Choosing Wisely: Kann weniger mehr sein?
16. September 2022
Auch in Deutschland kennen wir sie: Die Debatten über Mangelversorgung im Gesundheitswesen. Es fehlt an Personal, es fehlt an erreichbaren wohnortnahen Versorgungsstrukturen und es fehlt natürlich insbesondere an schnellen Facharztterminen. Was bei all dieser Mangelkultur bisher außer Acht gelassen wurde? Es gibt eine ebenso weit verbreitete Überversorgung von Patient*innen. Fehler werden dabei auf beiden Seiten des Konsultationstisches gemacht – und das kann Folgen haben. Die Initiative „Klug entscheiden“ möchte darauf aufmerksam machen und bietet praxistaugliche Lösungen an.
Chronische Krankheitsverläufe oder auch akut lebensverändernde Erkrankungen, wie Tumoren und Infektionskrankheiten (z. B. chronische Virushepatitiden oder HIV), bergen ein hohes Potenzial für Ängste auf der Patient*innenseite. Auf der anderen Seite sehen sich viele Ärzt*innen einem hohen kommerziellen Druck ausgesetzt.
In der Folge kommt es zu Fehlentscheidungen auf beiden Seiten und zu einer Überversorgung mit teils überflüssigen, teils teuren, und andererseits auch schädlichen Eingriffen am Menschen. Von Überversorgung wird allgemein dann gesprochen, wenn eine Versorgung über die Bedarfsdeckung hinaus geht. Gemeint ist damit die medizinische Versorgung von Patient*innen, obgleich die Leistungen unnötig oder unerwünscht sind. Hinzu kommt, dass das Risiko-Nutzen-Verhältnis zur Schadensseite hin verschoben sein kann.1, 2
Choosing wisely – Klug entscheiden
Um die Überversorgung in verschiedenen Bereichen der Medizin aufzudecken und sie zukünftig zu verhindern, hatte sich vor einem guten Jahrzehnt in den USA eine Gruppe von Ärzt*innen in der „Choosing Wisely“-Bewegung organisiert. Mittlerweile ist diese Bewegung weltweit aktiv und findet auch in Deutschland viele Unterstützer. Hierzulande organisiert beispielsweise die AWMF mit ihren Fachgruppen die Umsetzung der „Klug entscheiden“-Kampagne3.
Die folgenden allgemeinen Handlungsempfehlungen wurden erstellt:
Planung und Vergütung optimieren
Evidenz verdeutlichen
ethische Verantwortung übernehmen
unnütze Leistungen unterlassen
die Allgemeinheit für das Thema Überversorgung sensibilisieren
Ziel ist es, über kluge Aufklärungskampagnen und Maßnahmen in den Versorgungseinrichtungen dafür zu sorgen, dass Patient*innen keine Leistungen oder Medikationen mehr bekommen, die ihnen nicht oder nur selten nützen – oder die sie sogar schädigen könnten.
Überversorgung: Die Patient*innenseite
Bei Patient*innen überwiegt insbesondere die Unwissenheit darüber, was überhaupt medizinisch notwendige Leistungen sind. Einerseits vertrauen die Menschen auf die Ärzt*innenmeinung, andererseits haben viele Patient*innen auch die Vorstellung, dass Medizin immer etwas verabreichen muss – je mehr Maßnahmen, umso besser für die eigene Gesundheit. Aus diesem Fehlerbild heraus kommt es in der Praxis häufig zu folgender Situation: Patient*innen sind umso zufriedener, desto mehr Leistungen sie ihren Ärzt*innen abverlangen konnten.1
Menschen halten es darüber hinaus nur schwer aus, abzuwarten und nichts zu tun. Ängste spielen hier eine sehr große Rolle. Dabei gilt: Je größer die Angst vor einer bestimmten Erkrankung oder einem bestimmten Krankheitsverlauf, desto häufiger wünschen sich Patient*innen zusätzliche Untersuchungen und medizinische Maßnahmen, um sie davor zu schützen. Das Bewusstsein für unnötige medizinische Leistungen ist in dieser Situation besonders gering.1
Überversorgung: Die Ärzt*innenseite
Doch „Überversorgung“ ist ebenso auf der Ärzt*innen-Seite ein wichtiges Thema. Sie werden getrieben von den Erwartungen der Patient*innen sowie deren Anspruchshaltung.1 Überversorgung macht dabei nicht nur die Ärzt*innen unzufrieden, sondern gefährdet zum Teil die Patient*innen – und sie bindet Personal und Ressourcen, welche andernorts sehr viel dringender einzusetzen wären.
In nahezu allen Fachbereichen der Medizin gibt es Überversorgung – häufige Fälle sind z. B. der Einsatz von Antibiotika zur Therapie von Atemwegserkrankungen4, die Dosierung von Protonenpumpeninhibitoren (PPI) zur Behandlung einer Refluxkrankheit2, oder aber die Therapie multimorbider Patient*innen.
