Christian Hoffmann, Hamburg
ZNS-Nebenwirkungen unter INSTI
Eine Übersicht und ein paar Geschichten

Ich erinnere mich noch gut daran, wie alles anfing. Mit einem unscheinbaren Poster, im Februar 2016 war’s. Es hing auf der CROI in Boston, unscheinbar, ziemlich weit hinten.

Niederländische Forscher berichteten über eine „Unerwartet hohe Rate an Dolutegravir-Intoleranz im Real-Life Setting“.1 Seit August 2014 waren in einem Amsterdamer Krankenhaus 388 Patienten mit Dolutegravir behandelt worden. Von diesen hatten es 16% innerhalb weniger Monate abgebrochen, meist aufgrund neuropsychiatrischer Ereignisse. 16 Prozent! In so kurzer Zeit! Warum, wieso, wer war betroffen? Was waren die Mechanismen? Das Poster schwieg sich aus.

Mails aus der Mongolei

Fall 1. Angestellte, 50 Jahre – Die Dunstglocke

Ich bin seit gut 30 Jahren HIV infiziert. Trotzdem versuche ich aus allem das Beste zu machen. Ende 2014 stand ein Therapiewechsel an. Ich freute mich sehr darauf. Wunderbar, dass sich der Fokus der HIV-Therapie vom reinen Überlebenstraining auf eine möglichst kommode Verabreichung verschoben hat! Ein paar Monate später sprach ich von ein bisschen Schwindel und Duselig-Sein, ich war einfach nicht mehr so bei mir, auch das morgendliche Aufstehen wurde schwerer. Mir war bewusst, dass ich in den Wechseljahren bin. Jedes Wehwehchen gleich auf HIV zu schieben, schien mir schon immer zu einfach. Zudem war ich froh, nur diese eine Tablette einnehmen zu müssen. Als der Doktor sagte, dass die Beschwerden eigentlich NICHT mit der Einnahme zusammenhängen würden, schlussfolgerte ich für mich, na, das wird schon wieder. Mit der Zeit wurde ich noch etwas träger und antriebsloser. Zwischendrin meldete sich immer wieder ein Kopfschmerz. Zukunftsängste schlichen sich ein, die ich so von mir nicht kannte, im Kopf ständig diese leichte Duseligkeit... Morgens fühlte ich mich mittlerweile schwer wie Blei. Jeden Morgen. Ein imaginärer Helm um den Kopf. Dass die Gelenke nicht mehr ganz so sind wie mit 35, klar, aber so eingerostet? Ich wunderte mich über die Fitness meiner Eltern und sagte mir: reiß dich zusammen, mach Yoga, Mädchen, Du bist im Wechsel! Oder belastete mich das mehr als gedacht? Ich fand keine Antwort, verstand mich selbst nicht mehr. Ich zweifelte ständig an mir und machte mir immer Sorgen über Dinge, die noch gar nicht anstanden. Ich suchte nach Gründen, konnte aber zeitgleich gar nicht so weit denken, weil mir jegliche Konzentration gefehlt hat.

Mein Partner fragte oft, was denn los wäre. Ich sei so pessimistisch, sähe in Allem nur das Schlechte! So kenne er mich gar nicht. Mir fiel nichts ein. Die Leere kann man nur selber spüren. Bei meinem letzten Arztbesuch, nach fast zwei Jahren, vielen Kopfschmerzattacken, fortwährendem Schwindel, schwerer Knochen, fragte ich erneut nach, ob es nicht DOCH einen Zusammenhang mit dem Medikament geben könnte. Häufig auftretende, wirre Träume in der letzten Zeit brachten mich dazu. Dieses Mal sprang mein Arzt zu meiner Überraschung sofort an und teilte mir mit, dass ich nicht alleine mit diesen Symptomen dastünde. Wir stellten die Therapie sofort um.

