Sonderausgabe WeltAIDS-Tag 2007
Der Einfluss von Migration auf die HIV-Epidemie in Deutschland
In Deutschland sind Migranten überproportional zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung von HIV-Infektionen betroffen. Dabei tragen Migranten aus Hochprävalenzregionen trotz des relativ kleinen Anteils an allen Migranten angesichts der sehr hohen HIV-Prävalenzen in ihren Herkunftsländern in weit überproportionalem Umfang zu den HIV-Infektionen bei Migranten bei. Im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern ist in Deutschland der Anteil von Migranten aus Zentral- und Osteuropa relativ hoch. Um so größer muss daher auch das Interesse Deutschlands sein, die dramatische Ausbreitung von HIV in Osteuropa einzudämmen.
Um den Einfluss von Migration auf die HIV-Epidemie in Deutschland zu beschreiben, muss zunächst eine Begriffsklärung erfolgen: Was versteht man im Allgemeinen unter dem Begriff "Migranten" und wie wird der Migrationsstatus bei den HIV-Meldungen bestimmt?
Für das Jahr 2005 wird die Zahl der in Deutschland lebenden Personen mit sog. "Migrationshintergrund" auf 15,3 Millionen geschätzt, was einem Anteil von 18,6% der Gesamtpopulation in Deutschland entspricht (ca. 82 Millionen). Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft stellen mit 7,3 Millionen Personen knapp die Hälfte aller Personen mit Migrationshintergrund, die übrigen 8,0 Millionen sind Eingewanderte mit deutscher Staatsbürgerschaft. Von den Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft ist eine von fünf (1,5 Millionen) in Deutschland geboren, es handelt sich also um Immigranten der zweiten oder dritten Generation. Von den 8 Millionen Migranten mit deutscher Staatsbürgerschaft sind 2,6 Millionen - also einer von drei - bereits in Deutschland geboren.
HERKUNFT VON IN DEUTSCHLAND LEBENDEN PERSONEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Herkunftsregion | Anzahl | Kommentare |
---|---|---|
Westeuropa | 1,6 Mio. | |
Zentraleuropa (inkl.Türkei) | 3,3 Mio. | ohne bereits eingebürgerte Personen und deutschstämmige Aussiedler |
Osteuropa | 400.000 | ohne deutschstämmige Spätaussiedler |
Nordafrika/ Naher Osten | 350.000 | |
Amerika | 400.000 | Ca. 100.000 aus Nordamerika, 300.000 aus Lateinamerika |
Süd-/Südostasien | 250.000 |
61,7% der in Deutschland lebenden Migranten stammen aus anderen Ländern Europas (23,6% aller Migranten stammen aus einem der 25 EU-Mitgliedsländern, 38,1% aus dem übrigen Europa). Die neun bedeutsamsten Herkunftsländer sind die Türkei (mit 14,2% aller Migranten), die Russische Föderation (9,4%), Polen (6,9%), Italien (4,2%), Rumänien, Serbien/Montenegro (jeweils 3,0%), Kroatien (2,6%), Bosnien-Herzegowina (2,3%) und Griechenland (2,2%). Neben den sich legal in Deutschland aufhaltenden Migranten (Tab. 1) gibt es eine unbekannte Zahl illegal, d.h. ohne Aufenthaltserlaubnis hier lebende oder ohne Arbeitserlaubnis in Deutschland arbeitende Personen. Schätzungen gehen von mindestens einer Million Menschen aus1.
HERKUNFT VON NACH DEUTSCHLAND EINWANDERNDEN PERSONEN
Von den im Jahre 2004 nach Deutschland eingewanderten Personen stammten 67,9% aus anderen europäischen Ländern (16,3% aus den zehn EU-Beitrittsländern, 24,3% aus den EU-Altmitgliedern). 14,5% der Immigranten stammten aus Asien, 4,1% aus Afrika, 6,9% aus Amerika, Australien und Ozeanien. Hauptherkunftsland im Jahre 2004 war Polen mit 139.283 Einwanderern (18% aller Einwanderer), zwei Drittel davon Männer, gefolgt von Russland mit 8% und 58.594 registrierten Einwanderern nach Deutschland. Die Mehrheit der Einwanderer aus Russland waren sog. Spätaussiedler und deren Angehörige. Weitere wichtige Herkunftsländer waren die Türkei mit 5%, sowie die USA, Kasachstan, Rumänien, Italien und Serbien/Montenegro mit jeweils 3%2. Die Herkunftsländer von aktuell nach Deutschland einwandernden Personen haben sich im Zeitverlauf vor allem durch politische Entwicklungen z.T. dramatisch verändert (z.B. Auflösung des Warschauer Paktes und Fall des eisernen Vorhangs in den neunziger Jahren).
