Interview mit Tanja Gangarova, Referentin für Migration der Deutschen Aidshilfe
Deutsche AIDS-Hilfe LogoClearingstellen – (k)eine Lösung für alle?

Tanja Gangarova, Referentin für Migration der Deutschen Aidshilfe
©Fotos: DAH

Menschen ohne Papiere oder Krankenversicherung haben es schwer, medizinische Versorgung zu erhalten.
Clearingstellen sollen Abhilfe schaffen. Genügt das?

Frau Gangarova, in mehreren deutschen Städten werden mittlerweile Clearingstellen erprobt. Sie werden auch als Lösung für das humanitäre Problem diskutiert, wie unversicherte Menschen medizinisch versorgt werden können. Was genau verbirgt sich hinter dem Begriff Clearingstelle?

T. Gangarova: Clearingstellen sind Anlaufstellen für Menschen ohne Versicherung oder mit unklarem Versicherungsstatus. Diese Stellen ermöglichen die Klärung des aufenthaltsrechtlichen und sozialrechtlichen Status und gegebenenfalls die Reintegration der Aufsuchenden in das Regelsystem. Je nach Konzept wird bei nicht einlösbaren Leistungsansprüchen eine medizinische Behandlung ermöglicht. Die Clearingstellen stellen eine Kooperation zwischen dem Öffentlichen Gesundheitsdienst und unterschiedlichen freien Trägern dar. Sie unterliegen der Schweigepflicht, so dass eine Weitergabe der Daten nicht befürchtet werden muss.

Wer ist betroffen?

In Deutschland haben Hunderttausende nur einen sehr eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung oder sind sogar faktisch davon ausgeschlossen:

  • Menschen ohne Papiere, die ihre Ansprüche auf ambulante Behandlung nicht geltend machen können, weil Sozialamtsmitarbeiter_innen verpflichtet sind, sie an die Ausländerbehörde zu melden
  • EU-Bürger_innen, die vom Leistungsausschlussgesetz betroffen und damit von jeglicher Gesundheitsversorgung – auch im Notfall – abgeschnitten sind
  • Geflüchtete, die in einem anderen EU-Land einen Asylantrag gestellt haben, sich aber in Deutschland aufhalten
  • in Deutschland registrierte Geflüchtete, die ihre Ansprüche noch nicht oder nicht mehr über das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) geltend machen können
  • deutsche Staatsbürger_innen ohne Krankenversicherung oder mit Beitragsschulden

Was heißt denn „nicht einlösbare Leistungsansprüche“?

T. Gangarova: Nicht einlösbar heißt, dass keine Möglichkeit gefunden wird, den Menschen eine Krankenversicherung zu ermöglichen. In diesem Fall bieten einige Clearingstellen eine medizinische Behandlung durch die Vergabe eines anonymisierten Krankenscheins an.

Das heißt, das Problem ist damit gelöst?

T. Gangarova: Die Einrichtung von Clearingstellen ist meiner Einsicht nach eine positive und begrüßenswerte Entwicklung. Die Erfahrungen vor Ort zeigen auch, dass ein nicht unwesentlicher Anteil der Aufsuchenden wieder in das Regelsystem integriert werden kann. Das ist ein großer Fortschritt und eine Erlösung für die Betroffenen. Für die Menschen, die nicht in die Regelversorgung eingegliedert werden können, stellen die Clearingstellen aber keine ausreichende Lösung dar.

Warum nicht?

T. Gangarova:Für diese Menschen kann im Rahmen von Notfallfonds zwar meist eine Basisversorgung zur Verfügung gestellt werden, doch die Einschränkungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bleiben bestehen. Das heißt, dass nur akute Erkrankungen und Schmerzzustände sowie alle Untersuchungen und Behandlungen rund um Schwangerschaft und Geburt übernommen werden. Menschen mit HIV haben das Recht auf eine Behandlung, denn die Nichtbehandlung der HIV-Infektion kann zum Tod führen.

Gibt es weitere Gründe, warum Clearingstellen nicht ausreichen?

T. Gangarova: Zum einen gibt es diese Einrichtungen nicht überall – nur in Hamburg, Berlin, München und einigen Städten in Nordrhein-Westfalen (Köln, Duisburg, Dortmund, Münster und Gelsenkirchen). Darüber hinaus ist ihre Finanzierung gedeckelt. Darum kann nur ein kleiner Teil der Aufsuchenden behandelt werden, zudem oft zeitlich befristet (mit Ausnahme Hamburgs). Die Clearingstellen in NRW laufen dieses Jahr aus, und bis jetzt habe ich kein Signal für eine Fortführung mitbekommen.

