17th European Aids Conference, 6.-9. November 2019, Basel
Gewichtszunahme – die Unsicherheit bleibt
E-Poster
Die EACS hat zum ersten Mal auf Papier-Poster verzichtet. Herkömmliche Posterausstellun-gen brauchen Platz und verbrau-chen Papier. Aber sie bieten die Möglichkeit, bei einem Spa-ziergang einen Blick auf das ganze Spektrum der Forschung zu werfen und in den Gängen Kollegen zu treffen. E-Poster haben vermutlich viele andere Vorteile.
Der Europäische Aids Kongress war gut besucht. Nicht nur aus Westeuropa, auch aus den osteuropäischen Ländern waren viele Teilnehmer angereist. 16 Sitzungen wurden ins Russische übersetzt. Ein Service, der möglicherweise darauf zurückzuführen ist, dass Osteuropa, insbesondere Russland, bei den Anstrengungen, das WHO-Ziel 90-90-90 zu erreichen, noch hinter dem restlichen Europa hinterherhinkt.
Wie auf jedem EACS-Kongress wurden auch diesmal die aktualisierten Leitlinien präsentiert. Aus dem einst schmalen Heftchen ist mittlerweile ein dickes Büchlein mit 260 Seiten geworden, in dem die EACS zu allen Aspekten der HIV-Infektion Stellung nimmt von PrEP über Begleiterkrankungen bis hin zu Reisen plus zahlreiche nützliche Tabellen z.B. Interaktionen und Dosierungen.
Leitlinien
Die Liste der bevorzugten Firstline-Regime ist lang, was der europäischen Vielfalt Rechnung tragen soll. Erneut werden Integrasehemmer (ohne Booster und mit hoher Resistenzbarriere, sprich Bictegravir und Dolutegravir) als bevorzugte dritte Substanz empfohlen in Kombination mit 2 NRTI oder als duales Regime Dolutegravir/3TC mit nur einem NRTI. Das duale Regime wird nach den guten 96-Wochen-Ergebnissen der GEMINI-Studien erstmals als empfohlene Firstline-Option genannt – bei Patienten ohne HBsAg, mit über 200 CD4-Zellen/µl und mit weniger als 500.000 Kopien/ml. Bei Kinderwunsch und bis zur SSW8 rät die EACS anders als die WHO noch von Dolutegravir ab. Neu in der Riege der empfohlenen dritten Substanzen ist auch das NNRTI Doravirin in Kombination mit 2 NRTI.
Backbone
Bei den Backbones gibt es keine großen Änderungen, aber neben den bekannten Einschränkungen/Anmerkungen gibt es einige neue Aspekte in den Fußnoten. Bei TAF und Dolutegravir findet sich ein Hinweis auf Gewichtszunahme. Und die EACS ermutigt (sofern adäquat) aus Kostengründen vermehrt Generika einzusetzen, denn Studien hätten einen vergleichbaren virologischen outcome bei der Einnahme von einer und zwei Tabletten gezeigt. TAF kann, muss aber nicht eingesetzt werden, solange Knochen und Nieren nicht in Gefahr sind.
Virologische Stabilität
Nur ein NRTI statt der gewohnten zwei NRTI als backbone macht vielen Sorge im Hinblick auf einen viralen Durchbruch mit Resistenzentwicklung. Bislang gibt es dafür in den randomisierten Zulassungsstudien keinen Hinweis. Im Lauf der 96 Wochen von GEMINI waren nicht einmal „very low level“ Virämien unter 2DR häufiger als unter 3DR (Abb. 1) (Underwood M et al.; PS8/2). Und was ist bei einer M185V/I Lamuvidin-Mutation? Die offene Pilot-Studie ART-PRO 41 liefert hier ein erstes positives Signal. Vorbehandelte Patienten (n=20) mit einer M184V/I in der Vorgeschichte (>13 Jahre, 6 Regime, nie Integrasehemmer, 12 Monate supprimiert) aber ohne M184V/I in der provialen DNA blieben auch nach der Umstellung auf Dolutegravir/3TC über 48 Wochen weiterhin supprimiert (De Miguel Buckley R et al., PS7/5). In der Schweizer Studie SIMPLHIV, in der eine M184V/I beim Switch erlaubt war, wurden 188 Patienten ebenfalls erfolgreich umgestellt, wobei aber kein Patient diese Mutation aufwies (Sculier D et al., PS3/8).
Diesen prospektiven Untersuchungen widerspricht eine retrospektive Analyse der spanischen VACH-Kohorte. Hier war die Umstellung auf Dolutegravir/3TC oder Dolutegravir/Rilpivirin (n=617) mit einem doppelt so hohen Risiko für ein Therapieversagen verbunden wie der Switch auf eine Tripletherapie (n=5.047). Nebenwirkungen waren in beiden Gruppen gleich, die Gruppen allerdings nicht in allen Aspekten vergleichbar (Teira R et al., PS8/5).
