Clara Lehmann, Sebastian Zundler und Christof Geldmacher
Heilung durch Darmschutz?

Das darmassoziierte lymphatische Gewebe spielt eine zentrale pathogenetische Rolle bei der HIV-Infektion. Erste Tierversuche deuten auf eine andauernde körpereigene Viruskontrolle nach Gabe von ART plus Blockade des Darm-Homings hin.

In einer Primatenstudie von Byrareddy und Kollegen wurde zum ersten Mal gezeigt, dass eine andauernde virologische Kontrolle von pathogenen Immundefizienzviren nach Absetzen der antiretroviralen Therapie (ART) möglich sein könnte. Ihr experimenteller Ansatz: 18 Rhesus Makaken wurden mit einem Simian Immundefizienzvirus (SIVmac239) infiziert und nach Durchlaufen der akuten Phase der Infektion (mit peak viremia) nach vier Wochen auf ART gesetzt, was die Viruslast erwartungsgemäß in allen Tieren unter die Nachweisgrenze drückte. Nach weiteren 4 Wochen erhielt die Behandlungsgruppe insgesamt 8 Injektionen eines gegen den HIV-Korezeptor und Darm-Homing- Rezeptor α4β7 Integrin (Abb. 1) gerichteten monoklonalen Antikörpers (anti-α4β7) – in drei-wöchigen Intervallen. Der Darm-Homing-Rezeptor α4β7 wird von Immunzellen, wie den CD4-T-Zellen, benötigt, um von der Blutzirkulation in die darmassoziierten lymphatischen Gewebe zu wandern, um dort mit Antigen-präsentierenden Zellen und regulatorischen T-Zellen zu interagieren. In der vierten Phase des Experiments (Woche 18-32) wurde dann die ART
gestoppt. 

Abb. 1  Der Darm-Homing-Rezeptor α4β7 Integrin ist ein HIV-Korezeptor in räumlicher Nähe zum HIV Hauptrezeptor CD4 und vermittelt vermutlich in vivo die Bindung von HIV an die Zielzelle
Abb. 1 Der Darm-Homing-Rezeptor α4β7 Integrin ist ein HIV-Korezeptor in räumlicher Nähe zum HIV Hauptrezeptor CD4 und vermittelt vermutlich in vivo die Bindung von HIV an die Zielzelle

Abb. 2  Andauernde Plasmaviruskontrolle nach anti-α4β7 Integrin Antikörper Therapie, Byrareddy et al. 2016
Abb. 2 Andauernde Plasmaviruskontrolle nach anti-α4β7 Integrin Antikörper Therapie, Byrareddy et al. 2016

Funktionelle Heilung

Die Viruslast in der Kontrollgruppe stieg erwartungsgemäß schnell wieder an, während anti-α4β7 behandelte Tiere überraschenderweise nach einem kurzen und niedrigeren Viruspeak und einzelnen „Virusblips“, die virale Replikation im weiteren Verlauf des Experiments (bisher >2 Jahre) kontrollierten (Abb. 2).

Der Mechanismus dieser induzierten und permanenten Viruskontrolle ist völlig unklar. Der kurze Viruspeak nach Absetzen der ART, die anhaltende Viruskontrolle auch nach Absetzen der anti-α4β7-Therapie sowie die signifikant
erhöhten Antikörperantworten in der Behandlungsgruppe gegen genau die HIV-Hüllproteinregion, welche an α4β7 bindet, weisen darauf hin, dass eine höchst effiziente adaptive Immunantwort gegen SIV induziert worden ist. Bemerkenswert ist zudem, dass sich die Behandlungs- und Kontrollgruppe zum Teil auch vor Absetzen der ART deutlich unterscheiden: Die CD4-T-Zellzahlen erholen sich in der Behandlungsgruppe sehr schnell und sogar im Darm-assozierten lymphatischen Gewebe – einem Hauptort der HIV- und SIV-Replikation.

Infizierte Zellen im Darm

Wichtige von HIV bzw. SIV geschädigte Immunfunktionen erholen sich, insbesondere die Fähigkeit von CD4-T-Zellen das Zytokin IL-17 zu produzieren, welches für die Integrität des Darmepithels wichtig ist. Zudem sind die Plasmaspiegel von IL-21 erhöht, welches von follikulären CD4-T-Helferzellen produziert wird. Diese follikulären CD4-T-Helferzellen sind in lymphoiden Geweben ein wichtiges Substrat für die in vivo Replikation von HIV und SIV. Erst kürzlich wurde gezeigt, dass diese CD4-T-Helferzellen trotz effizienter ART persistent virale Produkte produzieren können. Ebenso sind die Spiegel des Vitamin A-Derivats Retinsäure im Plasma erhöht. Hier könnte sich der Kreis zum Homing schließen, denn Retinsäure ist neben der Induktion anti-inflammatorischer regulatorischer T-Zellen auch an der Induktion von α4β7 auf T-Zellen im darmassoziierten lymphatischen Gewebe beteiligt.