Ich bekam also ein anderes Kombipräparat. Und ich kann gerade mein Glück kaum fassen. Die Dunstglocke über meinem Gemüt ist innerhalb der ersten Woche abgezogen. ICH bin wieder ICH geworden. Dass ich sooo ab von allem Weltlichen war, habe ich überhaupt nicht gemerkt. Und vor allem habe ich es ja selber nicht artikulieren können! Ich habe sicher an mancher Stelle gelacht, weil ich eben gerne lache, aber ich habe es gar nicht richtig innerlich gespürt. So wie es jetzt im Moment gerade ist, kann ich befreit von echter Lebensqualität sprechen (Anmerkung CH: Seit 1,5 Jahren unverändert guter AZ).

Fall 2. Manager, MSM, 45 Jahre – Ein innerer Stromschlag

Ich hatte schon seit geraumer Zeit ein Gefühl der Antriebslosigkeit und Anspannung gehabt – und es auf meine derzeitige berufliche Situation zurückgeführt. Eines Montags saß ich unter höchster Anspannung an meinem Schreibtisch und fühlte eine extreme Verzweiflung und ein Gefühl, dass ich nur mit innerer „Elektrizität“ beschreiben kann. Die Wahrnehmung war so intensiv, dass ich beschloss, ärztliche Hilfe zu suchen. Hierbei dachte ich vor allem an psychiatrische Hilfe. Es war vollkommen klar, dass ich die Situation nicht selber mehr kontrollieren konnte. Am Donnerstag haben wir dann kurzfristig die Medikation gewechselt. Bereits 3 Tage später hatte ich das Gefühl, dass meine Energie und Entschlossenheit in mein Leben zurückgekommen ist und ich konnte beruflich erheblich wieder an Fahrt gewinnen. Dieses Gefühl hat insgesamt seitdem (Anm.CH: über ein halbes Jahr) angehalten. Ich habe bei den beschriebenen Symptomen nie an meine Medikation gedacht. Aber der Wechsel in meinem Leben nach der Umstellung ist erstaunlich.

Es war ein bisschen beunruhigend. Dolutegravir war gerade der Renner in unserer Praxis. Hochpotent. Exzellent verträglich. Die Zukunft der HIV-Therapie. Ich versuchte mich an eigene Fälle zu erinnern. Waren da nicht doch ein paar Klagen gewesen, über Schlaflosigkeit, Benommenheit, Depressionen? Beschwerden, die ich als Koinzidenz abgetan hatte? Vor der Rückreise aus Boston, am Flughafen, traf ich Christoph Wyen aus Köln. Ob ich das Amsterdamer Poster gesehen hätte und ob mir das nicht auch bekannt vorkäme? In fünf Minuten wurden wir uns einig. Wir mussten in die Akten schauen. Und schnell sein. Zurück in Deutschland, gingen ein paar Wochenenden ins Land, dann hatten wir einen Überblick. Von 985 Patienten hatten 5,6% Dolutegravir im ersten Jahr aufgrund neuropsychiatrischer Nebenwirkungen (neuropsychiatric adverse events, NPAE) abgebrochen. Weniger als in Amsterdam, aber deutlich mehr als in den Zulassungsstudien. Vor allem Frauen und Ältere, beide in Zulassungsstudien chronisch unterrepräsentiert, waren häufiger betroffen. Unser Artikel in HIV Medicine2 wurde binnen weniger Monate eines der meistzitierten Paper meines Berufslebens. Ich bekam Emails aus Belo Horizonte und der Mongolei. Seitdem sind die NPAE in meinem Fokus, und ich möchte hier den Wissensstand zusammenfassen. Zur Sicherheit lieber nochmal vorweg: INSTI (Integraseinhibitoren) sind noch immer die Renner in unserer Praxis. Sie sind immer noch hochpotent und exzellent verträglich. Letzteres aber eben nicht immer für alle Patienten. Seit einiger Zeit bitte ich Patienten aufzuschreiben, wie sie die Unverträglichkeit erlebt haben (siehe Kästen).

Was sind NPAE?