Tripletherapie
Abb. 2 Bictegravir/TAF/FTC im deutschen Praxisalltag. Anteil der Patienten mit Viruslast <50 Kopien/m nach sechs Monaten
Esser et al., 2019
Mit der Tripletherapie stellt sich die Frage nach der M184V/I nicht. In den BIC/TAF/FTC-Zulassungsstudien an therapienaiven Patienten wurde in 144 Wochen keine Bictegravir-Resistenz beobachtet (Orkin C et al., PE3/14). In fünf Switch-Studien waren nach Umstellung auf BIC/TAF/FTC auch die 10% der Patienten, bei denen eine M184V/I nachträglich gefunden wurde, langfristig supprimiert (Andreatta K et al., PE13/21). Die 3erKombination funktioniert auch im Praxisalltag gut. In der deutschen Untersuchung BICStaR (n=223) war die virologische Wirksamkeit und Verträglichkeit sehr gut. Nach sechs Monaten nahmen 96% der Teilnehmer weiterhin BIC/TAF/TFC (Abb. 2) (Esser S et al., PS2/16).
Gewichtszunahme
Zur Gewichtszunahme gab es eine eigene Session, bei der selbst der Overflow-Raum überfüllt war. Viele Arbeiten bestätigen, dass Integrasehemmer und TAF zur Gewichtszunahme führen können. Die Ursachen sind unklar und über mögliche Folgeerkrankungen der Fettleibigkeit macht man sich große Sorgen.
In der afrikanischen ADVANCE-Studie (TAF/FTC+DTG vs. TDF/FTC+DTG vs. TDF/FTC/EFV hatten die Teilnehmer nach 48 Wochen unter Dolutegravir und insbesondere unter der Kombination Dolutegravir plus TAF deutlich zugenommen. Dieser Trend setzte sich auch im zweiten Jahr bei Frauen und bei Männern fort: Im Vergleich zur TDF/FTC/EFV nehmen Patienten unter Dolutegravir etwa doppelt so viel und unter Dolutegravir plus TAF viermal so viel zu (Abb. 3).
Abb. 3 ADVANCE-Studie. Gewichtsverlauf über 96 Wochen
McCann K et al., EACS 2019
Eine Zunahme von mehr als 10% ihres Körpergewichts fand sich bei Frauen und Männern
- unter TAF/FTC/DTG 51% und 42%
- unter TDF/TFTC/DTG 32%und 27%
- unter TDF/FTC/EFV 23% und 18% (McCann K et al, 3/3).
Andere Studien an überwiegend weißen Männern zeigten einen ähnlichen, aber deutlich geringer ausgeprägten Effekt. In den zwei randomisierten Gilead-Studien 1489 und 1490 hatten die 1.274 therapie-naiven Patienten nach 144 Wochen im Schnitt unter BIC/TAF/FTC rund 4 kg, unter DTG/TAF/FTC 5 kg und unter DTG/ABC/3TC 3,5 kg zugenommen (Abb. 4). Mehr als 10% ihres Körpergewichts legten 25-32% der Patienten zu (Orkin C et al., PE3/14). In der holländischen Kohorte AGEhIV mit knapp 600 meist weißen >45jährigen PLWH nahmen Patienten nach Umstellung auf einen Integrasehemmer zwar mehr zu als Patienten ohne Switch, aber insgesamt seltener und weniger als in ADVANCE. TAF wurde in diesem Kollektiv nur selten eingesetzt (Verboeket S et al., PS3/6). Ein ähnliches Bild liefert die Schweizer Kohorte, in der rund 2.100 überwiegend weiße MSM auf Dolutegravir umgestellt wurden. Auch hier nahmen die Patienten in den 18 Monaten nach dem Switch signifikant mehr zu als in den 18 Monaten vor der Umstellung – allerdings in geringem Maß (Mugglin C et al., PS 3/9).
Abb. 4 Gewichtsverlauf unter BIC/TAF/TFC vs. DOL/TAF/FTC vs. DOL/ABC/3TC
Orkin C et al., EACS 2019
Mögliche Ursachen
Abb. 5 Was führt zur Gewichtszu/abnahme?
Nach Andrew Hill EACS 2019
Über
die Ursachen der Gewichtszunahme wird viel spekuliert. Einen guten
Überblick zum Thema gab Andrew Hill aus Cambridge. Ein „Zurück
zur Gesundheit“ sei die Gewichtszunahme lediglich bei
fortgeschrittener HIV-Infektion. Das Wegfallen eines
„Gewichtsreduzierenden“ Effektes könne man bei TDF und Efavirenz
diskutieren ebenso eine Prädisposition bei Schwarzen und Frauen. Die
Daten belegten jedoch auch einen Substanz-spezifischen Effekt von
Integrasehemmern und TAF (Abb. 3). Als mögliche Mechanismen wurden
eine Modulation der Appetit-assoziierten
Melanocortin-Rezeptoren
sowie ein direkter Einfluss auf die Fettzellen diskutiert (Abb. 5)
(Hill A, ML1; Gorwood J et al., PS3/4).
Was tun? TDF, 2DR oder NNRTI?