Noch offene Fragen

Erste Schritte auf dem Weg zur funktionellen Heilung...

Eines der ersten Angriffsziele von HIV ist das lymphatische Gewebe des Darms. HIV infiziert und dezimiert dort schon früh während der Infektion CD4 T Zellen und schädigt das lokale Abwehrsystem. Im Tierversuch konnte in Affen erstmals nachgewiesen werden, dass eine andauernde Kontrolle eines AIDS Virus möglich ist: Zunächst wurde die Virusreplikation durch antiretrovirale Medikamente gestoppt und anschließend zusätzlich ein monoklonaler Antikörper gegeben, der die Interaktion von Virus mit dem Darm-Homing Rezeptor α4β7 Integrin blockiert. Selbst nach Absetzen dieser Antikörper-Behandlung blieb die Viruslast dauerhaft ohne ART Medikamente unter der Nachweisgrenze. Ob das auch beim Menschen funktionieren könnte, wird im Moment in einer ersten Studie mit dem anti-α4β7-Integrin Antikörper Vedolizumab, der zur Behandlung inflammatorischer
Darmerkrankungen bereits zugelassen wurde, in den USA getestet.

Dennoch bleiben zahlreiche ungeklärte Fragen: Warum erholen sich die CD4-T-Zellzahlen in der Behandlungsgruppe bereits vor Absetzen der ART schneller als in der Kontrollgruppe? Wie ist die aus dem Bereich der chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) bekannte Hemmung des Darmhomings von CD4-T-Zellen durch anti-α4β7 Antikörper mit der Zunahme der Zellzahl im Darm in Einklang zu bringen? Hemmt anti-α4β7 evtl. die erste Kontaktaufnahme des Virus mit der T-Zelle und verhindert so die Bindung an die Virusrezeptoren CD4 und CCR5 wie bereits eine Arbeit aus dem Jahr 2008 nahelegt? Oder gibt es möglicherweise eine tiefgreifende und bislang unbekannte immunologisch-infektiologische Regulationsfunktion von α4β7 im Sinne eines „Viruskontrollschalters“, der bereits vor Absetzen der ART auf die persitierende Virusproteinproduktion einwirkt und schließlich zur permanenten Viruskontrolle führt?

Ungeachtet dieser offenen Punkte, die weiterer translationaler Forschung bedürfen, läuft im Moment in den USA eine erste klinische Studie mit dem zur Behandlung von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen bereits zugelassenen anti-α4β7 Integrin Antikörper Vedolizumab. In Europa ist innerhalb der European HIV Vaccine Allianz eine
weitere Studie in Planung. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Ergebnisse im Tiermodell auf „natürliche HIV-Infektionen“ übertragen lassen. Einen Grund zur Hoffnung auf weitere Fortschritte oder gar einen Durchbruch in der HIV-Therapie stellen sie aber ganz sicherlich dar.

1 Sustained virologic control in SIV+ macaques after antiretroviral and α4β7 antibody therapy. Byrareddy SN, Arthos J, Cicala C, Villinger F, Ortiz KT, Little D, Sidell N, Kane MA, Yu J, Jones JW, Santangelo PJ, Zurla C, McKinnon LR, Arnold KB, Woody CE, Walter L, Roos C, Noll A, Van Ryk D, Jelicic K, Cimbro R, Gumber S, Reid MD, Adsay V, Amancha PK, Mayne AE, Parslow TG, Fauci AS, Ansari AA. Science. 2016 Oct 14;354(6309):197-202.

2 Opening lecture for the R4P 2106 conference, Anthony Fauci from US NIAID, http://webcasts.hivr4p.org/console/player/33006.

3 HIV-1 envelope protein binds to and signals through integrin alpha4beta7, the gut mucosal homing receptor for peripheral T cells. Arthos J, Cicala C, Martinelli E, Macleod K, Van Ryk D, Wei D, Xiao Z, Veenstra TD, Conrad TP, Lempicki RA, McLaughlin S, Pascuccio M, Gopaul R, McNally J, Cruz CC, Censoplano N, Chung E, Reitano KN, Kottilil S, Goode DJ, Fauci AS. Nat Immunol. 2008 Mar;9(3):301-9.

4 PD-1(+) and follicular helper T cells are responsible for persistent HIV-1 transcription in treated aviremic individuals. Banga R, Procopio FA, Noto A, Pollakis G, Cavassini M, Ohmiti K, Corpataux JM, de Leval L, Pantaleo G, Perreau M. Nat Med. 2016 Jul;22(7):754-61.

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