HIV-INFEKTIONEN IN DEUTSCHLAND
Überblick über
aktuelle epidemiologische Daten und Trends (Stand vom 01.03.2008)
Die aktuellen Zahlen zu HIV-Infektionen vom 1. März 2008 zeigen, dass die Zahl der pro Jahr neu diagnostizierten HIV-Infektionen in Deutschland im Jahr 2007 erneut gestiegen sind, und zwar im Vergleich zum Vorjahr von 2.643 um 4% auf 2.752. Am stärksten nahm die Zahl der HIV-Neudiagnosen bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), zu und zwar in allen Altersgruppen, auch in der Gruppe der unter 25-Jährigen. Als eine der Ursachen wird die anhaltend hohe Syphilis-Inzidenz bei MSM diskutiert.
Diagnosejahr | Erstdiagnosen | Meldestatus unbekannt | Gesamt |
---|---|---|---|
R<1998 | 10.795 | 15.079 | 25.874 |
1998 | 1.924 | 2.508 | 4.432 |
1999 | 1.746 | 2.767 | 4.513 |
2000 | 1.689 | 2.636 | 4.325 |
2001 | 1.443 | 2.616 | 4.059 |
2002 | 1.719 | 2.606 | 4.325 |
2003 | 1.976 | 2.421 | 4.397 |
2004 | 2.212 | 2.066 | 4.278 |
2005 | 2.505 | 1.945 | 4.450 |
2006 | 2.643 | 1.737 | 4.380 |
2007 | 2.752 | 1.667 | 4.419 |
Gesamt | 31.404 | 38.048 | 69.452 |
Bis zum 01.03.2008 wurden dem RKI für das Jahr 2007 insgesamt 2.752 neu diagnostizierte HIV-Infektionen gemeldet (s. Tab. 1). Gegenüber dem Jahr 2006 (n=2.643) ist dies eine Zunahme um 4% bei der Gesamtzahl der HIV-Neudiagnosen.
Betrachtet man die Entwicklung der HIV-Neudiagnosen in den verschiedenen Betroffenengruppen, so steigt die absolute Zahl der HIV-Neudiagnosen bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM) im Jahr 2007 gegenüber dem Vorjahr (2006) weiter um 12% an, bei Personen mit Angabe eines heterosexuellen Infektionsrisikos (HET) um 7,5%, während bei Konsumenten intravenös verabreichter Drogen (IVD), bei Migranten aus Hochprävalenzländern (HPL) und in der Gruppe der Personen ohne Angabe eines Infektionsrisikos (k.A.) die Zahl der Meldungen zurückgingen (um 6% bei IVD, 18% bei HPL und 7,6% bei k.A.).
WENIGER FRAUEN, ABER MEHR MÄNNER NEU DIAGNOSTIZIERT
Die Absolutzahl der HIV-Neudiagnosen bei Frauen in Deutschland (n=444) ist gegenüber dem Vorjahr (n=503) um 12% gesunken, während die Zahl der HIV-Neudiagnosen bei Männern von 2.117 im Jahr 2006 auf 2.285 im Jahr 2007 um 8% gestiegen ist. Der Anteil der Frauen unter den HIV-Neudiagnosen betrug im Jahr 2007 in Deutschland nur noch 16,1% und hat damit den niedrigsten Prozentwert seit Beginn der differenzierten Erfassung im Jahre 1993 erreicht. Die Hauptursache für den Rückgang der Neudiagnosen bei Frauen ist im Rückgang der Meldungen von Personen aus Hochprävalenzregionen zu suchen (siehe unten).
Angaben zum Infektionsweg lagen für 87% der im Jahr 2007 neu diagnostizierten HIV-Infektionen vor. Darunter stellen MSM mit 65% die größte Gruppe. Der Anteil der nicht aus Hochprävalenzländern stammenden Personen, die angaben, ihre HIV-Infektion durch heterosexuelle Kontakte erworben zu haben (HET) stieg auf 17%, Personen, die aus Ländern mit einer hohen HIV-Prävalenz in der allgemeinen Bevölkerung (Hochprävalenzländer) stammen, stellten im Jahr 2007 nur noch 11% der HIV-Neudiagnosen. Es ist anzunehmen, dass der überwiegende Teil der Personen aus HPL sich in ihren Herkunftsländern infiziert hat. Die Gruppe der Personen, die eine HIV-Infektion über i.v. Drogengebrauch erworben haben, stand mit 6% unverändert an vierter Stelle.
ENTWICKLUNG IN DEN EINZELNEN GRUPPEN
Bei der Betrachtung der Entwicklung der HIV-Neudiagnosen in den verschiedenen Gruppen zeigen sich deutlich unterschiedliche Entwicklungen.