NPAE unter INSTI können sehr unspezifisch sein. Es sind nicht nur Schlafstörungen. Manchmal ist es nur ein „nebeliges“ Gefühl, mal ein Gefühl der Reizbarkeit und irgendwie „unter Strom zu stehen“. Manches geht nach ein paar Wochen weg, anderes ist schwer abzugrenzen von psychiatrischen Diagnosen oder auch nur einem psychischen Tief. NPAE sind nicht definiert. Viele Patienten haben sie – wie auch immer noch viele Ärzte – nicht auf dem Schirm. Es ist daher kein Wunder, dass die Inzidenzraten stark schwanken. Im Mittel liegen die Abbruchraten bei 3,5%.3 Man kann davon ausgehen, dass die „wahre“ Inzidenz deutlich höher ist – die Kohorten beschränkten sich auf NPAE, die so sehr störten, dass ein Absetzen nötig wurde. Mit wachsendem Wissen werden die
beobachteten Raten wahrscheinlich zunehmen.

Alltag versus Studie

In sieben randomisierten klinischen Studien (RCT) mit 2.117 therapienaiven Patienten lag die NPAE-bedingte Abbruchrate für Dolutegravir deutlich unter 1%.3 Nun sind Studienpatienten nicht repräsentativ. Beschränkter Zugang zur Therapie, aber auch andere Motive (der Ärzte!) können dazu führen, dass leichte Nebenwirkungen erst einmal toleriert werden. Die Hürde, einen Patienten nebenwirkungsbedingt aus einer klinischen Studie heraus zu nehmen, ist hoch. Ein solcher Abbruch ist für alle Beteiligten enttäuschend, aufwändig, er verursacht viele Rückfragen. Ein Wechsel der ART in der täglichen Routine ist dagegen schnell veranlasst. Und siehe da: NPAE, die nicht zu einem Abbruch führen, wurden durchaus häufig in den RCT gesehen. In SPRING-2 und SINGLE betrug die Rate der Schlafstörungen 5% und 23%, die von Schwindel 6% bzw. 9%.4

In RCT mit vorbehandelten Patienten waren die Abbrüche häufiger. In vier offen randomisierten Phase III-Studien mit 1.202 Patienten brachen 29 (2,8%) Dolutegravir aufgrund von NPAE ab.3 Nun ist bei offen-randomisierten Studien Vorsicht angebracht. Der Wechsel auf ein neues Regime, weg von einer erfolgreichen Therapie (und das Wissen darum), birgt immer ein gewisses Risiko für neue Nebenwirkungen. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Abbruchraten in den Switch-Studien den Erfahrungen in der Routine schon näherkommen.

Wären die beiden Patienten (siehe Kästen) aus RCT als „Abbrecher“ ausgeschieden? Ich glaube nicht. Bei der ersten war meine Leine ziemlich lang, sie hätte locker 96 Wochen „geschafft“, beim zweiten hätte ich in Unkenntnis um die NPAE vermutlich auch erstmal andere Dinge probiert.

Risikofaktoren und Veranlagung

In unserer Kohorte war die Inzidenz bei älteren und bei weiblichen Patienten erhöht.2 Dies wurde auch in einigen anderen Kohorten beobachtet.2 ASTRA, eine nur an Frauen durchgeführte RCT, fand allerdings keine höheren Raten.5 Dass Frauen und Ältere möglicherweise vermehrt betroffen sind, könnte für ein pharmakokinetisches Problem sprechen. Gerade bei älteren Patienten können eine geringere renale und hepatische Clearance zu einem Anstieg lipidlöslicher Arzneimittel führen.

Keine Belege gibt es bislang dafür, dass das Risiko bei psychiatrischer Komorbidität erhöht ist. In einer Untersuchung von 861 Hamburger Patienten fanden wir bei vorbestehenden Depressionen oder anderen neuropsychiatrischen Diagnosen keine erhöhten Abbruchraten.6 Der oft vorgebrachte Einwand, HIV-Patienten hätten eben allgemein eine hohe Rate neuropsychiatrischer Erkrankungen7, zählt nicht! Unklar bleibt auch, ob es eine genetische Veranlagung gibt. Bislang fanden zwei Querschnittstudien (beide mit methodischen Mängeln) bei bestimmten Genpolymorphismen eine leicht erhöhte Häufigkeit ausgewählter NPAE.8,9

Höhere Exposition?

