PROF. HANS-JÜRGEN STELLBRINK, HAMBURG
HIV-Infektion und Alter

Bei der HIV-Behandlung muss auch das Lebensalter des Patienten berücksichtigt werden, und zwar bei der Indikation zur Therapie, der Auswahl des Regimes sowie bei Nebenwirkungsmanagement und Komedikation. Einige Untersuchungen sprechen bei älteren Patienten für einen früheren Therapiebeginn. Das "Alter" fängt in diesem Fall schon im 50. Lebensjahr an. Diese Grenze stellt allerdings keinen scharfen biologischen Einschnitt dar, sondern ist eher eine Folge zu geringer Datenmengen in den höheren Altersgruppen.

Die HIV-Infektion wird vorwiegend als eine Erkrankung jüngerer Menschen betrachtet. Tatsächlich jedoch steigt in den USA der Anteil von HIV-Infizierten im Alter von über 50 Jahren an1. In der Bundesrepublik Deutschland beträgt der Anteil der über 50-Jährigen an den HIV-Neudiagnosen seit Anfang der 90er Jahre noch relativ unverändert etwa 10 Prozent, während der Anteil der über 40-Jährigen steigt und 2005 bei ca. 1/3 lag2. Es ist abzusehen, dass auch in Deutschland in Zukunft mehr und mehr HIV-infizierte Personen über 50 Jahre leben werden.

Das verlängerte Überleben von Patienten unter HAART trägt dabei sicherlich entscheidend zum Anstieg des Durchschnittsalters HIV-Infizierter in Deutschland bei.


Abb. 1: Das Risiko der Progression zu AIDS oder Tod unter HAART
ist für einen unter 50- jährigen Patienten mit >5 log HIV-RNA
und 200-349 CD4+-Zellen genauso hoch wie für einen über 50-jährigen
Patienten mit >5 log HIV-RNA und >350 CD4+-Zellen

Bei den Neuinfizierten in diesen Altersgruppen spielt möglicherweise eine schwächere Wirkung von jugendorientierten Präventionsmaßnahmen und ein insgesamt geringerer Informationsstand über HIV-Risiken eine Rolle. Auf Seiten der Ärzteschaft wird bei älteren Menschen die HIV-Infektion seltener in die differentialdiagnostischen Erwägungen einbezogen. Ärzte fragen bei Menschen dieser Altersgruppe seltener nach HIV-Risiken, und ältere HIV-Betroffene haben größere Hemmungen, über HIV-Risiken zu berichten. Diese Faktoren tragen zu einer späteren Diagnose der Infektion bei Älteren bei.

Aus diesen Gründen ist damit zu rechnen, dass die Zahlen sowohl behandelter als auch unbehandelter Patienten in höheren Altersgruppen steigen werden.

1. INFEKTIONSPROGRESSION UND INDIKATIONSSTELLUNG ZUR HAART

Das Risiko einer Progression der HIV-Infektion hin zu opportunistischen Erkrankungen oder dem Versterben hängt - neben den klassischen Risikoparametern Plasma-HIV-RNA und CD4+-Zellzahl - auch vom Alter des Patienten ab. Epidemiologische Studien aus den 90er Jahren zeigen für ältere Menschen übereinstimmend eine verminderte Überlebenswahrscheinlichkeit nach AIDS-Diagnose und ein vermindertes AIDS-freies Überleben als für jüngere Betroffene. Das Alter bei Serokonversion3 und bei einer gegebenen CD4+-Zellzahl4 waren mit einem erhöhten Progressionsrisiko verbunden.

AIDS-Folgeerkrankungen treten bei älteren Patienten bei höheren CD4+-Zellzahlen auf als bei jüngeren. Daher muss bei der Indikationsstellung zur HAART neben den üblichen prognostischen Faktoren CD4+-Zellzahl (absolut und prozentual), Immunaktivierung und Plasmavirämie das Alter berücksichtigt werden. Dafür sprechen auch die Daten der ART-Cohort Collaboration zur Prognose unter HAART s. 2.

