JENS REIMER1, BERND SCHULTE1, HEINO STÖVER2
Suchtmedizinische und infektiologische Versorgung in bundesdeutschen Haftanstalten

Über die Situation in deutschen Haftanstalten bezüglich der medizinischen Behandlung von intravenösem Drogenkonsum und assoziierten Infektionserkrankungen liegen wenig systematisch gewonnene Daten vor. Relevanz hat dieses Thema jedoch vor dem Hintergrund eines großen Anteils intravenös Drogenabhängiger an der Gesamtzahl der Gefangenen.

Vor diesem Hintergrund führten die Autoren eine Studie durch, die Aufschluss über den Anteil von Drogenabhängigen an den Gefangenen sowie über die suchtmedizinische und infektiologische Versorgung in Haftanstalten geben sollte. Ein Fragebogen zu diesen Inhalten wurde an Gefängnisärzte mit der Bitte um Beantwortung gesandt.

Fragebögen aus 31 Haftanstalten, die repräsentativ für 14.187 Häftlinge - entsprechend 22,3% aller Inhaftierten - sind, wurden ausgewertet. Jeder fünfte Häftling (22%) war ein intravenös Drogengebrauchender, ca. jeder siebte intravenös Drogengebrauchende hatte einen positiven Hepatitis C Virus (HCV) Antikörperbefund und ca. jeder hundertste hatte einen positiven Antikörperbefund für das humane Immundefizienz Virus (HIV). Die Spannbreiten für die einzelnen Parameter waren beträchtlich und lagen für intravenösen Drogengebrauch und HCV zwischen 0% und 80% und für HIV zwischen 0% und 11%.

EXTERNE ÄRZTE ENTSCHEIDEN ÜBER HIV/HCV-THERAPIE

Gefängnis bild

Opioidsubstitution wurde in 23 Gefängnissen angeboten mit einer Anzahl von 1.100 Substitutionsbehandlungen jährlich, wobei häufig als Ziel der Substitutionstherapie Abstinenz oder zeitliche Überbrückung genannt wurden. Ein generelles Screening auf oder Beratung über HCV- oder HIV-Infektionen findet in den Haftanstalten nicht statt, es stehen stattdessen individuelle Merkmale wie die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe, das Verlangen des Häftlings oder klinische Zeichen als Indikationskriterien für eine Testung im Vordergrund. Die Indikation zur Behandlung einer HIV- oder HCV-Infektion wird in der Regel von externen Ärzten gestellt und - zumindest in Bezug auf die HCV-Infektion - nicht aktiv von den Gefängnisärzten betrieben. Jährlich wurden 111 antivirale HCV-Behandlungen (in 21 Gefängnissen) und 147 antiretrovirale HIV-Behandlungen (in 30 Gefängnissen) durchgeführt.

70 MAL MEHR DROGENGEBRAUCHER

Als Einschränkung ist für diese Studie die Art der Datenerhebung über Gefängnisärzte mit geringer Möglichkeit der Datenvalidierung zu nennen. Auf der anderen Seite stimmen zum Beispiel die Zahlen zum Anteil von intravenös Drogengebrauchenden in Haft an der Gesamtgefangenenzahl sowie von HIV-/HCV-Prävalenz mit ähnlichen Studien weitgehend überein. Verglichen mit der Allgemeinbevölkerung zeigt sich eine 70-fach erhöhte Zahl von intravenös Drogengebrauchenden in Haft, eine um mehr als das 25-fach erhöhte Zahl von HCV-Positiven, sowie eine 24-fach erhöhte Zahl von HIV-Positiven.

Substitutionstherapie in Haft ist häufig von einem eiligen Abstinenzziel geleitet, Schadensminimierung wurde als Ziel nicht genannt. Ein allgemeines Screening auf HCV und/oder HIV findet nicht statt, obwohl jeder fünfte Häftling ein intravenös Drogengebrauchender ist.

BREITES SCREENING

Die Begrenzung der Testung sollte überdacht werden, da aufgrund der drohenden Stigmatisierung sich nicht jeder Drogengebraucher dem Gefängnisarzt als solcher darstellt, zudem auch viele Insassen auch erst in der Haft beginnen, intravenös zu konsumieren. Die Ziele der Opioidsubstitution sollten denen außerhalb der Gefängnisse angeglichen werden, da ‚erzwungene' Abstinenz viele gesundheitliche Risiken zum einen innerhalb, aber insbesondere auch beim Übergang vom Gefängnis in das Leben außerhalb mit einer deutlich erhöhten Mortalitätsrate birgt. Die antivirale Behandlung der Infektionskrankheiten HIV und HCV sollte nach den gleichen Kriterien wie außerhalb des Gefängnisses erfolgen.

1 Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung, Universität Hamburg
2 Universität Bremen

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