Bei Patienten mit bestimmten genetischen Polymorphismen sind die Dolutegravir-Plasmakonzentrationen erhöht.10-12 Aber ist diese höhere Exposition wirklich mit NPAE assoziiert? Drei Studien aus Japan, Italien und Frankreich lieferten erste Hinweise.8,9,13 Unsere eigene retrospektive Analyse ergab allerdings keinen Zusammenhang. Einige Patienten mit sehr hohen Spiegeln hatten keinerlei Probleme, dagegen waren die Spiegel bei einigen Abbrechern mit ausgeprägter Symptomatik recht niedrig.6 Von anderen Autoren wurde ein solcher Zusammenhang ebenfalls bezweifelt12, und auch bei doppelter Dosis im Salvage-Bereich wurden bislang keine höheren NPAE-Raten festgestellt.

Komedikation?

Aktuell von der CROI

Auch auf der CROI 2019 in Seattle war die Neurotoxität der INSTI ein großes Thema, es gab sogar eine eigene Session dazu. Die vorgestellten Arbeiten kamen dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen:

# 430 (Bade AN et al.). Im Tierversuch (Mäuse) wurden hohe Spiegel von Dolutegravir im Gehirn gemessen, sowohl bei erwachsenen als auch fetalen Hirnen, dadurch oxidativer Stress möglich. Eine Erklärung für Neuralrohrdefekte, auch für NPAE?

# 122 (Vera J et al.). Explorative Studie an 22 asymptomatischen Patienten, die von Efavirenz auf Rilpivirin oder von Raltegravir auf Dolutegravir wechselten. Umfangreiche Tests sowie funktionelle MRTs. Kein Patient hatte NPAE. Veränderungen in den fMRTs beim NNRTI-Wechsel waren deutlich, allerdings auch beim INSTI-Wechsel sichtbar, keine Korrelation mit kognitiven Tests – sehr kontroverse Diskussion, was diese Änderungen eigentlich bedeuten.

# 437 (Ma Q et al.). Neurokognitive Performance-Tests (1999-2018) bei 956 US-Patienten unter ART: Schlechter bei Polypharmazie (wenig überraschend: Anxiolytika, Neuroleptika), aber auch mit PIs, nicht mit INSTIs. Etwas wirre Auswertung, Tests über so viele Jahre, Verzerrung?

# 440 (Chan P et al.). 256 junge, männliche Thai-Patienten wechselten von anderen ARVs (82% Efavirenz) zu Dolutegravir. Neuropsychiatrische Screenings blieben ohne Veränderung, allerdings hatte kein einziger Patient Dolutegravir wegen NPAE abgebrochen. Leichte Verschlechterung im PEQ (Patient Health Questionnaire) durch somatische Symptome (Schlafstörungen).

# 441 (Li Y et al.). 270 Patienten in der amerikanischen MACS-Kohorte zeigten keine Veränderung der Depressions-Scores und neuropsychologischer Tests nach Absetzen von Efavirenz. Frage: Was ist die Aussagekraft solcher Tests, wenn man nicht mal einen Effekt bei Efavirenz findet?

# 442 (O’Halloran JA et al.). Querschnittsstudie an 202 US-Patienten unter ART. Patienten mit INSTIs (n=99, 40% RAL, 30% DOL) hatten mehr Lern- und Gedächtnisstörungen, es bestanden in einigen Arealen sogar kleinere Hirnvolumen in MRTs, verglichen mit Patienten unter anderen ART-Regimen – hups, Verzerrung? Diese dramatischen Veränderungen mag man kaum glauben.

# 443 (Moris-Peris B et al.). Bei 12 handverlesenen Patienten, die von Raltegravir auf Dolutegravir wechselten (und es vertrugen), zeigten sich in aufwändigen neuropsychiatrischen Funktionsuntersuchungen und CSF-Biomarkern keine Änderungen.