DIE ERFASSUNG DES MIGRATIONSSTATUS IM RAHMEN DER HIV-SURVEILLANCE
Um eine Zuordnung gemäß dem Schema in Abbildung 1 wenigstens näherungsweise vorzunehmen, müssten sowohl Geburtsland als auch Staatsangehörigkeit erhoben werden. Aus Datenschutzgründen wird bei der HIV-Surveillance jedoch nur das Herkunftsland der gemeldeten Person sowie als Zusatzinformation das vermutete Infektionsland erhoben. Die Herkunftsregion wird definiert als das Land/die Region, in der die entsprechende Person die meiste Zeit ihres bisherigen Lebens verbracht hat. Gemäß dieser Definition würden die Teilmengen 2, 45, 6, 8, 10 und 11 aus Abbildung 1 als Personen nicht-deutscher Herkunft gewertet - in Abhängigkeit von Alter und Länge des Aufenthalts in Deutschland -, die Teilmengen 35, und 9 dagegen nicht. Insbesondere bei den Teilpopulationen 3, 5, 6, 7, 8 und 9 hängt es von der Interpretation der jeweils den Meldebogen ausfüllenden Person ab, ob ein anderes Herkunftsland als Deutschland angegeben wird. Problematisch dürfte dabei zum einen die Einordnung von sog. Spätaussiedlern aus Osteuropa, zum anderen hier geborener oder schon lange in Deutschland lebender Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft sein.
Bei der Einschätzung der Zahl der HIV-Neudiagnosen bei Migranten ist davon auszugehen, dass diese zum Teil aufgrund kulturell differenter Einschätzungen von Krankheit bzw. der Ätiologie von HIV/AIDS, eingeschränkter Kenntnisse des deutschen Gesundheitssystems sowie z.T. struktureller Schwierigkeiten, etwa im Fall von Menschen ohne Papiere und damit ohne Krankenversicherung, nicht in gleichem Maße wie Deutsche Zugang zur HIV-Testung haben bzw. Gebrauch von dieser machen. Aufgrund dessen ist anzunehmen, dass ein Teil der Migranten erst in fortgeschrittenem Erkrankungsstadium von seiner HIV-Infektion erfährt. Diese Annahme wird gestützt durch die bei der Meldung der HIV-Neudiagnose erhobenen Daten zur Zahl der T-Helferzellen zum Diagnosezeitpunkt. Die durchschnittliche T-Helferzellzahl ist bei Personen aus Hochprävalenzländern deutlich niedriger als bei den anderen Betroffenengruppen.
Das Herkunftsland/die Herkunftsregion wird auf den HIV-Meldebögen in der jetzigen Form seit 2001 erhoben. Auf etwa 20% der Meldungen fehlen entsprechende Angaben. Wahrscheinlich ist ein überproportional hoher Anteil der gemeldeten HIV-Infizierten ohne Herkunftsangabe tatsächlich deutscher Herkunft, so dass der Anteil der Gemeldeten ausländischer Herkunft bei ca. einem Drittel aller seit Anfang 2001 gemeldeten Neudiagnosen liegen dürfte. Im westeuropäischen Vergleich ist dies ein eher niedriger Anteil, in Großbritannien beispielsweise liegt der Anteil der im Ausland geborenen unter den neu diagnostizierten HIV-Infizierten bei 70%.
