gut im Griff. Die euphorisierende Wirkung des Heroins befreit viele Psychotiker von Ich-Spaltungs-Erleben, von Verfolgungsideen und sozialer Isolation. Der "Kick" des im Gehirn anflutenden Heroins gibt ihnen wieder das Gefühl, eine ganze Person zu sein, die nicht in ihre Teile zerfällt. Zur Jahrhundertwende wurden deshalb häufig Opiate zur Therapie psychotischer Störungen verwandt. Auch heute wird diese Substanz wieder in der Psychoseforschung als Therapeutikum erprobt. Richtig dosiert und ausreichend verabreicht erhofft man sich von Opiaten deutlich weniger Nebenwirkungen als bei alten und neuen Neuroleptika üblich.
Zwangskranke Menschen berichten häufig, dass sie unter mildem Konsum von Cannabis ihr Korsett von Zwangsritualen verlieren und unbefangen am Alltagsleben und am Beruf teilnehmen können. Bei vielen Benzodiazepinkonsumenten liegt eine Angst- oder Panikstörung zu Grunde, bei anderen ein sozial gefährlicher Kontrollverlust ihrer aggressiven Impulse. Beide Gruppen können mit Benzodiazepinen ein relativ ungestörtes Leben führen und reagieren mit entsprechendem Widerstand, wenn ihnen diese Medikamente ohne Alternative entzogen werden. Nicht zuletzt sei noch die nicht unerhebliche Zahl derjenigen genannt, die mit Heroin ihre Schmerzen bekämpfen, da sie bei opiophoben Ärzten keine angemessene Schmerztherapie erhalten. Statt geregelter und ausreichender Opiatversorgung, die allein eine Abhängigkeit verhindert, verfügen sie nur über täglich wechselnden Mengen ihres Schmerzmittels - ein sicherer Weg in die Abhängigkeit.
Dieser kurze Überblick verdeutlicht, dass zur Therapie einer Abhängigkeit ganz verschiedene Strategien nötig sind, zumal ohnehin nur 20% der Abhängigen eine dauerhafte Abstinenz erreichen. Für überwiegend exogen bedingte Süchte ist ein Milieuwechsel das dringendste Erfordernis. Dies ist nur bei Milieuschäden jenseits von Ghetto-Situationen realisierbar. Drogenkonsum im Ghetto ist nicht auflösbar. Bei überwiegend psychogen bedingten Süchten kann Abstinenz allein oder in Kombination mit einer medikamentösen Behandlung der Grundproblematik nötig sein. Für die endogen - d.h. überwiegend neurobiologisch - bedingten Abhängigkeiten ist die dauerhafte Substitution mit den benutzten Drogen oder ähnlich wirkenden Substanzen notwendig.
Ein differenziertes Armentarium für die Behandlung von Sucht ist also das, was medizinisch erforderlich ist. Bestimmt durch die Kausalität im süchtigen Geschehen sollten sozialmedizinische, neurobiologische und psychologische Ansätze als gleichberechtigte Alternativen zum Einsatz kommen können. Die Forschung sollte sich nach jahrzehntelangem Übergewicht sozialpädagogischer Fragestellungen verstärkt den neurobiologischen Ursachen der Sucht zuwenden und entsprechende Medikamente zur Behandlung entwickeln. Dann wird auch den heilenden Aspekten in der Sucht Rechnung getragen.