Christian Hoffmann, Hamburg
Multiresistente HI-Viren in Deutschland Rationale für die LOWER-Studie
Resistenz-bedingtes Therapieversagen ist bei HIV-infizierten Patienten selten geworden. Mit der Einführung neuer Wirkstoffklassen wie den Integrase-Strangtransfer-Inhibitoren (INSTIs) oder Entry-Inhibitoren, aber auch durch die Proteasehemmer (PIs) und Nicht-Nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NNRTIs) der zweiten Generation hat es bekanntermaßen erhebliche Fortschritte für Patienten mit multiresistenten Viren gegeben. In zahlreichen Phase-III-Studien konnte bei vielen zum Teil intensiv vorbehandelten Patienten eine suffiziente und dauerhafte Virussuppression erreicht werden – eine Beobachtung, die sich immer wieder auch in der klinischen Realität machen lässt. Dementsprechend hat sich die Rate der Patienten mit Drei- oder Mehrklassen-Resistenz auf einem niedrigen Niveau stabilisiert (Lohse 2005, Helleberg 2012, Plato II). Die meisten Patienten mit multiresistenten Viren sind bereits in den 90ern mit Mono- oder Duo-Therapien behandelt worden (Napravnik 2007). In der Schweizer Kohorte sank die Prävalenz der Viren mit Dreiklassen-Resistenz von 9,0% auf 4,4% zwischen den Jahren 1996 und 2013. Bei Patienten, die ihre ART nach 2006 begonnen hatte, lag die Rate unter <0,4% (Scherrer 2016). In einer Analyse von 20.323 Patienten aus 7 europäischen Ländern lag die Prävalenz insgesamt bei 3,2% (sofern alle Resistenzen kumulativ gewertet wurden), mit einem Höchststand im Jahre 2005 und einer seitdem fallenden Tendenz. Die Zahl der Patienten ohne jede weitere Therapie-option sank in Europa von 32% in 2000 auf 1% in 2008 (De Luca 2013). Auch die Transmission multiresistenter Virusstämme bleibt bislang ein sehr seltenes Ereignis. Allerdings wurden gerade in den letzten Jahren lokale Ausbrüche, aber auch Fälle von Superinfektionen bei Patienten mit zuvor suffizienter ART beschrieben (Castro 2014).
Daten fehlen
Für Deutschland liegen keine zuverlässigen Daten zur Prävalenz von multiresistenten Viren vor. Bei einer grob geschätzten Rate von etwa 1-1,5% dürften allerdings insgesamt etwa 500-1.000 Patienten hierzulande von multiresistenten Viren betroffen sein. Möglicherweise ist die Mortalität dieser Patienten erhöht, allerdings ist die Datenlage dazu widersprüchlich (Lohse 2007, Lucas 2004). Neuere Daten zeigen, dass die Mortalität in den letzten Jahren abgenommen hat, wahrscheinlich durch die Einführung neuer Therapieklassen wie den Integrase-Inhibitoren (Plato II 2013). Allerdings hat sich auch die Entwicklung weiterer antiretroviraler Wirkstoffklassen zuletzt deutlich verlangsamt. Innovative Ansätze wie der Attachment-Inhibitor Fostemsavir und monoklonale Antikörper-Präparate werden noch auf sich warten lassen. Es ist daher nicht sicher, dass sich für Patienten mit aktuell limitierten Optionen in den nächsten 1-2 Jahren wirklich entscheidende neue Therapieperspektiven eröffnen werden. Die Behandlung von Patienten mit multiplen Resistenzmutationen bleibt nicht nur deshalb komplex – eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Kliniker und Virologen ist wünschenswert, möglichst auch in einem größeren Zentrum mit Erfahrung in komplexen Therapie-regimen. Obwohl der Wunsch der Patienten nach Vereinfachung immer häufiger geäußert wird und auch verständlich sein mag: Immer ist individuell sehr sorgfältig abzuwägen, ob der potentielle Vorteil einer Therapievereinfachung bzw. Reduktion das potentielle Risiko eines Therapieversagens rechtfertigt (siehe dazu auch das geschilderte Patientenbeispiel, bei dem noch nicht einmal drei, sondern nur zwei Klassen betroffen sind – und sich trotzdem sehr unterschiedliche Expertenmeinungen ergeben). Die oft nur wenigen, noch verbliebenen Therapie-Optionen dürfen unter keinen Umständen kompromittiert werden.
Deeskalation möglich?
