Male Sex Work oder doch nur ein Leben in Armut von jungen Männern?
Wenn in der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatte von Prostitution gesprochen und geschrieben wird, sind fast immer anschaffende Frauen gemeint, die angeblich vor Menschenhandel und Ausbeutung geschützt werden müssen. Selten werden die Frauen in der Sexarbeit selbst in diesen Diskurs einbezogen und noch seltener wurden sie ernst genommen. Die diskutierten Veränderungen eines Mindestalters zur Arbeit in der Prostitution, eine mögliche Bestrafung von Kunden, eine Anmeldepflicht und andere Neuregelungen betreffen jedoch nicht nur Frauen, die Geld mit Sex verdienen, sondern auch Trans* und Männer in der Prostitution. Der Gesetzgeber plant Veränderungen des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (Prostitutionsgesetz - ProstG) ohne die umfängliche Einbeziehung der wirtschaftlich Tätigen in diesem Bereich.
Könnten wir uns eine Änderung der Energiepolitik ohne Diskussionen mit den Energieversorgen vorstellen? Könnten wir uns eine Änderung der Landwirtschaftspolitik ohne Diskussionen mit den Bauern vorstellen? Könnten wir uns eine Änderung der Verkehrspolitik ohne Diskussionen mit der Autoindustrie vorstellen?
Nein, dies können und wollen wir nicht, denn zur demokratischen Tradition der BRD gehört die Einbeziehung der Fach- und Interessensgruppen und nicht nur ihrer sozialpädagogischen Fürsprecher_innen in der Wirtschaftspolitik. Sex Work wird in Deutschland aber zwölf Jahre nach dem Inkrafttreten des ProstG noch immer nur als ausschließliches Thema der Frauen-, Ordnungs- und Sozialpolitik angesehen.
Szenenahe und niederschwellige Angebote
Das Projekt subway vom Verein HILFE-FÜR-JUNGS in Berlin arbeitet seit zwanzig Jahren mit Jungen und jungen Männern, die anschaffen. Im letzten Jahr wurden im Rahmen der aufsuchenden Sozialarbeit über 5.000 Kontakt- und Beratungsgespräche tagsüber und nachts an Orten der Prostitution geführt. Darüber hinaus konnten über 3.300 mal junge Männer in der Beratungs- und Anlaufstelle, die Beratungsbedarf hatten oder nur direkte Hilfe benötigten in Form von Essen, Duschen, Wäschewaschen, Schlafen und Erholung erreicht werden. 415 mal wurde jungen Männern im Jahr 2013 in der kostenfreien ärztlichen Sprechstunde oder dem nächtlichen Arztmobil geholfen. Untersuchungen, Impfungen und Behandlungen erfolgen so szenenah und niederschwellig. Die jungen Männer sind in der Regel wohnungslos und haben häufig keine gesicherte Krankenversorgung. Diese jungen Männern definieren sich in den seltensten Fällen selbst als „Male Sex Worker“, denn sie bieten sexuelle und/oder erotische Leistungen aus der Armut und Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt heraus an. Es geht um den nackten Überlebenskampf, in einer europäischen Realität in der die Sicherung der Maastricht-Kriterien vor der sozialstaatlichen Absicherung von Millionen Bürger_innen in großen Teilen des Südens und Ostens von politischer Bedeutung zu sein scheint.
subway kann nur Nothelfer für diese jungen Männer sein. Hin und wieder gelingt ein Weg aus dem Elend in ein einfaches Leben mit Arbeit, Wohnung und Sozialversicherung. Diese Perspektive kann in Deutschland, aber auch im Herkunftsland sein.
Auch ausgelebte Sexualität
Für einige Jungen und jungen Männer, die anschaffen gehen, hat das Ausleben eigener sexueller Bedürfnisse oder das offenere Leben sexueller Orientierungen eine Bedeutung. Die gelebte Sexualität mit Männern kann Ergänzung zur heimatlichen heteronormativen Familie, zum Ausleben von Bisexualität und Transsexualität oder gar Grundlage für ein homosexuelles Coming Out sein. Immer mehr junge Männer wollen nicht in homophoben, gewalttätigen oder unfreien Gesellschaften leben und kommen nach Berlin, in die Stadt der Träume und schillernden Freiheiten. Für zahlreiche schwule Russen und Bulgaren ist Berlin das Amsterdam des Ostens geworden; der Zufluchtsort, an dem Kraft getankt und Vielfalt gelebt werden kann.
Die Anlaufstelle von subway wird zu einem Freiraum und Rückzugsort, um andere Identitätsmodelle, Toleranz und den Kontakt mit anderen Rollenbildern zu üben. Junge Männer können hier über Träume, Erwartungen, Ängste, Sexualität, Begehren und Hemmungen miteinander und mit den Sozialarbeiter_innen sprechen. Die reine STI-/HIV-Prävention ist von der Kondomverteilung zur Personalkommunikation in mehreren Sprachen gewachsen. Die Angestellten von HILFE-FÜR-JUNGS bieten insgesamt Ansprache in Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Niederländisch, Kisuaheli, Türkisch, Russisch, Rumänisch und Polnisch. So kann entweder direkt durch die betreuenden Sozialarbeiter_innen oder mit der Hilfe eine/r Kolleg_in in den Sprachen vieler Ratsuchender geholfen werden.
Hilfestellung für Sexarbeiter
Seit fast 25 Jahren gibt es querstrich, das Beratungsangebot für Escorts, Callboys und deren Kunden. In Form von Email- und Telefonberatung, aber auch einmal wöchentlich als persönliches Beratungsangebot werden Fragen zur Gesundheit, zu Safer Sex, Professionalisierung, gewerblicher Tätigkeit und Hilfestellungen beim Alltag als Sexarbeiter angeboten. Die Themen haben sich seit Einführung des ProstG immer mehr zur Professionalisierung hin entwickelt. In Berlin ist die gesellschaftliche Toleranz gegenüber der Wohnungsprostitution sehr groß. Traditionell gab es in Berlin schon im Kaiserreich flächendeckende Prostitution und keine Sperrbezirke. In der schwulen Szene gibt es sogar hin und wieder einen Prestigegewinn durch die Sexarbeit. Viele emanzipierte schwule Männer sind nebenberuflich tätig, da in Berlin auf dem regulären Arbeitsmarkt der Anteil der prekär Beschäftigten und Freelancer ohne ausreichendes Einkommen besonders hoch ist. Nach dem Wegfall der Sittenwidrigkeit bietet die Prostitution hier Nebenerwerbsmöglichkeiten.
Verbesserung der Lebenssituation
Grundlage für eine verbesserte Lebenssituation vieler Männer in der Prostitution ist die Schaffung ausreichender Arbeitsverhältnisse für alle Menschen in Europa, deren soziale Absicherung und der Abbau von Diskriminierungen und Verfolgungen von Minderheiten, so dass niemand aus Not gezwungen ist, Sex gegen Geld anzubieten.
Eine weitere Grundlage für eine verbesserte Lebenssituation von Männern in der Prostitution ist die breite gesellschaftliche und rechtliche Anerkennung als berufliche Tätigkeit, keine Bestrafung von Kunden und keine Altersbeschränkungen für den Berufseinstieg über 18. Der stetige Zugang zur umfassenden Gesundheitsversorgung MUSS für alle Menschen in Deutschland gesichert sein, ob dies mit Krankenversicherung oder durch staatliche Leistungen erfolgt, ist unerheblich.