1. Deutsche mit deutscher Staatsbürgerschaft und deutschen Eltern* 2. Einwanderer mit fremder Staatsbürgerschaft und gültiger Aufenthaltsgenehmigung 3. Ausländer mit fremder Staatsbürgerschaft, geboren in Deutschland, mit gültiger Aufenthaltserlaubnis 4. Ausländer mit fremder Staatsbürgerschaft, eingewandert für einen vorübergehenden Zeitraum, mit gültiger Aufenthaltserlaubnis 5. Ausländer mit fremder Staatsbürgerschaft mit Lebensmittelpunkt in Deutschland und gültiger Aufenthaltserlaubnis 6. Einwanderer, die die deutsche Staatsbürgerschaft erworben haben* 7. Ethnisch deutsche Einwanderer ("Spätaussiedler") mit deutscher Staatsbürgerschaft* 8. Einwanderer mit doppelter Staatsbürgerschaft* 9. In Deutschland geborene Ausländer mit doppelter Staatsbürgerschaft* 10. Flüchtlinge (Asylbewerber) 11. Einwanderer ohne deutsche Staatsbürgerschaft und ohne gültigen Aufenthaltsstatus Die Teilmengen 2-11 in der Abbildung A zählen als Personen mit Migrationshintergrund. Nur die Migranten aus den Gruppen 2, 3, 4 und 5 werden, in der Meldestatistik als "Bürger ausländischer Nationalität" erfasst. |
Abb. 1: Schematische Aufteilung der Bevölkerung in gebürtige Deutsche
und Personen mit Migrationshintergrund
(Definition von "Migranten": Schmitt 20063, modifiziert nach Razum 20034)
NUR GROBE SCHÄTZUNG MÖGLICH
Wie groß der Anteil der in Deutschland mit HIV diagnostizierten Personen ausländischer Herkunft ist, die Deutschland nach ihrer HIV-Diagnose wieder verlassen, ist nicht bekannt. So sind beispielsweise laut offizieller Statistik im Zeitraum von 1991 bis 2004 ca. 375.000 Personen aus Subsahara-Afrika nach Deutschland zugezogen, in derselben Zeit haben aber auch 250.000 Personen Deutschland mit Ziel Subsahara-Afrika wieder verlassen. Der Anteil von Personen ausländischer Herkunft an den in Deutschland lebenden HIV-Infizierten kann daher nur grob geschätzt werden. Unter Berücksichtigung von Rück- und Weiterwanderung, Abschiebungen und eines im Zeitverlauf ansteigenden Anteils von Infizierten nicht-deutscher Herkunft beträgt er wahrscheinlich zwischen 20 und 25%. Unter allen HIV-Neudiagnosen bei Personen ausländischer Herkunft in den letzten sechs Jahren betrug der Anteil von Personen aus Hochprävalenzregionen etwa 55% (Abb. 2, S. 10). Eine grobe Abschätzung der HIV-Prävalenz in den verschiedenen Migrantenpopulationen in Deutschland (Tab. 2, S. 10) ergibt, dass im Vergleich zur HIV-Prävalenz in der Bevölkerung deutscher Herkunft (HIV-Prävalenz ca. 0,06% bezogen auf Gesamtbevölkerung und ca. 0,1% bezogen auf 20-50-jährige erwachsene Bevölkerung) die Prävalenz bei Migranten aus anderen Ländern Europas sowie Nordafrikas und des Nahen Ostens in der selben Größenordnung (Westeuropa, Nordafrika/Naher Osten) oder niedriger (Zentraleuropa, Osteuropa) liegt, bei Migranten aus Amerika und Süd-/Südostasien höher und bei Migranten aus Subsahara-Afrika deutlich höher.
Herkunftsregion | Größe der in Deutschland lebenden Population(Quelle [2]) | Anteil der HIV-Infizierten nicht-deutscher Herkunft (Annahme: Anteil der Infizierten pro Herkunftsregion entspricht Anteil der seit 2001 erfolgten Neudiagnosen pro Herkunftsregion) | Geschätzte HIV-Prävalenz (Annahme: 15.000 HIV-Infizierte nicht-deutscher Herkunft) |
---|---|---|---|
Westeuropa | 1.600.000 | ~10% | 1.500/ 1.600.000 = 0,1 % |
Zentraleuropa | 3.300.000 (+ Illegale) | ~10% | 1.500/ 4.000.000 = 0,04% |
Osteuropa | 400.000 (+ 2.5 Mio. Spätaussiedler + Illegale) | ~10% | 1.500/ 3.000.000 = 0,05% |
Süd-/Südostasien | 250.000 (+ Illegale) | ~12% | 1.800/ 300.000 = 0,6% |
Subsahara-Afrika | 150.000 (+ Illegale) | ~50% | 7.500/ 250.000 = 3,0% |
Nordafrika/ Naher Osten | 350.000 (+ Illegale) | ~4% | 600/ 400.000 = 0,1% |
Amerika | 400.000 (+ Illegale) | ~6% | 900/ 450.000 = 0,2% |
Tab. 2: Grobe Abschätzung der HIV-Prävalenz in Migrantenpopulationen nach Herkunftsregion (RKI-Schätzung)
Abb. 2: Verteilung aller HIV-Erstmeldungen mit Herkunftsangabe (n=10.942 links) bzw. aller Erstmeldungen mit Angabe ausländischer Herkunft (n=3.613 rechts) seit 2001 auf Herkunftsregionen
BEI MSM IST DER ANTEIL VON MIGRANTEN AM KLEINSTEN
Es lässt sich nicht genau beziffern, wie sich der Anteil der Personen ausländischer Herkunft an den in Deutschland diagnostizierten HIV-Infizierten im Zeitverlauf entwickelt hat, weil sich die Form der Erhebung des Herkunftslandes und die Qualität der entsprechenden Angaben im Laufe der Jahre erheblich verändert haben. Unter Berücksichtigung der fortlaufenden Verbesserung der Datenqualität in den Jahren 2001 bis 2007 hat sich der Anteil der neu mit HIV diagnostizierten Personen nichtdeutscher Herkunft in diesem Zeitabschnitt nicht wesentlich verändert. Es muss jedoch davon ausgegangen werden, dass in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts aufgrund der starken Ausbreitung von HIV in den Herkunftsregionen von Migranten, insbesondere in Subsahara-Afrika, auch die Zahl der nach Deutschland eingewanderten mit HIV infizierten Migranten kontinuierlich auf das derzeit erreichte Niveau angestiegen ist.