Polypharmazie in der Patient*innenversorgung
Gerade bei letzterer Gruppe, den multimorbiden und/oder älteren Patient*innen sowie bei chronisch Kranken, besteht häufig eine ausgeprägte Multimedikation.5 Oft wissen weder die Patient*innen noch die einzelnen behandelnden Fachärzt*innen, welche Medikamente wann und über welchen Zeitraum tatsächlich eingenommen werden. Die Kombination mit OTC-Präparaten zur Selbstbehandlung verkompliziert die Situation zusätzlich. Dies birgt nicht zuletzt ein hohes Risiko für Medikamentenwechselwirkungen und Nebenwirkungen.
Werden diese als Symptome fehlinterpretiert, erhalten Patient*innen ein weiteres Medikament zu ihrer bereits umfangreichen Liste. Dabei handelt es sich nicht selten lediglich um eine Nebenwirkung, die mithilfe einer zusätzlichen Tablette korrigiert werden soll.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass Verordnungen nicht in regelmäßigem Abstand auf deren Notwendigkeit kontrolliert werden. Die Rezeptverlängerung funktioniert häufig für beide Seiten sehr viel einfacher als z. B. den Bedarf für eine Medikation mittels weiterer Untersuchungen regelmäßig zu überprüfen. Dabei könnte in vielen Fällen weniger auch mehr sein. Hierzu sagte der amtierende DGVS-Präsident Prof. Dr. med. Frank Lammert einmal in einem Interview mit „Der Hausarzt“, „dass auch in der Medizin gelten müsse, dass Perfektion keinesfalls dann erreicht sei, wenn man nichts mehr hinzufügen, sondern wenn man nichts mehr weglassen könne.“4
5 goldene Regeln zur Vermeidung von Polypharmazie
Pharmazeut*innen aus den USA gaben zudem unlängst die folgenden 5 Empfehlungen heraus, wie Ärzt*innen gemeinsam mit den Patient*innen „klug entscheiden“5, 6 können, ob und welche Medikamente verordnet werden sollen:
Verabreichen Sie keine neuen Medikamente, ohne vorher abzuklären, ob die Symptome vielleicht auf Nebenwirkungen einer bestehenden Therapie zurückgehen. Prüfen Sie, ob stattdessen eine Dosisreduktion, ein Therapieabbruch oder der Ausweich auf ein anderes Medikament angezeigt ist.
Verschreiben Sie keine Medikamente für Patient*innen, die bereits fünf oder mehr Medikamente einnehmen. Setzen sie diese auch nicht auf unbestimmte Zeit fort, ohne eine umfassende Überprüfung der Medikation, einschließlich verschreibungspflichtiger und rezeptfreier Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel. Prüfen Sie, ob der Patient / die Patientin wirklich alles davon noch einnehmen muss.
Verschreiben Sie Ihren Patient*innen keine Medikamente im Übergang z. B. vom Krankenhaus in die Niederlassung oder bei einem Wechsel der medizinischen Fachkräfte, ohne sich zu vergewissern, dass für alle diese Medikamente eine Indikation besteht.
Setzen Sie Medikamente nur auf Grundlage einer intensiven Medikationsanamnese und Überprüfung durch eine/n Expert*in für die Verwendung von Medikamenten (z. B. einer/m Apotheker*in) ein, um Überschneidungen des Wirksamkeitsprofils, Wechselwirkungen oder unerwünschte Ereignisse auszuschließen.
Die Dosierung oral einzunehmender Medikamente sollte mit einem entsprechend geeichten und zugelassenen Dosiergerät (Medikamentenbecher, Spritze, …) erfolgen. Vermeiden Sie Dosierungsempfehlungen mit Tee- oder Esslöffeln.
Fazit
In Deutschland soll die Initiative „Klug entscheiden“ – Choosing Wisely“ – Ärzt*innen ganz konkret bei der Indikationsstellung zu diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen helfen. Dadurch soll in erster Linie Überversorgung vermieden und der Therapieerfolg für die Patient*innen verbessert werden.
Darüber hinaus sensibilisiert die Initiative aber ebenso grundsätzlich dafür, in der täglichen Praxis klug zu entscheiden. Das bedeutet schlussendlich, nicht alles medizinisch Machbare umzusetzen – getreu dem Motto: „Weniger kann eben auch mehr sein.“
Referenzen:
1 Bertelsmann-Stiftung. Spotlight Gesundheit – Thema: Überversorgung. 2019. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/spotlight-gesundheit-ueberversorgung/
2 Bertelsmann-Stiftung. Überversorgung – eine Spurensuche. 2019. DOI: 10.11586/2019064
3 awmf.org/medizin-versorgung/gemeinsam-klug-entscheiden.html
4 hausarzt.digital/praxis/choosing-wisely-ein-vorbild-fuer-deutschland-25572.html
5 klug-entscheiden.com/fileadmin/user_upload/2021_Sammelband_Klug_entscheiden_Web_final.pdf
6 choosingwisely.org/societies/american-society-of-health-system-pharmacists/
Text: Dr. rer. nat. Marcus Mau
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