INTERVIEW MIT ANNEMARIE MADISON
Pionierin im Kampf gegen Stigma und Ausgrenzung


Annemarie Madison
San Francisco

Auf den 12. Münchner AIDS-Tagen zu Gast in Berlin wird erneut der Annemarie-Madison-Preis verliehen. Der Preis ist nach Annemarie Madison benannt, die zu Beginn der Epidemie in San Francisco an Aids erkrankte Menschen pflegte und dabei Maßstäbe setzte im Umgang mit den Kranken und der Krankheit.

Auf den Münchner AIDS-Tagen wird seit 1995 der Annemarie-Madison-Preis verliehen. Für was steht dieser Preis?

A. Madison: Der Preis wird für besonderes Engagement gegen HIV und Aids vergeben. Alle bisherigen Preisträger haben sich persönlich gegen große politische oder gesellschaftliche Widerstände für Menschen mit HIV eingesetzt. Der erste Preisträger beispielsweise war Oswald Weber, der Gründer von Projekt-Informationen in München. Ein weiterer der Arzt Dr. Ishwar Gilada aus Bombay, der zu einer Zeit, als niemand in Indien etwas mit Aids zu tun haben wollte, sich um infizierte Prostituierte kümmerte.

Der Preis ist nach Ihnen benannt, weil Sie ebenfalls Außerordentliches im Kampf gegen Aids geleistet haben. Sie haben von Anfang an, als Aids-Kranke gemieden wurden und Vorurteile grassierten, Sterbende gepflegt und sich gegen die Stigmatisierung eingesetzt. Wie hat das begonnen?

A. Madison: Ich lebe in San Francisco und dort hat die Presse das Thema gleich in der ersten Stunde aufgegriffen und von der tödlichen "Schwulenkrankheit" berichtet. Ein guter Freund, der Leiter der örtlichen Gesundheitsbehörde war, schilderte mir die Situation. Spontan fragte ich ihn, ob ich nicht etwas tun könne. Er freute sich und meinte, man könne jede Hand gebrauchen. Also bewarb ich mich beim ambulanten Pflegedienst. Es wurde gerade innerhalb der "Visiting Nurses" eine eigene Abteilung für Aids gegründet, denn zu diesem Zeitpunkt wusste man noch nicht, ob und wie man sich anstecken konnte. Also brauchte man Freiwillige. Dort hab ich angefangen und es hat mich nie losgelassen.

Hatten Sie schon vorher Verbindungen zur schwulen Szene?

A. Madison: Sicherlich hatte ich Kontakte zu schwulen Menschen, schließlich lebe ich in San Francisco. Doch das würde ich nicht als "Verbindung zur schwulen Szene" bezeichnen - weder im positiven noch negativen Sinn. Es hat mich nie interessiert, ob einer schwul ist oder nicht, ob er schwarz ist oder weiß, ob arm oder reich, was für mich zählt, ist der Mensch.

San Francisco war ja aufgrund der großen schwulen Gemeinschaft stark betroffen. Wie war die Stimmung in der Stadt?

A. Madison: Im Stadtteil Castro lebte eine starke und freie Schwulengemeinde. Aus den gesamten USA waren viele hierher gekommen, um ungestört ihr Leben so zu gestalten, wie sie es wollten. Und dann kam HIV. Sehr viele erkrankten und starben. In den schlimmsten Zeiten der Epidemie fuhren täglich Ambulanzen mit Blaulicht durch das Viertel und es gab bis zu sieben Sterbefälle täglich. Die Angst vor Aids war groß, aber auch der Zusammenhalt war groß. Angst war auch bei der übrigen Bevölkerung weit verbreitet und es gab viele Berührungsängste. Viele waren den Schwulen ohnehin nicht sehr freundlich gesonnen - insbesondere die Latinos, die stärker religiös sind.

Und die ärztliche Versorgung?

A. Madison: Das war nur zu Beginn ein Problem, denn es wurden rasch entsprechende Strukturen geschaffen. In den Kliniken wurden die Kranken sofort isoliert, es gab eigene Aids-Ambulanzen und -Abteilungen, finanziert mit Hilfe der Liz-Taylor-Stiftung. Es wurde auch ein Sterbe-Hospiz gegründet, in dem die Kranken und ihre Freunde einen würdevollen Tod finden konnten. Dort war ich regelmäßig jeden Sonntag.

Was motiviert Sie, sich so intensiv zu engagieren?

A. Madison: Meine Motivation war der Wunsch zu helfen. Ich hatte schon immer diesen Wunsch zu helfen und wäre am liebsten Ärztin geworden. Und jetzt sah ich, dass junge Menschen in meiner Umgebung an einer tödlichen Krankheit litten und dringend Hilfe brauchten. Diese Menschen wollte ich durch bedingungslose Annahme und Liebe unterstützen und ihnen zu einem würdevollen restlichen Leben und Tod verhelfen.

Wie kann man sich Ihre Tätigkeit damals vorstellen?

A. Madison: Ich habe die jungen Menschen letztendlich auf dem letzten Stückchen ihres Weges begleitet. Dazu musste ich zuerst einmal Zugang finden. Das ist mir - vielleicht aufgrund meines ausländischen Akzents und der weißen Haare - meist nicht schwer gefallen. Und dann war ich einfach für den Kranken da. Das bedeutet, kleine Wünsche erfüllen, Dinge erledigen, Gespräche über Wichtiges und Unwichtiges führen, Familien kontaktieren und zusammenführen und vor allem immer erreichbar sein. Ein Beispiel: Ich wurde mitten in der Nacht von einem Kranken angerufen. Er sagte: "Annemarie, ich kann nicht atmen, ich hab eine PCP", und ich sagte "Du hast keine PCP, aber ich komme", und ich bin hingefahren. Dieses Gefühl, dass man jederzeit ansprechbar ist und alles ernst nimmt, das ist sehr wichtig. Von großer Bedeutung war auch meine Rolle als Kontaktperson zur Familie des Kranken. Viele standen im Konflikt mit ihrer Familie und die Aussöhnung war stets ein wichtiges Thema. Dies gelang mit den Müttern und Schwestern meist leichter als mit den männlichen Angehörigen, insbesondere den Vätern.

