Martina Schu und
Ursula von Rüden, Köln
Mann-männliche
Prostitution und STI -
Situation
in Deutschland
Präventionsarbeit erscheint im Feld der mann-männlichen Sexarbeit als eine besondere Herausforderung. Viele der Sexarbeiter (MSW/Male Sex Worker) sowie ein Teil ihrer Klienten sind nicht in homosexuellen Netzwerken verankert. Auch reagieren sie nicht auf Präventionsangebote, die sich spezifisch an Homo-sexuelle richten. Gründe dafür sind möglicherweise, dass sehr viele männliche Sexarbeiter einen Migrationshintergrund haben und kaum über ausreichende deutsche Sprachkenntnisse verfügen oder ihr Aufenthaltsstatus nicht geklärt ist bzw. sie illegal in Deutschland leben. In der Folge ist ihr Zugang zur Gesundheitsversorgung und zu weiteren (sozialen) Hilfen oft eingeschränkt. Daten zur Anzahl der Sexarbeiter in Deutschland, zu Prävalenzen von HIV und STI in dieser Gruppe sowie verhaltensbezogene Daten fehlen völlig.
Zur Studie
Was meinen Fachleute?
Die Gruppe der Stricher wird durch die Präventionsakteure in folgender Weise charakterisiert:
- wenig professionelles Bewusstsein als Sexarbeiter
- mangelndes Wissen über Infektionsrisiken und Schutzmöglichkeiten
- begrenztes Safer-Sex-Bewusstsein
- oft aus osteuropäischen oder anderen Ländern stammend
- ohne bzw. mit geringen Deutschkenntnissen
- oft schon im Heimatland ausgegrenzt
- ohne oder mit prekärer Wohnung
- Schulden
- Suchtmittelkonsum, exzessives Glücksspiel
- vielfältige gesundheitliche Probleme
- oft kein Zugang zu Krankenversorgung
Vor diesem Hintergrund hat die Bundeszentrale für Gesundheit (BZgA) die Gesellschaft für Forschung und Beratung im Gesundheits- und Sozialbereich (FOGS) im Oktober 2013 mit einer Situationsanalyse zur Einschätzung der epidemiologischen, sozialen und versorgungsbezogenen Situation männlicher Sexarbeiter in Deutschland sowie laufender Präventionsmaßnahmen in dem Feld beauftragt.
Im Rahmen der Situationsanalyse wurden bis Ende 2013 Internet- und Literaturrecherchen durchgeführt, Studien ausgewertet und Ergebnisse von Fachtagungen zum Thema gesichtet, u. a. vom Fachtag „Sexuelle Gesundheit: Forschung zur Sexarbeit & STI-Forschung“ der Deutschen STI-Gesellschaft im November 2013 in Köln. Es wurden Präventionsmaßnahmen und -akteure in diesem Arbeitsfeld identifiziert. In 17 Interviews mit ExpertInnen aus Politik, Wissenschaft, Öffentlichem Gesundheitsdienst, AIDS-Hilfen und Einrichtungen für Stricher wurden dann der Status Quo zusammengetragen und der Handlungsbedarf festgestellt. Die Einschätzungen der Fachleute stellten eine wesentliche Grundlage für die Einordnung der Befunde und die Ableitung des Handlungsbedarfes dar.
Wie ist die Situation?
Das Thema ‚männliche Sexarbeit’ erfährt bisher in der sozialwissenschaftlichen Forschung in Deutschland wenig Aufmerksamkeit.
Es liegen lediglich aus acht deutschen Städten (Berlin, Dortmund, Essen, Frankfurt, Hamburg, Köln, München und Stuttgart) Daten oder Schätzungen zur Population von MSW vor, wobei sich diese überwiegend auf Stricher (MSW, die ihre Dienste auf der Straße anbieten) beziehen. In den acht Städten besteht die Szene jeweils aus etwa 250 bis 3.000 Männern. Die Gruppe ist heterogen und weist verschiedene Subgruppen auf, darunter als größte Untergruppen Stricher und Callboys. Die Szenen in den acht Städten unterscheiden sich deutlich nach Altersstruktur und Herkunft der Männer.
Aufgrund des großen Angebots und der schwierigen Lebenssituation der Männer beginnen die Tarife für sexuelle Dienstleistungen teilweise bei wenigen Euro und schon geringe Aufpreise verlocken in dieser Situation leicht zu ungeschützten Praktiken. Die Bezahlung erfolgt häufig auch in „Naturalien“ wie z. B. Schlafplatz, Essen, Kleidung oder Drogen. Schätzungen zufolge verdient ein Teil der Stricher im Monat nur einige hundert Euro.
Die Situation bei Callboys ist kaum bekannt. Sie scheint extrem unterschiedlich zu sein und reicht vom gelegentlichen Taschengeld- oder Verdienst-Aufbessern bis zum professionellen „Edel-Callboy“ mit (sehr) gutem Verdienst.