In unserer Untersuchung, aber auch in einigen anderen Kohorten, stieg die Abbruchrate, sofern gleichzeitig Abacavir neu begonnen wurde.2,3 Obwohl eher unwahrscheinlich, können Interaktionen nicht ganz ausgeschlossen werden.14,15 Eindeutige Daten gibt es für Atazanavir und Cobicistat, die über unterschiedliche Mechanismen die Dolutegravir-Spiegel zum Teil deutlich erhöhen.16,17 Ein Zusammenhang mit begleitenden Therapien und Dolutegravir-bedingten Abbrüchen konnte bislang freilich nicht gezeigt werden. Letztlich können auch Abacavir selbst, aber auch Medikamente wie Zidovudin ZNS-Nebenwirkungen einschließlich Psychosen verursachen.18

Zwischen Wachsamkeit und Suggestion

Bei Menschen mit HIV sind psychiatrische Symptome und Störungen häufiger als in der Allgemeinbevölkerung.7 Jeder weiß: HIV allein kann psychiatrische Erkrankungen verschlimmern. Niemand kann das alles immer auseinander halten. NPAE lassen sich schwer objektivieren oder beweisen. Die Wahrnehmung des Problems ist selbst innerhalb eines Zentrums sehr unterschiedlich. Kliniker müssen wachsam sein, dürfen die Dinge aber auch nicht überbewerten. Nicht alles, was unter INSTIs auftritt, ist eine Nebenwirkung. Selbst eine Besserung unter dem Folgeregime beweist erstmal nichts. Nozebo-Effekt und die ärztliche Suggestion sind nicht zu unterschätzen. Auch in den beiden Fallbeispielen kann man sie nicht wegdiskutieren. Und dennoch: wenn ich einen INSTI-Patienten mit neuen oder zunehmenden psychischen Problemen vor mir sitzen habe, setze ich, wenn möglich, die ART um. Erst wenn sich innerhalb weniger Wochen nichts ändert, schauen wir weiter.

Mögliche Mechanismen

Da die retrovirale Integrase einzigartig ist, sollte ihre Hemmung normalerweise menschliche Zellen nicht stören. INSTI hemmen weder die humane DNA-Polymerase signifikant noch diverse Enzym- oder Transporteraktivitäten. Über die Mechanismen der NPAE kann deshalb nur spekuliert werden. Für Efavirenz wurden diverse Mechanismen diskutiert, sie reichen von veränderter Kalzium-Homöostase, einer Abnahme der Kreatinkinase und/oder Zunahme proinflammatorischer Zytokine im Gehirn bis hin zu mitochondrialer Toxizität und Beteiligung des Cannabinoidsystems.19 In einer kleinen Pilotstudie zeigten fast alle Patienten mit Efavirenz-assoziierten NPAE nach dem Wechsel zu Dolutegravir eine Verbesserung – ein Argument gegen ähnliche pathogene Signalwege.20

Klassen-Nebenwirkung der INSTI?

Abb. 1  INSTI-Abbrüche aufgrund von NPAE innerhalb der ersten 24 Monate (alle anderen Ereignisse zensiert)
Abb. 1 INSTI-Abbrüche aufgrund von NPAE innerhalb der ersten 24 Monate (alle anderen Ereignisse zensiert)

Nach unserer Erfahrung hatten auch ein paar Patienten Elvitegravir und Raltegravir aufgrund von NPAE abgebrochen, wenngleich seltener als Dolutegravir.2 Kohortenstudien aus Frankreich, Spanien und Kanada kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Im Vergleich zu Elvitegravir und Raltegravir zeigt Dolutegravir eine geringere pharmakokinetische Variabilität, eine langsamere Dissoziation von Integrase-DNA-Komplexen und eine nahezu freie Passage durch die Blut-Hirn-Schranke. Ob die höhere ZNS-Exposition für die höheren Abbruchraten verantwortlich ist, bleibt unklar. NPAE werden auf jeden Fall auch unter anderen INSTI gesehen. Ein Jahr nach der Zulassung wurde für Raltegravir eine kleine Fallserie berichtet, in der sich Depressionen verschlimmerten.21 Das französische Pharmakovigilanz-Netzwerk fand einen signifikanten Zusammenhang zwischen Raltegravir-Exposition und Depression22, eine andere Studie einen solchen zwischen hohen Raltegravir-Konzentrationen und Schlaflosigkeit.23 In einer großen laufenden RCT bei therapienaiven Patienten ergab sich bislang jedoch kein Sicherheitssignal unter der höheren Dosis von 1.200 mg.24 Bictegravir, der neue INSTI von Gilead, zeigte in drei großen doppelblind-randomisierten RCT ähnliche NPAE-Raten wie Dolutegravir.3 Daten aus dem klinischen Alltag fehlen noch.