Wie viele Menschen haben Sie betreut?

A. Madison: Nach meinen Besuchen habe ich mir immer Notizen gemacht, über den Zustand, über den Inhalt der Gespräche, familiäre Aspekte, Wünsche usw. Diese Aufzeichnungen habe ich der Bibliothek von San Francisco geschenkt und da musste ich "meine Jungs" zählen. Es waren insgesamt 256 Kranke, die ich betreut habe. 11 "Überlebende" betreue ich heute noch.

Haben Sie auch Sterbehilfe geleistet?

A. Madison: Alle Aids-Kranken haben damals an Selbstmord gedacht und auch mit mir darüber gesprochen. Manche haben mich auch gefragt, ob ich Ihnen dabei helfe. Das habe ich aber trotz meiner "holländisch-freien" Haltung dem Suizid gegen-über nie getan. Von "meinen Jungs" haben sich erfreulicherweise nur neun suizidiert.

Engagement für Liebe und Würde

Annemarie Madison engagiert sich seit 1984 für HIV-Infizierte. In den ersten Jahren kurz nach dem Ausbruch der Epidemie, als die Infektionswege noch unbekannt und die Angst vor Ansteckung noch groß war, und keine Medikamente zur Verfügung standen, begleitete sie über 250 sterbende AIDS-Kranke in San Francisco. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen Liebe und Würde, die bedingungslose Annahme eines Menschen ohne nach Herkunft, Hautfarbe, Sexualität und Einstellungen zu fragen und seine Würde auch auf dem schweren Weg zum Tod. Die gebürtige Holländerin hat dabei von Anfang an gegen die Ausgrenzung der HIV-Infizierten gekämpft, sowohl im kleinen Kreis in den Familien der Kranken als auch in der Öffentlichkeit bei zahlreichen Auftritten und Workshops in den USA und Europa.

Öffentliche Auftritte (Auszug)

1985 Rede bei der ersten großen AIDS-Gala in der San Francisco Opera
Rede an der Universität Düsseldorf
1986 Leitung des First Interfaith AIDS Conference in San Francisco • Sieben-Städte-Tour in Deutschland unter der Schirmherrschaft der Gesundheitsministerin Rita Süßmuth
1987 Vorträge in sechs Städten in der Schweiz • Auftritte im amerikanischen Fernsehen
Vortrag im Krankenhaus Auguste-Victoria in Berlin
1989 Reportage im ZDF mit einem blinden Patienten
1990 Auftritte in der Tschechoslowakei
1991 Teilnahme in der Biolek-Talk-Show zum Welt-Aidstag
1995 Bundesverdienstkreuz
1995 Erster Annemarie-Madison-Preis auf den 5ten Münchner AIDS-Tagen
1996 Reportage von Spiegel-TV
seit 1996 zahlreiche Vorträge und Fernsehauftritte
2002 Der Name von Annemarie Madison wird im National AIDS Memorial eingraviert

Was hat Ihnen die Kraft für Ihre Arbeit gegeben?

A. Madison: Diese Frage ist schwer zu beantworten. Ich weiß es nicht genau. Die Unterstützung durch meinen Mann war sicherlich wichtig. Er war großartig. Er ging zwar nicht mit zu den Kranken, doch er war oft Chauffeur. Er hat mich gefahren und auch die Kranken, denn mein Auto habe ich aufgrund der vielen Strafzettel aufgeben müssen. Vielleicht hat auch mein unerfüllter Wunsch, Ärztin zu werden, eine Rolle gespielt.

Sie hatten auch in der Öffentlichkeit eine große Wirkung…

A. Madison: Am 13. Oktober 1984 fand in San Francisco die erste große Benefiz-Gala statt und man bat mich dort zu sprechen, was ich dann nach einigem Zögern auch tat. Ich wollte die Situation der Kranken bessern, nicht nur im Hinblick auf finanzielle Spenden, sondern insbesondere auch gegen die Stigmatisierung und Ausgrenzung. Und ich konnte die Zuhörer mit meinen Schilderungen erreichen…

Später haben Sie auch mehrfach in Deutschland gesprochen. Wie war die Stimmung in Deutschland im Vergleich zu San Francisco?

A. Madison: Ich empfand keinen Unterschied. Die Zuhörer waren sehr aufgeschlossen, den in San Francisco eingeführten Umgang mit den Aids-Kranken zu übernehmen. Aber schließlich kamen ja in erster Linie Leute zu meinen Vorträgen, die ähnlicher Meinung waren wie ich.

Und heute, was ist Ihre Botschaft?

A. Madison: Das Bild der HIV-Infektion hat sich stark verändert. In den westlichen Ländern hat Aids seinen Schrecken verloren, so dass Prävention schwer wird. Der Schwerpunkt der Präventionsarbeit muss Aufklärung und Kampf gegen Stigmatisierung sein - insbesondere im östlichen Europa, wo die politische Haltung die Präventionsarbeit behindert. In den armen Ländern sterben immer noch viele Menschen an Aids. Hier brauchen wir Therapie und Prävention. Es gibt also noch viel tun...

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