Die Anteile von Migranten in den verschiedenen Betroffenengruppen unterscheiden sich deutlich (Abb. 3). Abgesehen von der Personengruppe mit Herkunft aus Hochprävalenzregionen (HPL), die definitionsgemäß zu 100% aus Migranten besteht, ist der Anteil bei den peripartal infizierten Kindern (PPI) bei Berücksichtigung der Herkunft beider Elternteile mit ca. 70% am höchsten, gefolgt von i.v. Drogenkonsumenten (IVD) mit knapp 30% und Personen mit hetero-sexuellem Risiko (HET) mit 20%. Am niedrigsten ist der Anteil mit 10% bei MSM.
Abb. 3: Prozentuale Verteilung der seit 2001 gemeldeten HIV-Neudiagnosen nach Herkunftsregion und Transmissionsrisiko
Die zeitlichen Trends von 2001 bis Mitte 2007: Im Verlauf der letzten Jahre hat sich die Qualität der Angaben zum Herkunftsland verbessert, der Anteil der Meldungen ohne Angaben zum Herkunftsland ging zurück. Die zeitlichen Trends in den verschiedenen Betroffenengruppen:
- MSM: keine Änderungen
- Konsumenten intravenös verabreichter Drogen: leichter Rückgang von Personen westeuropäischer Herkunft, Zunahme von Personen osteuropäischer Herkunft
- Heterosexuelle: Zunahme von Personen zentral- und osteuropäischer Herkunft, Rückgang bei Personen westeuropäischer Herkunft. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass auf Grund der starken Stigmatisierung gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte in Zentral- und Osteuropa ein Teil der auf diesem Wege erworbenen HIV-Infektionen unter der Kategorie heterosexuelle Kontakte subsumiert wird.
- Personen aus Hochprävalenzregionen: keine wesentlichen Veränderungen.
Abb. 4: Infektionsregionen bei Herkunft aus den beiden wichtigsten Hochprävalenzregionen (ohne MSM), HIV-Neudiagnosen 2001-06/2007
Abb. 5: Infektionsregionen bei Herkunft aus dem Ausland (ohne Hochprävalenzregionen, ohne MSM), HIV-Neudiagnosen 2001-06/2007
Abb. 6: Infektionsregionen bei MSM mit Herkunft aus dem Ausland, HIV-Neudiagnosen 2001-06/2007
Der Anteil der Personen aus Hochprävalenzregionen an den HIV-Neudiagnosen sank vom Jahr 2002 an kontinuierlich von 20% auf 10% im ersten Halbjahr 2007. Dies ist hauptsächlich auf einen Anstieg der Gesamtzahl der HIV-Neudiagnosen in diesem Zeitraum zurückzuführen, der vorwiegend in der Betroffenengruppe der Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), stattfand. Die absolute Zahl von Neudiagnosen bei Personen aus Hochprävalenzregionen bewegte sich in den Jahren 2002 bis 2005 auf annähernd gleich bleibendem Niveau von etwa 350 Fällen pro Jahr und sinkt erst danach erkennbar ab (auf 116 im ersten Halbjahr 2007). Obwohl nach den vorliegenden Angaben die überwiegende Mehrheit der Personen aus Hochprävalenzregionen sich auch in den Herkunftsregionen infiziert hat, wird ein Anteil von 10-15% der in dieser Gruppe diagnostizierten Infektionen anscheinend erst in Deutschland erworben (Abb. 4). Hinzu kommt, dass ein Teil der in den Herkunftsregionen erworbenen Infektionen bei Heimatbesuchen bereits in Deutschland lebender Personen erworben wird.