Bislang
gibt es keine offiziellen Empfehlungen, wie man mit dem Problem
Gewichtszunahme unter ART umgehen soll. Die WHO hat als einzige
Organisation TAF nicht in der Liste der Firstline-NRTIs. Hierzulande
wird die Nutzen-Risiko-Abwägung empfohlen. Adipositas ist ein
Risikofaktor für viele Erkrankungen, z.B. metabolisches Syndrom,
Diabetes, Krebs, Alzheimer usw., während TDF mit Nieren- und
Knochenproblemen und Abacavir mit kardiovaskulären Erkrankungen
assoziiert wird. Ein Teilnehmer sprach es dann aus: „Müssen wir
jetzt von Triple auf Dual umstellen?“ Die Antwort blieb das Podium
schuldig, aber Chloe Orkin, London, brachte bei einer Pressekonferenz
Doravirin/TDF/3TC ins Spiel. Diese Kombination hatte in drei
randomisierten Studien an therapienaiven Patienten nicht zu einer
übermäßigen Gewichtszunahme geführt. Nach 96 Wochen hatten
Patienten unter Doravirin im Schnitt 2,4 kg, unter Darunavir/r 1,8 kg
und unter Efavirenz 1,6 kg zugelegt. 13-17% der Teilnehmer nahmen
mehr als 10% ihres Körpergewichts zu und zwar unter allen drei
Substanzen gleichermaßen (Abb. 6) (Orkin C et al., PS3/2).
Abb. 6 Gewichtszunahme >10 % unter Doravirin/TDF/3TC über 48 und 96 Wochen. Gepoolte Daten aus drei Phase-2/3-Studien
Orkin C et al., EACS 2019
Neu: Kapsid-Inhibitor
Kasuistik: Bictegravir-Resistenz
Eine
schlechte Adhärenz und vorbestehende Mutationen können auch
Substanzen mit hoher Resistenzbarriere zu Fall bringen. In Paris
wurde ein 30jähriger Afroamerikaner 2015 mit TDF/FTC/EVG/c
behandelt. Die Therapie wurde wegen schlechter Adhärenz aufgrund von
gastrointestinalen Nebenwirkungen abgebrochen. Der Resistenztest beim
virologischen Versagen ergab eine M50I+N155h+ M184V. im November
wurde die Behandlung mit BIC/TAF/FTC wieder aufgenommen. Im ersten
und zweiten Monat war die Viruslast auf 32.000 und 2.800 Kopien/ml
abgefallen, aber im dritten Monat dann auf 88.000 angestiegen.
Das
Ergebnis des Resistenztests: M50I+R138K+S147G+N155H.
Mit
DRV/c/TAF/FTC gelang schließlich die virale Suppression (Vanig T et
al., PE13/7).
Der
neuartige Kapsid-Inhibitor GS-6207 hat eine gute antivirale Aktivität
(Abfall Viruslast -1,4 bis 2,2 log10
K/ml), ist gut verträglich (Schmerzen Einstichstelle 41%, Rötung
28%) und hat das Potential eines sechsmonatigen Dosisintervalls.
Natürlich vorkommende Mutationen scheint es nicht zu geben und bei
vorbehandelten Patienten (inkl. PI-Versagen) wurden die in vitro
selektierten GS-6207 Kapsid-Mutationen (L56I, M66I, Q67H, K70N, N74D,
N74S und T107N) nicht gefunden. In den zwei geplanten
Phase-2/3-Studien an therapienaiven wie stark vorbehandelten
Patienten soll
GS-6207 in Kombination mit anderen
antiretroviralen Substanzen zunächst 14 Tage oral und dann alle
sechs Monate subkutan verabreicht werden (Sager J et al., PS13/1;
Daar ES et al., PE3/17; Marcelin AG et al., PE13/15; Callebaut C et
al., PE13/22).
PrEP
Natürlich war die PrEP auch in Basel ein wichtiges Thema. Neue wissenschaftliche Daten gab es von der DISCOVER-Studie, in der TAF/FTC und TDF/FTC verglichen werden. 50% der Teilnehmer haben 96 Wochen erreicht und es zeigt sich das gleiche Bild wie zu Woche 48: Die präventive Wirksamkeit ist vergleichbar, TAF hat jedoch einen weniger ungünstigen Effekt auf Niere und Knochen. TDF in der PrEP führt einer australischen Kohorte zufolge innerhalb von zwei Jahren zu einem Verlust von >3% der Knochendichte. Ähnlich wie bei der ART ist der Verlust im ersten Jahr am größten und stabilisiert sich dann (Carr A et al., 11/5).
Hepatitis
Mit den neuen DAA können fast alle Hepatitis C-Patienten geheilt werden. Wer ist noch nicht behandelt? In der Bonner HIV/HCV-Kohorte wurden schon 95,5% der Patienten therapiert. Von den verbleibenden Patienten hatten einige konkurrierende medizinische Interventionen oder eine akute Hepatitis C. Die Mehrzahl der Unbehandelten jedoch waren aktive Drogengebraucher mit Compliance-Problemen (Rodriguez-Monaco FD et al., PE37/4).