13. European Aids Conference/EACS –
12.-15. Oktober 2011 in Belgrad/Serbien
Europäische Therapieleitlinien
aktualisiert
Nach Belgrad kamen mehr als 2.500 Teilnehmer aus insgesamt 79 Ländern, die meisten reisten aus England, Frankreich, Spanien und Italien an, Deutschland stand mit 155 Teilnehmern an fünfter Stelle. Daten zu neuen Substanzen gab es nur wenige, dafür umso mehr Ergebnisse aus Kohorten und epidemiologische Daten. Und wie immer auf dem Europäischen Aidskongress wurden die aktualisierten Therapieleitlinien vorgestellt.
Die Leitlinien der European AIDS Clinical Society (EACS) gibt es auch dieses Mal wieder als handliches Booklet, in dem die Vorgehensweisen und Algorithmen graphisch übersichtlich dargestellt sind. Oder sie können als pdf-Datei – und demnächst auch als App – auf der EACS-Internetseite (www.europeanaidsclinicalsociety.org) herunter geladen werden.
Nathan Clumeck, Jürgen Rockstroh, Peter Reiss und Manuel Battegay auf dem Podium der Plenary Session „EACS Treatment Guidelines: What‘s new?“
Fotos: Andrea Warpakowski
Ist der Patient bereit?
Ganz vorn im Booklet steht nun eine Liste für den Erstbesuch und die nachfolgenden Untersuchungen des Patienten mit Kommentaren und Querverweisen zu den einzelnen Abschnitten der Leitlinien. Sie ist als standardisierte Checkliste gedacht, die angibt welche Untersuchung wann und in welchem Abstand nötig ist. Neu ist auch ein Algorithmus, der hilft zu beurteilen, ob ein Patient überhaupt bereit ist, eine HIV-Therapie zu beginnen.
Wann Therapiestart?
Nach wie vor gilt die CD4-Zellzahl von 350 Zellen/μl als Schwellenwert für den Therapiebeginn bei asymptomatischer HIV-Infektion – anders als bei den gleichzeitig aktualisierten amerikanischen Leitlinien des Department of Health and Human Services (DHHS), die einen Therapiestart bei 500 CD4-Zellen/μl empfehlen. In den EACS-Leitlinien kann bei einer asymptomatischen HIV-Infektion mit 350-500 CD4-Zellen/μl ein Therapiebeginn erwogen werden, allerdings mit dem Hinweis, das dieses kontrovers diskutiert wurde. Einen Therapiestart bei > 500 CD4-Zellen/μl empfiehlt die EACS bei symptomatischer HIV-Infektion inklusive Tuberkulose, Schwangerschaft, HIV-assoziierter Nierenerkrankung, HIV-assoziiertem neurokognitivem Defizit, HPV-assoziierten Karzinomen und behandlungsbedürftiger Hepatitis B.
Wie beginnen?
Die EACS stuft mehr HIV-Medikamente als bevorzugte Drittsubstanzen für die initiale Therapie ein als die DHHS. Begonnen werden kann mit Efavirenz oder Nevirapin, Atazanavir/r, Darunavir/r oder Lopinavir/r oder neu auch Raltegravir in Kombination mit Tenofovir/Emtricitabin oder Abacavir/3TC. Nathan Clumeck, Brüssel/Belgien, begründete die breite Auswahl mit der unterschiedlichen Verfügbarkeit der HIV-Medikamente in den einzelnen europäischen Ländern. So seien beispielsweise in Serbien weder Raltegravir noch Tenofovir/Emtricitabin verfügbar. Neu sind Tabellen zu den häufigsten und zu den schwerwiegenden Nebenwirkungen der HIV-Medikamente sowie zu den wichtigsten Interaktionen zwischen HIV-Medikamenten und häufig eingenommenen anderen Medikamenten.
Therapie als Prophylaxe?
