Gabriele Nisius, Frankfurt
Update Integrasehemmer
PROGRESS
Wie schon in der Ausgabe von
HIV&more im September berichtet, wurden die 48- Wochen-Daten der auf 96
Wochen angelegten PROGRESS-Studie auf dem WeltAids-Kongress in Wien
vorgestellt. Erstmals wurde ein Nukefreies Firstline-Regime, und zwar
Lopinavir/r (LPV/r) in Kombination mit Raltegravir (RAL) vs. LPV/r mit dem
Nuke-Backbone Tenofovir/Emtricitabin (TDF/FTC) geprüft. An der Studie nahmen
206 therapienaive Patienten teil. Nach 48 Wochen hatten gleich viele Patienten
in beiden Gruppen das Therapieziel einer
Viruslast unter der Nachweisgrenze erreicht (83% vs.85%) (Abb. 1).
Abb. 1: PROGRESS. Virologische Wirksamkeit nach 48 Wochen
Bei sieben Studienteilnehmern wurde im Verlauf ein Resistenztest durchgeführt. Ein Patient in der Raltegravir-Gruppe wies N155H auf und ein Patient in der NRTI-Gruppe M184V. Nachuntersuchungen zeigten, dass diese Mutationen unter der Behandlung aufgetreten sind. Die Verträglichkeit war in beiden Gruppen gleich gut (MOAB0101 Reynes J et al.). Die Kombination von geboosterten Proteaseinhibitoren plus Raltegravir scheint somit eine sichere Alternative zu den Standardregimen von NRTI und PI/r zu sein. Es fehlen allerdings noch Daten von größeren Studien und zur langfristigen Anwendung.
STARTMRK
Die Ergebnisse der STARTMRK-Studie, in der nach 48 bzw. 96 Wochen gleich viele Patienten unter Raltegravir bzw. Efavirenz jeweils in Kombination mit Tenofovir/Emtricitabin eine Viruslast unter der Nachweisgrenze erreicht hatten, sind schon länger bekannt. Dabei kam es unter dem Integrasehemmer, wie in vielen anderen Studien auch, zu einem signifikant rascheren Abfall der Viruslast. Dies frühe Ansprechen, d.h. eine HIV-RNA <50 Kopien/ml zu Woche 8, war in einer neueren Auswertung mit einer rascheren Erholung des Immunsystems assoziiert gemessen an der Ratio CD4-Zahl absolut/prozentual (Abb. 2). Kein Unterschied zeigte sich hinsichtlich des Erreichens einer CD4-Zahl von >200/µl. Dieser Parameter war von der Zellzahl bei Therapiebeginn abhängig (ICAAC 2010, H-206, Tsoukas C et al.).
Abb. 2: Assosiation between CD4/CD8 ≥1 and Early Viral Response - STARTMRK
SPARTAN (NRTI/RTV sparend)
In dieser Studie wurden 94 therapienaive Patienten entweder mit Atazanavir/Ritonavir 300/100 plus TDF/FTC oder mit Atazanavir 600 mg plus Raltegravir open-label behandelt. In der Auswertung nach 24 Wochen lag die Viruslast bei etwa gleich vielen Patienten unter der Nachweisgrenze (82% vs. 76%) (Abb. 3). In der Gruppe mit dem ungeboosterten Atazanavir in höherer Dosierung traten vermehrt Hyperbilirubinämien auf (6,3% vs. 0%). Bei 4 Patienten entwickelte sich eine Raltegravir-Resistenz (THLBB204 Kozal MJ et al.).
Abb. 3: SPARTAN. Virologische Wirksamkeit nach 48 Wochen
Die Möglichkeit einer NRTI- und Ritonavir-freien Therapie ist interessant. Die hohe Rate an Resistenzentwicklung und das vermehrte Auftreten von Hyperbilirubinämie macht den Einsatz speziell dieser Kombination aber nicht sehr attraktiv.
SPIRAL und ODIS
Neben SPARTAN wurden auf dem WeltAidsKongress in Wien auch zwei Switch-Studien vorgestellt. Als Background für die Spiral-Studie galt, dass Raltegravir-haltige Therapien bessere Lipidprofile zeigen als PI-haltige Therapien. Die Verschlechterung der Lipid-Profile ist mit einem höheren Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen assoziiert.