In
den letzten Jahren wurden einige kleine, überwiegende strategisch
orientierte Studien veröffentlicht, in denen zumeist
Deeskalationskonzepte bei Patienten mit multiresistenten Viren
evaluiert wurden (Yazdanpanah 2009, Nozza 2014, Llibre 2016, Tashima
2016). Für Aufsehen sorgte kürzlich eine prospektive randomisierte
Studie, in der sich ein antiretrovirales Regime aus
Elvitegravir/c+TAF + FTC plus Darunavir (= zwei Tabletten täglich,
Darunavir wird durch Cobicistat geboostert und benötigt deshalb kein
Ritonavir) auch bei zum Teil intensiv vorbehandelten Patienten als
sehr wirksam erwies (Huhn 2017). Der teilweise beeindruckende Erfolg
dieser Studien beruht allerdings auf der sorgfältigen Selektion der
untersuchten Patientenpopulationen. Vor allem Patienten mit
ausgeprägter
Resistenzlage wurden zumeist ausgeschlossen, fast
immer galt das Vorhandensein mindestens 1-2 aktiver Substanzen als
wesentliches Einschlusskriterium. Je ausgeprägter die Resistenzlage,
umso unwahrscheinlicher ist somit auch weiterhin die Aufnahme in eine
klinische Studie. Gerade Patienten mit komplexer Resistenzlage sind
damit in prospektiven Studien in der Regel unterrepräsentiert.
Laufende Studie
Diese Patienten sollen in Deutschland in der bereits laufenden, multizentrischen LOWER Studie (“Limited Options in Patients with Extended Resistance to Antiretroviral Therapy: A National Survey”) untersucht werden. LOWER ist dabei als eine Art Bestandsaufnahme gedacht – gefordert für die Aufnahme sind einwilligungsfähige Patienten mit einer Hauptresistenz jeweils gegen mindestens drei der vier Klassen NRTIs, NNRTIs, PIs und INSTIs. Nebenmutationen gelten ebenso wenig wie der Nachweis von X4-Viren. Dafür werden ausdrücklich sowohl virämische als auch avirämische Patienten in LOWER aufgenommen.
Ziel dieser nicht-interventionellen Studie ist es, eine möglichst große Gruppe von HIV-infizierten Patienten mit mindestens Dreiklassenresistenz zu untersuchen, um ein repräsentatives Bild über die klinische und virologische Situation dieser Patientengruppe zu gewinnen. Insgesamt 12 größeren HIV-Zentren aus Deutschland, darunter sowohl Schwerpunktpraxen als auch universitäre Zentren, nehmen an der noch bis zum Herbst laufenden Untersuchung teil. Die Gesamtzahl der in den teilnehmenden Zentren betreuten Patienten dürfte gut einem Viertel aller in Deutschland betreuten Patienten entsprechen. Geplant ist die Aufnahme von insgesamt 250 Patienten in den nächsten Monaten.
Nur „Altlasten”?
Wichtige Faktoren, die in LOWER analysiert werden sollen, sind neben den aktuell noch bestehenden Therapieoptionen auch die körperliche und psychische Verfassung, sozialer Status sowie bestehende Begleiterkrankungen. Mit welchen ART-Regimen werden diese Patienten behandelt, sind Deeskalationskonzepte in der Vergangenheit erfolgreich gewesen? Wann sind die Resistenzen aufgetreten und aus welchen Gründen? Handelt es sich ausschließlich um die allseits bekannten „Praxisveteranen“, die heute noch die Folgen insuffizienter Mono- bzw. schwacher Duotherapien der 90er Jahre zu tragen haben? Oder gibt es auch in jüngerer Zeit noch ein solch ausgeprägtes Therapieversagen? Wie viele dieser Patienten sind virämisch, bei wievielen Patienten besteht eine Low Level Virämie, wie ist die immunologische Situation der Patienten? Wie viele Patienten haben keine weiteren Optionen und wären Kandidaten für etwaige zukünftige Compassionate-Use-Programme? Eine weitere Analyse betrifft die Adhärenz und Zufriedenheit der Patienten mit ihrer momentanen antiretroviralen Therapie und mögliche Verbesserungsmöglichkeiten aus Sicht der Patienten.
Proviraler Resistenztest
Die aktuelle Resistenzlage wird durch eine einzige Blutentnahme und mittels Next-Generations-Sequencing (NGS) aus proviraler DNA analysiert. Die Ergebnisse werden mit sämtlichen verfügbaren früheren Resistenztestungen verglichen. Für die NGS-Analysen konnte das Institut für Immunologie und Genetik in Kaiserslautern (Ansprechpartner Dr. Martin Däumer) gewonnen werden. Es wird sehr spannend sein zu sehen, in welcher Häufigkeit sich komplexe Resistenzmuster auch Jahre später noch mit den modernen virologischen Methoden der heutigen Zeit nachweisen lassen.
Auch
wenn LOWER nicht-interventioneller Natur ist, werden sich aus dieser
Studie wichtige Erkenntnisse für eine
Patientengruppe ergeben,
die im heutigen Zeitalter moderner HIV-Therapien oft vergessen bzw.
vernachlässigt wird.
ICH Stadtmitte
Infektiologisches Centrum Hamburg
Glockengießerwall 3
20095 Hamburg
E-Mail: hoffmann@ich-hamburg.de
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