Interview mit Dr. Stephan Walcher, München
Nutzen finden, Risiken beachten!
Dr. Stephan Walcher
Anästhesist, Schmerztherapeut und
Suchttherapeut
Vorstandsmitglied der
Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin
E-Mail: kontakt@moviemed.de
Cannabis kann ja seit neuestem als Arzneimittel verschrieben werden. Begrüßen Sie als Suchtmediziner diese Option?
Walcher: Ich begrüße das sehr und zwar nicht nur als Suchtmediziner, sondern als Arzt und Schmerztherapeut. Cannabis hat viele potentiell positive Effekte und bisher war es außerordentlich schwierig, es zu verschreiben.
Wie kam es zu dieser für viele überraschenden Zulassung?
Walcher: Die Bundesopiumstelle hat letztes Jahr rund 600 Anträge auf Sonderbezug für verschiedene Cannabis-Produkte genehmigt. Angesichts dieser großen Zahl kann man nicht mehr von Sonderbezug sprechen. Auf der anderen Seite will man aber Cannabis nicht ganz frei geben. Daher hat die Politik sich auf einen Mittelweg geeinigt und Cannabis als Arzneimittel zugelassen.
Normalerweise müssen bei einem Arzneimittel Wirksamkeit und Sicherheit nachgewiesen sein. Bei Cannabis ist das nicht der Fall...
Walcher: Richtig, zu Cannabis gibt es keine doppelblinden randomisierten Studien mit Hunderten von Patienten, aber wir haben 5.000 Jahre Erfahrung. Welches Arzneimittel kann das schon von sich behaupten? Und Evidenz gibt es auch – allerdings von unterschiedlicher Qualität. So gibt es beispielsweise zwei neuere Review-Arbeiten aus dem anglo-amerikanischen Raum, eine deutsche Arbeitsgruppe ist damit befasst, die vielen hundert Studien, die es gibt, zu sichten und in einer Art Chochrane Review zusammenzufassen.
Angesichts der durchwachsenen Qualität der Studien ist selbst eine gute Metaanalyse noch keine gute Evidenz...
Walcher: (lacht) Das hat auch das Ministerium erkannt und eine ungewöhnliche Entscheidung getroffen: Die Evidenz soll nach der Zulassung im Rahmen der Anwendung geschaffen werden und zwar durch die obligate Dokumentation des Verlaufs, also quasi eine Nicht-Interventionelle Studie. Der zweite ungewöhnliche Schritt war, dass die gesetzlichen Krankenkassen zur Kostenübernahme verpflichtet wurden. Nur in Ausnahmefällen darf die Kasse dem Erstattungsantrag widersprechen. Dennoch funktioniert die Kostenübernahme nicht überall reibungslos. In Berlin beispielsweise laufen noch juristische Auseinandersetzungen.
Die Indikation für Cannabis ist sehr weit gefasst. Wo sehen Sie Anwendungsgebiete?
Walcher: Cannabisvollprodukte haben euphorisierende, schlafanstoßende und appetitsteigerende Effekte. Als Einsatzgebiete kommen für mich daher in erster Linie konsumierende Erkrankungen, onkologische Erkrankungen oder neurologische Erkrankungen mit Gewichtsverlust, Appetitlosigkeit, chronischen Schmerzen, Schlaflosigkeit und/oder Spastik in Frage. Der euphorisierende Effekt, also der klassische Drogeneffekt, ist hier kein Nachteil.
Und wem sollte man Cannabis lieber nicht verschreiben?
Walcher: Cannabis kann auch Nebenwirkungen und schädliche Wirkungen haben. Bei prädisponierten Patienten kann man eine Psychose auslösen. In Kombination mit Alkohol kommt es schneller zu Leberschäden und das Rauchen von Cannabis ist genauso schädlich für die Lunge wie Zigarettenrauchen. Insbesondere Jugendlichen sollte man Cannabis nicht verschreiben. Hier kann es zu langanhaltenden ZNS-Schäden kommen.
...und das Risiko einer Abhängigkeit?
Walcher: Das ist nicht groß, wenn man seinen Patienten kennt und die Indikation richtig stellt. Eine HIV-Infektion ist nicht automatisch eine Indikation für Cannabis, sondern erst wenn der Patient Wasting, Schlaflosigkeit oder polyneuropathische Schmerzen hat. Vorsicht ist bei Verdacht auf eine bestehende Suchterkrankung geboten. In diesem Fall sollte man mit einem Suchttherapeuten zusammenarbeiten.
Viele Ärzte haben auch Sorge wegen der Haftungsfrage im Straßenverkehr...
Walcher: Grundsätzlich muss man den Patienten darüber aufklären, dass er nach dem Konsum intoxikiert nicht fahren darf. Das gilt ja auch für sedierende Psychopharmaka, Opiat-Schmerzmittel usw. Die Besonderheit bei Cannabis ist, dass THC noch sehr lange nach dem Konsum nachweisbar ist. Hier wird man eine Neuregelung finden müssen. Welche Dosierung, welche zeitlichen Abstände sind nicht fahrgefährdend? Es laufen bereits Gespräche, aber der Weg ist noch lang.