In der Aktualisierung wird das erste Mal eine Therapie als Prophylaxe erwähnt, und zwar sollte sie bei diskordanten Paare zur Verhinderung von Transmissionen erwogen und aktiv angesprochen werden. Basis dieser Empfehlung sind die Daten der Studie HPTN-052 (>90% heterosexuelle Paare), in der das Risiko einer Transmission vom HIV-positiven Partner unter Therapie auf den HIV-negativen Partner um mehr als 90% verringert wurde. Für andere Populationen wie Hochrisikogruppen sind die bisherigen Daten für eine Empfehlung zur Therapie als Prävention Clumeck zufolge nicht überzeugend.
Welche Komorbiditäten beachten?
Fotos: Andrea Warpakowski
Der Abschnitt zur Prävention und Therapie der nicht-infektiösen Begleiterkrankungen enthält sehr spezifische Algorithmen zur Prävention, Diagnose und Therapieindikation. Neu aufgenommen wurde das Screening auf Krebs (Anal-, Brust-, Zervix-, Kolorektal-, Leber- und Prostatakarzinom) sowie Empfehlungen zur Prävention, Diagnose und Therapie eines Vitamin-D-Mangels, einer verringerten Knochendichte, einer sexuellen Dysfunktion sowie Impfempfehlungen und Maßnahmen auf Reisen. Die neuen Handlungsanweisungen für neurokognitive Defizite wurden nach den Worten von Jens Lundgren, Kopenhagen/Dänemark, kontrovers diskutiert, vor allem auch, weil es zu wenig evidenz-basierte Daten zum langfristigen Einfluss bestimmter HIV-Medikamente auf die Neurokognition gibt.
Das kardiovaskuläre Risiko sollte nach wie vor als 10-Jahresrisiko nach Framingham bestimmt werden: Bei PI/r-behandelten HIV-Patienten, die ein Risiko von >20% haben, sollte der PI/r gegen einen NNRTI, Raltegravir oder einen PI/r mit bekannt geringerem Einfluss auf den Fettstoffwechsel, ebenso d4T, AZT oder Abacavir gegen Tenofovir ausgetauscht werden. Zur Diagnose einer eingeschränkten Nierenfunktion ist neben der Kreatininmessung auch ein Urintest gefordert. Bei Ausschluss anderer Risiken sollen nephrotoxische HIV-Medikamente – Atazanavir wird neben Tenofovir und Indinavir das erste Mal mit aufgeführt – möglichst vermieden werden.
Therapie bei akuter HCV-Koinfektion?
Der Therapiealgorithmus für die
Koinfektion mit Hepatitis B blieb unverändert, allerdings sollte nun eine HIV-Therapie
wenn möglich Tenofovir enthalten, das auch gegen Hepatitis B wirksam ist. Der
Algorithmus zur Behandlung der akuten Hepatitis-C-Infektion ist neu:
HIV-Patienten ohne spontane Ausheilung vier Wochen nach der Diagnose, erhalten
pegyliertes Interferon und Ribavirin (pegIFN/RBV). Liegt die HCV-RNA-Viruslast
nach vier Wochen bei
<50 IU/ml (rapid virological response; RVR) können sie die Therapie bereits
nach 24 Wochen beenden; ohne RVR muss 48 Wochen behandelt werden.
DAAs für HCV-Koinfektion?
Für die Therapie der chronischen Hepatitis C bei HIV-Patienten gilt nach wie vor der Algorithmus für die bisherige Standardtherapie pegIFN/RBV. Zum Zeitpunkt der Aktualisierung habe es zu den beiden direkt antiretroviralen Substanzen (DAAs) Boceprevir und Telaprevir keine bzw. nur wenig Daten zur HIV/HCV-Koinfektion gegeben, deshalb sei auch nur Telaprevir empfohlen worden, sagte Jürgen Rockstroh, Bonn. Basis waren die 12-Wochen-Daten einer Telaprevir-basierten Tripletherapie bei HIV/HCV-Koinfektion. Bei gleichzeitiger HIV-Therapie sollte diese wie in der Studie Atazanavir/r oder Efavirenz enthalten. In den Leitlinien wird auf weitere Daten zu Telaprevir, aber auch zu Boceprevir und zur Kombination mit Raltegravir verwiesen, die demnächst veröffentlicht werden.