Bei Personen aus dem europäischen Ausland, die keine gleichgeschlechtlichen Sexualkontakte zwischen Männern angeben, steigt der Anteil der in Deutschland erworbenen Infektionen auf ca. 50% (Abb. 5). Bei Männern ausländischer Herkunft, die gleichgeschlechtliche Sexualkontakte mit Männern angeben, hat sich bei nahezu allen Herkunftsregionen eine deutliche Mehrheit erst in Deutschland mit HIV infiziert ( Abb. 6).
ZUSAMMENFASSENDE EINSCHÄTZUNG UND OFFENE FRAGEN
Auch wenn die Art der Erfassung keine ganz exakten Aussagen über den Beitrag von Migration zur HIV-Epidemie in Deutschland erlaubt, sind Migranten überproportional zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung von HIV-Infektionen betroffen. Dabei gibt es aber erhebliche Unterschiede je nach Herkunftsregion: Migranten aus Hochprävalenzregionen, die nur einen relativ kleinen Anteil an allen Migranten in Deutschland stellen, tragen angesichts der sehr hohen HIV-Prävalenzen in ihren Herkunftsländern in weit überproportionalem Umfang zu den HIV-Infektionen bei Migranten bei. Ein großer Teil der Infektionen in dieser Gruppe ist wahrscheinlich vor der Einreise nach Deutschland erworben. Es werden genauere Untersuchungen dazu benötigt, wie viele Infektionen in dieser Migrantengruppe erst hier in Deutschland oder bei Heimatbesuchen zu einem Zeitpunkt erworben werden, an dem die Migranten bereits in Deutschland leben.
Bei Migranten aus dem europäischen Ausland, aus Amerika, Nordafrika und dem Nahen Osten ist die HIV-Prävalenz ähnlich niedrig oder noch niedriger als in der deutschen Bevölkerung. Dem entsprechend ist die Wahrscheinlichkeit annähernd gleich groß, dass die Infektion in Deutschland oder im Herkunftsland erworben wurde.
Angesichts der Zusammensetzung der Migranten in Deutschland mit einem vergleichsweise hohen Anteil von Migranten aus Zentral- und Osteuropa und einem im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern kleinen Anteil von Migranten aus Hochprävalenzregionen trägt Migration bislang in Deutschland im Unterschied zu vielen anderen Ländern in Westeuropa nur in geringem Ausmaß zur HIV-Epidemie bei. Um so größer muss daher auch das Interesse Deutschlands sein, die dramatische Ausbreitung von HIV in Osteuropa einzudämmen.
Es gibt eine Reihe von migrationsassoziierten Themen, zu denen zum Teil noch erheblicher Forschungs- und Verbesserungsbedarf besteht:
- In welchem Umfang werden Migranten durch die bestehenden Aufklärungs- und Präventionsmaßnahmen erreicht?
- Werden migrantenspezifische Ansätze beispielsweise in der Präventionsarbeit mit MSM und i.v. Drogenkonsumenten mit Migrationshintergrund, insbesondere für Migranten aus Zentral- und Osteuropa benötigt?
- Sind die Aufklärung zu HIV in der Schwangerschaftsvorsorge und die medizinische und psychosoziale Betreuung HIV-infizierter Schwangerer mit Migrationshintergrund ausreichend?
- Wie kann der Zugang zu dem im HIV-Bereich hoch spezialisierten medizinischen Versorgungs- und Betreuungssystem für Migranten verbessert werden?
- Welche Möglichkeiten gibt es, auch Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus angemessen medizinisch zu versorgen?
- Welche Ansatzmöglichkeiten gibt es, die in Migrantenpopulationen oft besonders stark ausgeprägte Stigmatisierung von HIV-Infizierten und Tabuisierung des Themas HIV/AIDS zu überwinden?
Ulrich Marcus
HIV/STI/Bloodborne Infections
Robert Koch-Institut Berlin
Email: marcusu@rki.de
Literatur
1. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Illegalität von Migranten in Deutschland - Zusammenfassung des Forschungsstandes, Workingpapers 2/2005; Nürnberg
2. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung - Migrationsbericht 2005; Nürnberg
3. Schmitt, Ellen (2006): Gesundheitsversorgung und Versorgungsbedarf von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus, Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg; Hamburg
4. Razum, Oliver (2003): Gesundheitsberichterstattung für Migrantinnen und Migranten: Möglichkeiten und Grenzen; in Borde, Theda, David, Matthias (ed.): Gut versorgt? Migrantinnen und Migranten im Gesundheits- und Sozialwesen; Bonn