Nächste Schritte

Wir brauchen mehr Daten aus Kohortenstudien, auch für Bictegravir und bald auch für Cabotegravir. Randomisierte klinische Studien sind nur die halbe Wahrheit! Patienten, die Dolutegravir oder andere INSTI wegen NPAE abgesetzt haben, sollten genauer beschrieben werden. Welche begleitenden Therapien und Diagnosen standen im Raum, was passierte bei einem Wechsel auf andere Regime? Analysen der Schlafarchitektur und neuropsychologisch validierte Tests sind notwendig, um subklinische kognitive Veränderungen auch bei asymptomatischen Patienten zu erkennen. Neuropharmakologen müssen an den Tisch, pharmakogenetische Tests sollten evaluiert werden.

Fazit

Man darf nicht dramatisieren. Dolutegravir ist nicht das neue Efavirenz. Die Abbruchraten liegen bei 3-5%. Die
Nebenwirkungen sind moderat, oft nur subtil spürbar. Sie sind, zumindest aus klinischer Sicht, rasch und vollständig reversibel. Und dennoch bleiben sie relevant. Vieles bleibt offen. Die Firmen halten sich sehr zurück. Klar, niemand ist begeistert, wenn das „Core Agent“ ein paar Kratzer bekommt.

Noch einmal: INSTI sind ein unverzichtbarer Bestandteil der HIV-Therapie. Aber kein Medikament ist ohne Nebenwirkungen. Am Schluss kommt gerne der Einwand, wir jammerten auf hohem Niveau. Mag sein. Was sind schon ein paar Prozent moderater, reversibler ZNS-Probleme? Dazu nur soviel: Patienten sind anspruchsvoller als früher, völlig zu Recht. Und wenn wir sie die nächsten Jahrzehnte mit INSTI behandeln wollen, wüsste man schon gerne mehr über die Mechanismen solcher Nebenwirkungen, auch wenn sie mild und reversibel sind. ZNS-Nebenwirkungen sind delikat. Kritische Fragen müssen erlaubt sein. Und, ach ja: von Gewichtszunahmen haben wir noch gar nicht geredet. Dazu vielleicht später noch mal mehr.


1 Van den Berk G, Oryszczyn J, Blok W, et al. Unexpectedly high rate of intolerance for dolutegravir in real life Setting. Abstract 948, Conference on Retroviruses and Opportunistic Infections, Boston, Massachussetts, February 22-25, 2016.

2 Hoffmann C, Welz T, Sabranski M, et al. Higher rates of neuropsychiatric adverse events leading to dolutegravir discontinuation in women and older patients. HIV Medicine 2017, 18:56-63.

3 Hoffmann C, Llibre J. Neuropsychiatric adverse events with dolutegravir and other integrase strand transfer inhibitors. AIDS Reviews 2019 (in press).

4 Cottrell ML, Hadzic T, Kashuba AD. Clinical pharmacokinetic, pharmacodynamic and drug-interaction profile of the integrase inhibitor dolutegravir. Clin Pharmacokinet 2013, 52: 981-994.

5 Orrell C, Hagins DP, Belonosova E, et al. Fixed-dose combination dolutegravir, abacavir, and lamivudine versus ritonavir-boosted atazanavir plus tenofovir disoproxil fumarate and emtricitabine in previously untreated women with HIV-1 infection (ARIA): week 48 results from a randomised, open-label, non-inferiority, phase 3b study. Lancet HIV 2017, 4:e536-e546.

6 Hoffmann C, et al. CNS Toxicity of Dolutegravir Is Not Associated with Psychiatric Conditions or Higher Plasma Exposure. Abstract 424, 25th CROI 2018, Boston, Massachusetts, March 4-7.

7 Fettiplace A, Stainsby C, Winston A, et al. Psychiatric symptoms in patients receiving dolutegravir. J AIDS 2017, 74: 423-431.