Zugang für Gesundheitsversorgung für alle

Was bedeutet das konkret für die Klient_innen, die dort Hilfe suchen?

T. Gangarova:Aufgrund der befristeten und gedeckelten Fondsfinanzierung gelingt die Finanzierung kostspieliger Leistungen nur im Ausnahmefall, geschweige denn die langjährige Abdeckung einer antiretroviralen Therapie bei HIV-positiven Menschen. Es ist nur eine sehr eingeschränkte Versorgung.

Was bräuchten wir für eine Lösung?

T. Gangarova: Wünschenswert wäre eine vom Bund als Modellprojekt finanzierte bundesweite Errichtung von Clearingstellen, die sich nach dem lokalen Bedarf richten und die nicht gedeckelt und befristet sind. Nur so kann eine nachhaltige und flächendeckende Wirkung erzielt werden. Heute wird selbst die Grundversorgung von Menschen ohne Papiere oder Krankenversicherung in Parallelstrukturen geleistet, die von ehrenamtlichem Engagement getragen sind. Das kann nicht die Lösung sein! Es geht darum, dass alle Menschen ihr Recht auf Gesundheit durch einen Zugang zur Regelversorgung wahrnehmen können.

Kontakt: tanja.gangarova@dah.aidshilfe.de


Spätdiagnosen vermeiden:
Neue Handreichungen für Gynäkologie und Suchtmedizin

Informationen, Tipps und Gesprächsleitfäden erleichtern Anamnese, Test, Ergebnismitteilung und Behandlung bei HIV und Hepatitis.

Ärztinnen und Ärzte können viel dazu beitragen, HIV früh zu diagnostizieren und zu behandeln. Zur Unterstützung gibt die Deutsche Aidshilfe in mehreren Handreichungen Informationen und praktische Tipps für den Praxisalltag. Neu erschienen sind nun Ausgaben für die Gynäkologie und die Suchtmedizin. Eine Broschüre für hausärztliche Praxen liegt bereits seit letztem Jahr vor.

Sowohl bei Frauen als auch bei intravenös Drogen konsumierenden Menschen wird HIV häufig zu spät diagnostiziert.
Dabei bieten gerade die regelmäßigen Besuche von Frauen in gynäkologischen Praxen sowie von Substituierten in suchtmedizinischen Einrichtungen eine gute Gelegenheit, HIV zu thematisieren und gegebenenfalls einen Test anzubieten.

In den Broschüren informieren Expert_innen aus den jeweiligen Fachgebieten, HIV-Behandlung und der Aidshilfe-Arbeit prägnant über Testverfahren, Abrechnungsmöglichkeiten und das Vorgehen bei positiven Ergebnissen. Gesprächsleitfäden erleichtern die Kommunikation zu den heiklen Themen Sexualität und Drogenkonsum sowie zur Mitteilung einer HIV- oder HCV-Diagnose. Fallbeispiele machen den Wert einer frühen Behandlung deutlich.

Erfahrungen und aktuelle Daten zeigen: Auch bei Drogen konsumierenden Patient_innen stellt sich in der Regel rasch der Therapieerfolg ein, selbst wenn die Adhärenz nicht perfekt ist. In der Regel nehmen die Patient_innen ihre Medikamente aber zuverlässig ein. Bei Adhärenz-Problemen kann zudem die Vergabe der Medikamente mit dem Substitut hilfreich sein.

Kein AIDS Für alle

Die Broschüren sind Teil der Kampagne „Kein Aids für alle – bis 2020!“ der Deutschen Aidshilfe. Das Ziel: Niemand soll mehr an Aids oder einem schweren Immundefekt erkranken müssen. Bislang sind in Deutschland noch immer mehr als 1.000 Menschen pro Jahr von solchen Spätdiagnosen betroffen – obwohl die Erkrankungen vermeidbar wären. howi

Kostenlose Bestellung und Download der Broschüren:

Hausarztpraxen: aidshilfe.de/shop/hausarzt

Gynäkologie: aidshilfe.de/shop/gyn

Suchtmedizin: aidshilfe.de/shop/suchtmedizin

Mehr Informationen: kein-aids-fuer-alle.de

Kontakt E-Mail: kontakt@kein-aids-fuer-alle.de

Fortbildungsangebote: www.hiv-sti-fortbildung.de

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