In der offenen Studie SPIRAL wurden 273 Patienten, die durchschnittlich 6 Jahre komplett supprimiert waren, entweder auf ihrer bisherigen Therapie mit einem geboosterten Proteasehemmer plus Nukleosid-Backbone belassen oder der Proteasehemmer wurde durch Raltegravir ersetzt. Nach 48 Wochen waren 89% der Gruppe mit Raltegravir ohne virologisches Versagen und 87% der Gruppe mit geboostertem Proteasehemmer. Die Verträglichkeit war in beiden Gruppen gut. Es zeigte sich eine Besserung der Lipid-Werte in der Raltegravir-Gruppe (MOAB0103 Martinez et al.).
Abb. 4: ODIS. Anteil der Patienten mit virologischem Versagen. Die Rate von virologischem Versagen betrug 16,2% bei Patienten mit früherer NRTI-Resistenz im Vergleich zu 0,7% bei den übrigen Patienten (p<0,001)
In der Studie ODIS wurden 222 vorbehandelte Patienten mit einer HIV-RNA unter 50 Kopien/ml unter einer proteasehaltigen Therapie über 24 Wochen auf Raltegravir BID oder QD umgesetzt. 69% der Patienten wurden mit Tenofovir/Emtricitabin plus RAL und 31% mit Abacavir/Lamivudin plus RAL behandelt. Nach 24 Wochen zeigte bei 16,2% der Patienten mit vorbestehenden NRTI Resistenzen ein virologisches Versagen, ohne vorbestehende NRTI Resistenzen waren es 0,7% (Abb. 4). Auch in dieser Studie zeigten sich leicht verbesserte Lipidwerte unter Raltegravir.
Diese Studie zeigt somit eindrücklich, wie wichtig die Beachtung der Vorbehandlung und die gegebenenfalls daraus resultierenden Resistenzen der Patienten bei der Therapieumstellung sind (MOAB0102 Vispo et al.).
Besondere Situationen
Zwei kleine, aber durchaus interessante Studien wurden ebenfalls in Wien vorgestellt. Eine dieser beiden Studien untersuchte die Sicherheit von RAL-basierten Regimen nach Organtransplantation. Unter Raltegravir kam es bei 10 Leber- und einem Nierentransplantierten Patienten zu einer signifikanten Verbesserung der Therapie- assoziierten renalen Insuffizienz (MOPE 169 Moreno-Zamora A et al.).
Eine weitere Studie untersuchte Raltegravir bei Patienten unter Lymphombehandlung. In dieser retrospektiven Untersuchung von Mai 2008 – Dezember 2009 wurden neun Patienten untersucht. Sieben bekamen CHOP oder R-CHOP und zwei LMB-Protokolle. Eine RAL-haltige Firstline-Therapie oder als Switch bei Patienten unter der Nachweisgrenze erwies sich als effektiv und bei den meisten Patienten konnte die Chemotherapie in voller Dosierung durchgeführt werden (TUPE0146 Marcotte et al.).
Neu: Integrasehemmer S/GSK1349572
Abb. 5: SPRING-1. S/GSK1349572 vs. EFV Woche 16 Daten
In Wien wurden zwei neue Studien zu dem noch nicht zugelassen Integrasehemmer S/GSK1349572 vorgestellt. SPRING-1 vergleicht drei verschiedene Dosierungen von S/GSK1349572 versus Efavirenz bei 200 therapienaiven Patienten. Die Zwischenauswertung nach 16 Wochen zeigte eine hohe antiretrovirale Aktivität in allen Dosierungen und einen signifikant schnelleren Abfall der Viruslast auf < 50 Kopien/ml als Efavirenz (Abb. 5). Die Substanz war in der bisher kurzen Einsatzzeit gut verträglich, lediglich ein Patient unter S/GSK1349572-Arm brach die Studie wegen Nebenwirkungen ab (THLBB2 Arribas et al.).
In der VIKING-Studie (MOAB0105 Aron et al.) wurden Patienten mit Therapieversagen unter Raltegravir und Nachweis von Raltegravier-assozierten Mutationen auf S/GSK1349572 umgestellt. Zunächst wurde nur der Integrasehemmer gewechselt, nach 11 Tagen konnte auch der Backbone gewechselt werden. Das Ansprechen auf den neuen Integrasehemmer war abhängig vom Mutationstyp. Patienten mit Q148 plus sekundäre Mutationen zeigten ein schlechteres Ansprechen als Patienten N155H und Y143H. Insgesamt erreichten 21 von 27 Patienten den primären Endpunkt (<400 c/mL oder Abfall um ≥0,7 log 10 c/mL am Tag 11), davon 18/18 Patienten mit N155H, Y143H Mutationen.
