Christian Strobel, München
Muskeldysmorphie – Wenn Sport krank macht
Muskeldysmorphie wurde in den 90er Jahren erstmals beschrieben als „männliches Pendant“ zur Anorexie, bei dem Betroffene sich trotz ausgeprägter Muskulatur und Definiertheit als zu wenig muskulös empfinden. Sie treiben exzessiv und zwanghaft Sport und achten sehr auf eine Ernährung, die dem Muskelzuwachs zuträglich ist. Ähnlichkeiten bestehen zu den stoffungebundenen Süchten aber auch zu den Essstörungen, besonders der Anorexia Nervosa. Betroffene beschäftigen sich überwiegend mit der eigenen Nahrungszufuhr, Sport und Körperlichkeit, was das berufliche und soziale Funktionsniveau bisweilen massiv einschränken kann.
©AdobeStock
Symptome und Warnzeichen
Betroffene
sind im Handeln und in Gedanken stark eingeschränkt und haben
oftmals einen verdeckten, aber hohen Leidensdruck. Ihr Denken und
Handeln zeichnet sich oft durch zwanghafte Eigenschaften wie hoher
Rigidität,
Anspannung und Persistenz aus.
Typische Symptome einer Muskeldysmorphie sind:
- hohe Unzufriedenheit mit dem eigenen Körperbild
- andauernde Beschäftigung mit den als unzureichend trainiert empfundenen Körper(teilen)
- ständiges Gedankenkreisen um Trainingsplan, Diäten und Sport
- Stress und Druck aufgrund der andauernden Beschäftigung mit Sport und Körper
- eine stark verzerrte Selbstwahrnehmung in Bezug auf das eigene Körperbild
- Scham aufgrund des als defizitär empfundenen Körpers
- Einschränkungen im sozialen und beruflichen Bereich
- Einnahme von gesundheitsschädigenden, leistungssteigernden Präparaten (Anabolika/Steroide/Crystal Meth)
Art und Schwere der Symptome variieren und können auch partiell und subklinisch (ohne Erfüllung des Vollbild) auftreten als Komorbidität zu anderen Erkrankungen oder als eigenständiges Syndrom.
Diagnostik
Kriterien einer körperdysmorphen Störung mit Zusatzkodierung Muskeldysmorphie nach DSM-V (Falkai 2015):
A) Übermäßige Beschäftigung mit körperlichen Makeln, die anderen Personen nicht auffällig erscheinen
B) Wiederkehrende Verhaltensweisen, wie ständiges Begutachten des eigenen Körpers im Spiegel, oder mentale Handlungen, z.B. andauernder Vergleich mit anderen
C) In der Folge bedeutsames Leiden oder reduziertes soziales, familiäres oder berufliches Funktionsniveau
D) Die Symptomatik wird nicht besser durch eine Essstörungsdiagnose erklärt Zusatzkodierung der Spezifizierung Muskeldysmorphie:
Bestimme
ob die Person übermäßig beschäftigt ist mit der Vorstellung, dass
ihr Körper zu klein oder nicht ausreichend muskulös gebaut ist.
Diese Zusatzkodierung kann auch genutzt werden, wenn sich die Person
übermäßig mit anderen Körperbereichen beschäftigt,
was
häufig der Fall ist.
Im DSM-V wird Muskeldysmorphie diagnostisch der Gruppe der Zwangsspektrumstörungen zugeordnet. Im ICD-10 befindet sich die Muskeldysmorphie bislang unter den somatoformen Störungen als Unterart der körperdysmorphen Störung ohne Wahn F45.21 oder F22.8 als anhaltende wahnhafte Störung. Aufgrund des Symptombildes ähnelt die Muskeldysmorphie der atypischen Anorexia Nervosa und liegt daher nah an den Essstörungen, hat aber auch Ähnlichkeiten zu stoffungebundenen Süchten (‚Verhaltenssüchten‘). Das Vollbild der Muskeldysmorphie wird anhand eines klassifikatorischen Manuals in zwei Schritten kodiert: Es müssen alle Kriterien einer körperdysmorphen Störung vorliegen sowie das Zusatzkriterium einer Muskeldysmorphie erfüllt sein:
Eine
standardisierte Diagnostik kann neben klinischem Eindruck auch durch
das Muscle Dysmorphic Disorder
Inventory (MDDI) in Selbstauskunft
in deutscher und englischer Sprache erfolgen (Zeeck et al. 2018).