In einigen Städten konnten Strichergruppen auf STI getestet werden. Etwa 50 % der Untersuchten hatten eine STI. Stricher mit Migrationshintergrund haben oft keine Krankenversicherung und Scheu, zum Arzt zu gehen. Angst vor Stigmatisierung und Ausgrenzung, ein geringer Bildungsstand sowie geringe Kenntnisse über Grundsätze der Versorgung (z. B. Schweigepflicht) und über Hilfeangebote in Deutschland erschweren das Erreichen der Männer und die Möglichkeiten für Prävention.
Schwer erreichbar
Deutschlandweit existieren nur sehr wenige Präventions- und Hilfeangebote für männliche Sexarbeiter. Zudem ist das Angebot weder ausreichend noch verbindlich finanziert. Zentrale Arbeitsbereiche für HIV/STI-Prävention bei MSW sind Streetwork bzw. aufsuchende Arbeit, niedrigschwellige Anlaufstellen und die psychosoziale Beratung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) und von Trägern/Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege/AIDS-Hilfen. Die Strichereinrichtungen berichten, dass Prävention in der Regel überhaupt erst dann möglich wird, wenn die desolate Lage über alltagspraktische soziale Unterstützung stabilisiert werden kann.
Callboys offerieren ihre Angebote zunehmend über das Internet. Das entsprechende Online-Hilfeangebot ist noch sehr begrenzt. Auf nationaler Ebene gibt es die deutschlandweit ausgerichtete Online-Beratung bei www.info4escorts.de. Dieses Beratungsangebot wird von Strichereinrichtungen und AIDS-Hilfen ehrenamtlich organisiert. Manche Strichereinrichtungen, AIDS-Hilfen oder Gesundheitsämter halten auch selbst Online-Angebote vor. Das Online-Angebot ist insgesamt jedoch noch deutlich knapper als die Vor-Ort-Hilfen.
Die meisten Strichereinrichtungen sind in einem deutschlandweiten Arbeitskreis organisiert, in dem gemeinsam Leitlinien zur sozialpädagogischen Arbeit mit Strichern erarbeitet wurden (AKSD). Im Rahmen der Präventionsarbeit wird mit der Deutschen AIDS-Hilfe kooperiert. Auf regionaler und kommunaler Ebene gibt es vielfach Kooperationen von Strichereinrichtungen und dem öffentlichen Gesundheitsdienst.
Was ist zu tun?
Obgleich die Situationsanalyse in der knappen Zeit lediglich einen ersten Blick auf das Thema werfen konnte, wurde deutlich, dass die Gruppe der MSW deutlich unterversorgt ist, insbesondere die Gruppe komplex belasteter Stricher. Um zukünftige Hilfe- und Präventionsangebote bedarfsgerecht zu entwickeln, ist grundlegende Forschung zu einer ganzen Reihe von Fragestellungen notwendig. Dabei sollte man sich nicht auf medizinische Aspekte beschränken. Sozialwissenschaftliche Aspekte sowie Zugangsmöglichkeiten zu Prävention und Hilfe müssen auch im Fokus stehen. Eine bundesweite und einheitliche Erfassung der Daten überall dort, wo Stricher schon betreut werden, wäre ein erster und wichtiger Schritt.
Niedrigschwellige Zugänge zu HIV- und STI-Behandlung für nicht versicherte MSW sind eine Grundvoraussetzung für deren Erreichbarkeit. Prävention für Stricher kann nur gelingen, wenn ihre hochbelastete Lebenssituation ganzheitlich in den Blick genommen und umfassend lebenspraktische Unterstützung angeboten wird. Die bestehende minimale Versorgung muss gesichert und ausgebaut werden. Zudem sollten, z. B. über Modellprojekte, neue Wege entwickelt werden, um Zugang, Prävention und Hilfe zu verbessern und Zielgruppen-spezifische Angebote zu entwickeln. Dazu gehören u. a. neuartige Informationsangebote, zum Beispiel für Sexarbeiter, die nicht deutsch sprechen oder gar nicht lesen können.
Besser erreichbar scheinen Sexarbeiter bei Internet-Sexarbeit zu sein – auch für die Forschung. Allerdings ist es auch hier notwendig, neue und Zielgruppen-bezogene differenzierte Zugangswege und Präventionsmaßnahmen zu erproben.
Eine wesentliche Zielgruppe für die STI-Prävention sind auch die Freier. Gezielte Forschung zu Sexual- und Risikoverhalten der Freier ist wichtig, um spezifische Botschaften, Präventionsmaßnahmen, aber auch Tests und Behandlungen zu entwickeln.
Schließlich könnte eine Enttabuisierung von (männlicher) Prostitution zu einer freieren Diskussion über weniger riskante Sexualpraktiken führen sowie auch im Pay-Sex-Bereich zu einem bewussteren Umgang mit sexueller Gesundheit beitragen.