8 Yagura H, Watanabe D, Kushida H, et al. Impact of UGT1A1 gene polymorphisms on plasma dolutegravir trough concentrations and neuropsychiatric adverse events in Japanese individuals infected with HIV-1. BMC Infect Dis 2017;17:622.

9 Borghetti A, Calcagno A, Lombardi F, et al. SLC22A2 variants and dolutegravir levels correlate with psychiatric symptoms in persons with HIV. J Antimicrob Chemother. 2018 Dec 14.

10 Chen S, St Jean P, Borland J, et al. Evaluation of the effect of UGT1A1 polymorphisms on dolutegravir pharmacokinetics. Pharmacogenomics 2014,15:9-16.

11 Elliot ER, Neary M, Else L, et al. NR1I2 RS2472677 and ABCG2 RS2231142 influence dolutegravir concentrations in plasma. Abstract 467, 25th CROI 2018, Boston, Massachussetts.

12 Elliot ER, Wang X, Singh S, et al. Increased dolutegravir peak concentrations in people living with HIV aged 60 and over and analysis of sleep quality and cognition. Clin Infect Dis 2018 May 16

13 Menard A, Montagnac C, Solas C, et al. Neuropsychiatric adverse effects on dolutegravir: an emerging concern in Europe. AIDS 2017, 31:1201-1203.

14 De Boer MG, Brinkman K. Recent observations on intolerance of dolutegravir: differential causes and consequences. AIDS 2017, 31: 868-869.

15 Cattaneo D, Rizzardini G, Gervasoni C. Intolerance of dolutegravir-containing combination antiretroviral therapy: not just a pharmacokinetic drug interaction. AIDS 2017, 31: 867-868.

16 Cattaneo D, Minisci D, Cozzi V, et al. Dolutegravir plasma concentrations according to companion antiretroviral drug: unwanted drug interaction or desirable boosting effect? Antivir Ther 2017, 22:353-356.

17 Gervasoni C, Riva A, Cozzi V, et al. Effects of ritonavir and cobicistat on dolutegravir exposure: when the booster can make the difference. J Antimicrob Chemother 2017, 72:1842-1844.

18 Abers MS, Shandera WX, Kass JS. Neurological and psychiatric adverse effects of antiretroviral drugs. CNS Drugs 2014, 28:131-45.

19 Decloedt EH, Maartens G. Neuronal toxicity of efavirenz: a systematic review. Expert Opin Drug Saf 2013, 12:841-6.

20 Bracchi M, Pagani N, Clarke A et al. Multicentre open-label pilot study of switching from efavirenz to dolutegravir for central nervous system (CNS) toxicity. J Int AIDS Soc 2016, 19 (Suppl 7): 154-5.

21 Harris M, Larsen G, Montaner JS. Exacerbation of depression associated with starting raltegravir: a report of four cases. AIDS 2008, 22:1890-2

22 Lafay-Chebassier C, Chavant F, Favreliere S, Pizzoglio V, Perault-Pochat MC, French Association of Regional Pharmacovigilance Centers. Drug-induced depression: a case/non case study in the French pharmacovigilance database. Therapie 2015, 70:425-432.

23 Eiden C, Peyriere H, Peytavin G, Reynes J. Severe insomnia related to high concentrations of raltegravir. AIDS. 2011, 25:725-7.

24 Cahn P, Kaplan R, Sax PE, et al. Raltegravir 1200 mg once daily versus raltegravir 400 mg twice daily, with tenofovir disoproxil fumarate and emtricitabine, for previously untreated HIV-1 infection: a randomised, double-blind, parallel-group, phase 3, non-inferiority trial. Lancet HIV 2017, 4:e486-e494.

25 Molina JM, Ward D, Brar I, et al. Switching to fixed-dose bictegravir, emtricitabine, and tenofovir alafenamide from dolutegravir plus abacavir and lamivudine in virologically suppressed adults with HIV-1: 48 week results of a randomised, double-blind, multicentre, active-controlled, phase 3, non-inferiority trial. Lancet HIV 2018 Jun 18.

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