Prävalenz
Genaue Zahlen zur Prävalenz der Muskeldysmorphie in der Gesamtpopulation fehlen. Schätzungen zufolge sind es 1-7% der Gesamtbevölkerung mit bis zu 25-54% in Risikogruppen wie Bodybuildern oder Leistungssportlern (Tod et al. 2016). Auch homosexuelle cisgender Männer sind häufiger davon betroffen (Chaney 2008). Das Durchschnittsalter der Erkrankung liegt bei 19,5 Jahren. Männer sind deutlich häufiger betroffen als Frauen (Tod et al. 2016).
Begünstigende Faktoren
Entlang eines bio-psychosozialen Krankheitsmodells können folgende Faktoren eine Erkrankung begünstigen: Bestimmte neurokognitive Veränderungen (z.B. Defizite im exekutiven Funktionsniveau), Ungleichgewichte im Neurotransmitterhaushalt (Serotonin) und genetische Prädispositionen (z.B. Zwangserkrankungen in der Familie) stellen biologische Risikofaktoren dar. Gesellschaftliche Risikofaktoren sind das Rollenbild des Mannes als unangreifbar und stark, die Verfügbarkeit von Fitnessstudios und Präparaten sowie die Relevanz von Schönheit, Muskulosität und Aussehen (Phillips 2005). Psychologische Risikofaktoren stehen in enger Verbindung mit Selbstwertdefiziten, die eine zentrale Rolle spielen. Der eigene Körper wird als defizitär und unattraktiv betrachtet. Betroffene neigen zur Selbstobjektifizierung und Selbstoptimierung, wodurch sich die Symptomatik weiter verstärkt und den Selbstwert in einem Teufelskreis reduziert. Häufig sind ein hoher Perfektionismus, hohe Sensibilität gegenüber Zurückweisung sowie Mobbing-, Ablehnungs- und Viktimisierungserfahrungen bei Betroffenen gegeben (Wolke und Sapouna 2008), welche die Erkrankung auslösen, bedingen oder aufrechterhalten.
Behandlung
Konkrete
Leitlinien zur Behandlung der Muskeldysmorphie existieren bislang
nicht. Die Behandlung kann sich jedoch an Leitlinien verwandter
Erkrankungen (Körperdysmorphe Störung, Essstörungen,
Zwangsspektrumsstörungen, ‚Verhaltenssüchte‘) orientieren.
Dabei ist wichtig, dass sowohl die körperliche, psychologische und
ernährungstherapeutische Ebene beachtet wird. Interventionen, die
die Einstellung zum eigenen Körper thematisieren und einem
liebevollen Umgang damit fördern, können helfen, den Umgang mit dem
als defizitär
gesehenen Körper zu verbessern. Vorgehensweisen,
die Defizite im Selbstwert aufdecken sowie gesunde und vielfältige
Quellen des Selbstwertes (jenseits der eigenen Körperlichkeit)
stärken können helfen, die Bedeutung der Körperlichkeit für den
Selbstwert zu reduzieren. Um Essverhalten zu normalisieren kann sich
die Behandlung an typischen verhaltenstherapeutischen Interventionen
bei Essstörungen orientieren, die Vermeidung von Lebensmitteln
abbauen und Genuss beim Essen fördern sollen.
Fazit
Muskeldysmorphie ist im praktischen Setting ein oft neues oder wenig beachtetes Krankheitsbild, das jedoch nach aktuellen Studien eine hohe Prävalenz, besonders in Risikogruppen aufweist. Für adäquate Beratung, Behandlung und Weitervermittlung bedarf es weitere Unterstützung der Wissenschaft in Form von diagnostischen Standards, empirischen Evidenzen und Leitlinien.
Literatur
Chaney, Michael P. (2008): Muscle dysmorphia, self-esteem, and loneliness among gay and bisexual men. In: International Journal of Men‘s Health 7 (2), S. 157.
Falkai, Peter (2015): Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen: DSM-5: Hogrefe.
Phillips, Katharine A. (2005): The broken mirror: Understanding and treating body dysmorphic disorder: Oxford University Press, USA.
Tod, David; Edwards, Christian; Cranswick, Ieuan (2016): Muscle dysmorphia: current insights. In: Psychology research and behavior management 9, S. 179.
Wolke, Dieter; Sapouna, Maria (2008): Big men feeling small: Childhood bullying experience, muscle dysmorphia and other mental health problems in bodybuilders. In: Psychology of Sport and Exercise 9 (5), S. 595-604.
Zeeck, Almut; Welter, Viola; Alatas, Hasan; Hildebrandt, Tom; Lahmann, Claas; Hartmann, Armin (2018): Muscle Dysmorphic Disorder Inventory (MDDI): Validation of a German version with a focus on gender. In: PloS one 13 (11).