Praktischerweise kann man dabei eine an Kohortenanalysen angelehnte Grenze von etwa 50 Lebensjahren annehmen. Diese relativ niedrige Grenze für die Definition des "Alters" stellt allerdings (zum Trost auch aller meiner Kolleginnen und Kollegen) keinen scharfen biologischen Einschnitt dar, sondern ist die Folge zu geringer Datenmengen in den noch höheren Altersgruppen. Die erwähnten Effekte zeigen sich bereits ab dieser Grenze, so dass damit zu rechnen ist, dass sie bei den wesentlich älteren Betroffenen im klinischen Alltag noch sehr viel stärker ausfallen.

2. HAART: ANSPRECHEN UND PROGNOSE

Die Daten zum virologischen und immunologischen Ansprechen auf eine HAART in verschiedenen Altersgruppen sind teilweise widersprüchlich. Sie wurden an kleineren Patientenkollektiven und mit verschiedenen HAART-Regimen gewonnen.

Die größte diesbezügliche Analyse ist die Studie von Egger et al.5, bei der ein höheres Alter die Prognose negativ beeinflusst (s. Abb.1). Höheres Lebensalter ist daher ein unabhängiger negativer Faktor für die Prognose unter einer HAART. Ein höheres Lebensalter bei einer gegebenen CD4+-Zellzahl spricht daher für einen entsprechend früheren Therapiebeginn. Therapierichtlinien sollten dies berücksichtigen.

3. TOXIZITÄT UND METABOLISMUS

Die meisten klinischen Studien schließen Patienten oberhalb des 65. oder 70. Lebensjahres sowie Patienten mit erheblicher Komorbidität aus. Gerade bei dieser Gruppe kann aber, bedingt durch die physiologische Abnahme der Aktivität metabolisierender Leberenzyme und der glomerulären Filtrationsrate, die Metabolisierung antiretroviraler Substanzen bzw. die Exkretion der Metabolite vermindert sein, was die Toxizität der Therapie erhöht. Daten zu Dosisanpassungen in dieser Patientengruppe existieren dennoch kaum.

4. KOMORBIDITÄT

Einige der Komplikationen der HAART wie Pankreatitis, Hepatotoxizität, Nephrotoxizität, Neuropathien und Insulinresistenz überlappen sich mit alterstypischen Begleiterkrankungen bzw. können durch diese verstärkt werden. So können zentralnervöse HIV-Komplikationen durch alters-assoziierte dementielle Veränderungen überlagert werden, was bei der Differentialdiagnose zu berücksichtigen ist.

Darüber hinaus ist zu befürchten, dass auch der Verlauf anderer Erkrankungen durch die HIV-Infektion ungünstig beeinflusst wird, und dies trotz Besserung der Immunsuppression unter einer HAART. Dies betrifft insbesondere maligne Tumoren und Begleitinfektionen wie eine Hepatitis C. Auch das Risiko von Erkrankungen, die auf dem Umweg über eine chronische Immunaktivierung als direkte oder indirekte Folge der HIV-Infektion auftreten, scheint zu steigen. So war in der SMART-Studie das Risiko auch nicht HIV-assoziierter Risiken (z.B. der kardial bedingten Mortalität) im Therapieunterbrechungsarm erhöht. Gerade diese Risiken nehmen ja in besonderem Maße altersabhängig zu.

HAART-Komplikationen wie das Lipodystrophie-Syndrom (insbesondere die Insulinresistenz und die zentrale Fettakkumulation) dürften das Koronar-Risiko zusätzlich zum altersbedingten Risiko erhöhen.

Auch weniger dramatische, aber unter Umständen folgenschwere Altersfolgen wie die physiologische Reduktion der Knochendichte und die Verschlechterung der Nierenfunktion können sich mit therapiebedingten Veränderungen überlagern und wechselseitig verstärken.

Fehl- und Mangelernährung sowie eine verminderte Flüssigkeitsaufnahme bei älteren Menschen können diese Probleme aggravieren und müssen beachtet werden. Die Mangelernährung kann dabei auch relativ sein, wenn weitere Faktoren wie eine gestörte Absorption oder ein erhöhter Bedarf vorliegen.

5. BEGLEITMEDIKATION

Die pharmakokinetischen Interaktionen mit Begleitmedikamenten sind relativ gut erforscht. Insbesondere zu Interaktionen im Bereich des hepatischen Metabolismus liegen viele Daten vor, die Hilfen im klinischen Umgang mit diesem Problem bieten. Die Problemstellungen sind bei älteren Patienten jedoch häufig erheblich komplexer. So sind beispielsweise bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit die strikten Zielbereiche der LDL-Cholesterinsenkung durch Statine unter HAART, speziell mit Ritonavir-geboosteten Proteaseinhibitoren, oft nur schwer zu erreichen, was die effektive Reduktion des koronaren Risikos erschwert.