Elvitegravir
Die ersten Daten (24 Wochen) einer Phase-2-Studie zur neuen Quad-Kombination Elvitegravir/Emtricitabine/Tenofovir /Cobicistat versus Efavirenz/Tenofovir/Emtricitabin bei therapienaiven Patienten wurden auf der CROI 2010 vorgestellt. Sie zeigen einen vergleichbaren Effekt der beiden Kombinationen. Eine der offenen Fragen zurzeit ist noch die Frage nach der Langzeittoxizität von Cobicistat, dem neuen Booster von Elvitegravir.
Zukunft
Die neuen Integrasehemmer werden einmal täglich gegeben.
Elvitegravir wird derzeit in mehreren Phase-3-Studien an therapienaiven Patienten geprüft als Quad-Kombination gegen Atazanavir/r plus Tenofovir/Emtricitabin bzw. gegen Efavirenz/Tenofovir/Emtricitabin sowie Elvitergravir/Ritonavir gegen Raltegravir BID in Kombination mit einem geboosterten Proteasehemmer, einem NRTI, Etravirin, Maraviroc oder T-20. Alle drei Studien werden voraussichtlich im Lauf des nächsten Jahres abgeschlossen sein.
Auch zu S/GSK1349572 sind die Phase-3-Studien bereits angelaufen. In SPRING-2 wird S/GSK1349572 50 mg OD gegen Raltegravir 400 mg BID jeweils in Kombination mit Abacavir/Lamivudin bzw. Tenfovir/Emtricitabin geprüft. SAILING ist eine Studie an vorbehandelten Patienten, in der S/GSK1349572 bzw. Raltegravir in Kombination mit einer optimierten Hintergrundtherapie eingesetzt wird.
Auch die einmal tägliche Gabe von Raltegravir wurde in einer Phase-3-Studie geprüft. In Rahmen der Untersuchung nahmen 775 therapienaive Patienten Raltegravir 800 mg QD oder 400 mg BID jeweils in Kombination mit Tenofovir/Emtricitabin ein. Die Studie wurde jedoch kürzlich vom Data Safety Monitoring Board gestoppt. In der letzten Auswertung hatte Raltegravir einmal täglich das Ziel der Nicht-Unterlegenheit nicht erreicht (83% vs. 89%). Insbesondere in der Gruppe der hochvirämischen Patienten mit >100.000 Kopien/ml zu Beginn hatten weniger Patienten eine Viruslast unter die Nachweisgrenze (74% vs. 84%). Der unabhängige Expertenrat empfahl die Patienten im einmal täglichen Arm auf die zweimal tägliche Dosierung umzustellen. Die detaillierte Analyse wird vermutlich auf der CROI 2011 vorgestellt werden.
Fazit
Insgesamt bietet die Gruppe der Integrasehemmer den Behandlern in Zukunft neue Therapieoptionen. Vorausgesetzt die laufenden/geplanten Studien verlaufen erfolgreich, werden mehrere einmal tägliche Fixkombinationen mit NRTI in der Firstline zur Verfügung stehen. Elvitegravir wird zudem auch in verschiedenen, bislang weniger gängigen Kombinationen geprüft, z.B. mit Entry-Inhibitoren, was ganz neue Behandlungsmöglichkeiten eröffnen könnte. Angesichts der bisherigen Daten ist eine Nicht-Unterlegenheit der neuen Substanzen/Kombinationen wahrscheinlich. Was bleibt ist die Frage nach den Vorteilen der neuen Therapieoptionen. Ob der initial raschere Abfall der Viruslast sowie der besondere Wirkmechanismus der Integrasehemmung klinisch relevant sind, ist bislang noch offen. Von Vorteil ist sicherlich die gute Verträglichkeit und man hofft auch auf weniger Langzeittoxizitäten. Dazu kann man auf die Leitsubstanz Raltegravir zurückgreifen, die im nächsten Jahr schon auf mehrere Jahre klinischen Einsatz zurückblicken kann. Dennoch ist das letzte Wort nicht gesprochen. In der Medizin wurde schon oft aus dem Wissen von heute der Irrtum von gestern.