Die pharmakodynamischen Interaktionen sind hingegen deutlich weniger gut untersucht. Wird z.B. das Risiko der Nephrotoxizität von Tenofovir durch Diuretika gesteigert, die ja bei der antihypertensiven Therapie häufig die Basis darstellen ?. Hier sollten gerade an Hochrisiko-Patientengruppen wie älteren Menschen mehr Daten erhoben werden.

ADHÄRENZ

Ein wichtiges Problem stellt bei älteren Patienten mit Begleiterkrankungen angesichts der oft umfangreichen Begleitmedikation die Adhärenz dar. Eine Richtlinien-konforme Behandlung mehrerer Begleiterkrankungen führt häufig zu einer schwer zu überschauenden Vielfalt an Substanzen und Einnahmezeitpunkten. Wechseln dann aufgrund der Verpflichtung zur preisgünstigsten Verschreibung auch noch die Präparatenamen häufig, wird es für die Patienten immer schwieriger, den Überblick zu behalten. Allein die Komplexität der Behandlung von Begleiterkrankungen kann daher schon die Adhärenz für die HAART gefährden. Dies gilt natürlich erst recht, wenn kognitive Störungen dazukommen.

CHECK-UP NICHT VERGESSEN!

HIV-Patienten werden immer älter und sollten daher auch an den üblichen Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen. Leider geschieht dies nicht immer im gebotenen Ausmaß. So werden Routineuntersuchungen zur Früherkennung HIV-unabhängiger Erkrankungen (z.B. Screening-Diagnostik kolorektaler Tumoren) teilweise vernachlässigt. Mehrere US-amerikanische Studien zeigen eine insgesamt geringere Beteiligung HIV-Infizierter an Screening-Programmen als bei nicht HIV-Infizierten.

In Folge der enormen Fortschritte durch die moderne HAART müssen in Zukunft altersabhängige Risiken bei der Behandlung stärker berücksichtigt werden.

Prof. Dr. med. Hans-Jürgen Stellbrink
Infektionsmedizinisches Centrum Hamburg (ICH)
Grindelallee 35 · 20146 Hamburg
Email: stellbrink@grindelpraxis.de


Literatur:

1. Centers for Disease Control and Prevention (CDC). HIV/AIDS surveillance report 2004 Vol 16 Atlanta (GA). US Department of Health and Human Services; CDC 2005

2. Robert Koch-Institut, http://www.rki.de/cln_049/nn_195960/DE/Content/InfAZ/H/HIVAIDS/Epidemiologie/Daten_ _und__Berichte/HJ-HIV-Folien-2005-12,templateId=raw,property=publicationFile.ppt/HJ-HIV-Folien-2005-12.ppt; http://www.rki.de/nn_196436/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2006/Sonderausgaben/B_ _2006,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/B_2006.pdf)

3. Time from HIV-1 seroconversion to AIDS and death before widespread use of highly-active antiretroviral therapy: a collaborative re-analysis. Collaborative Group on AIDS Incubation and HIV Survival including the CASCADE EU Concerted Action. Concerted Action on SeroConversion to AIDS and Death in Europe. Lancet 2000 Apr 1;355(9210):1131-7

4. Phillips AN, Lee CA, Elford J, Webster A, Janossy G, Timms A, Bofill M, Kernoff PB. More rapid progression to AIDS in older HIV-infected people: the role of CD4+ T-cell counts. J Acquir Immune Defic Syndr 1991;4(10):970-5

5. Egger M, May M, Chene G, Phillips AN, Ledergerber B, Dabis F, Costagliola D, d'Arminio MA, de WF, Reiss P, Lundgren JD, Justice AC, Staszewski S, Leport C, Hogg RS, Sabin CA, Gill MJ, Salzberger B, Sterne JA. Prognosis of HIV-1-infected patients starting highly active antiretroviral therapy: a collaborative analysis of prospective studies. Lancet 2002 Jul 13;360(9327):119-29

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