MÄNNER, DIE SEX MIT MÄNNERN HABEN
Abb. 1: HIV-Erstdiagnosen nach Jahr der Diagnose und Infektionsrisiko, 1998-2007 Quelle: RKI
Abb. 2: Inzidenz von HIV-Neudiagnosen bei MSM nach Altersgruppen und Diagnosejahr
Die absolute Zahl der HIV-Neudiagnosen bei MSM hat wie bereits im Jahr 2006 auch 2007 im Vergleich zur Gesamtzahl überproportional zugenommen (Abb. 1). Diese überproportionale Zunahme der Zahl der HIV-Neudiagnosen bei MSM kann nicht allein durch eine weitere Verbesserung der Datenqualität erklärt werden, weder durch die Abnahme der Anzahl der Meldungen ohne Angabe eines Infektionsrisikos (Abb. 1), noch durch die Abnahme der Anzahl der Meldungen ohne eine eindeutige Zuordnung, ob es sich um HIV-Erstdiagnosen bzw. um einen HIV-Nachweis bei einer bereits als HIV-positiv bekannten Person handelt (Tab. 1). Es ist daher von einer tatsächlichen Zunahme der Anzahl neu diagnostizierter HIV-Infektionen bei MSM auszugehen.
Diese Zunahme könnte theoretisch durch folgende Faktoren bedingt sein. Zum Einen könnten durch eine vermehrte Testung bereits länger bestehende oder neu erworbene Infektionen früher als bisher entdeckt werden und daher der Anstieg der Neudiagnosen als ein Erfolg der Prävention gewertet werden, da der Pool bisher unentdeckter Infektionen abgebaut würde. Daten zur Häufigkeit der HIV-Testdurchführung werden in der jährlichen repräsentativen Befragung durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zu HIV/AIDS im öffentlichen Bewusstsein erhoben. In der Gruppe der Allgemeinbevölkerung ab 16 Jahren bleibt die HIV-Test Teilnahmerate in den letzten 12 Monaten mit 8% in 2007 stabil. In dieser Gruppe ist die HIV-Prävalenz jedoch gering, so dass große Auswirkungen auf die Zahl der HIV-Neudiagnosen ohnehin nicht zu erwarten sind. In der Gruppe der MSM hat die Testhäufigkeit von 1991 bis 2007 leicht aber beständig zugenommen, wobei aber nicht erkennbar ist, dass sich der Anteil ungetesteter MSM nach 1999 weiter verringert hat.1 Leider stehen keine Daten zur Verfügung, um die Gesamtzahl der durchgeführten HIV-Tests in der MSM-Population oder in der Gesamtbevölkerung zu bestimmen, so dass genaue Testraten nicht bestimmt werden können.
Zum Anderen könnte die Zunahme der HIV-Neudiagnosen auf einer Zunahme der Anzahl der Neuinfektionen beruhen. Neuinfektionen können zunehmen, wenn die Anzahl ungeschützter sexueller Kontakte zwischen HIV-Infizierten und Nicht-Infizierten zunimmt, wenn insgesamt die Partnerzahlen ansteigen und wenn die Übertragungswahrscheinlichkeit pro ungeschütztem Sexualkontakt ansteigt. Die vorliegenden Untersuchungsergebnisse, die jedoch wegen Veränderungen der Zusammensetzung der Befragungsteilnehmer über die Zeit vorsichtig interpretiert werden müssen, liefern keine Belege für eine Zunahme ungeschützter sexueller Kontakte zwischen HIV-Infizierten und Nicht-Infizierten oder eine Zunahme der Partnerzahlen seit 1999. Auf Grund der deutlichen Zunahme anderer sexuell übertragbarer Infektionen (die besten Daten liegen in Deutschland für die Syphilis vor) muss aber von einer größeren Übertragungswahrscheinlichkeit bei ungeschützten Sexualkontakten ausgegangen werden.
Da zur direkten Bestimmung der HIV-Neuinfektionen keine Daten zur Verfügung stehen, können die Annahmen zum Einfluss der Testung und der Neuinfektionen auf die Zahl der Neudiagnosen nicht direkt bestätigt oder widerlegt werden. Eine Analyse der Inzidenz von HIV-Neudiagnosen bei MSM (Abb. 2) zeigt Anstiege in allen Altersgruppen, d.h. auch bei unter 25-jährigen MSM, bei denen nicht angenommen werden kann, dass sie schon viele Jahre infiziert sind. Eine überproportionale Zunahme der HIV-Neudiagnosen hat es jedoch bei den über 40-jährigen MSM gegeben. Zurzeit ist die wahrscheinlichste Deutung der vorliegenden Daten, dass sich die Zunahme der neudiagnostizierten HIV-Infektionen zu einem kleineren Anteil aus vermehrter Testdurchführung und zum größeren Teil aus einer tatsächlichen Zunahme von Neuinfektionen zusammensetzt. Die Zunahme von Neuinfektionen kommt dabei in erster Linie nicht durch ein abnehmendes auf HIV abzielendes Schutzverhalten, sondern durch eine Zunahme anderer sexuell übertragbarer Infektionen zustande.
HETEROSEXUELLE ÜBERTRAGUNG
Die Gesamtzahl der HIV-Neudiagnosen mit Angabe eines heterosexuellen Übertragungsrisikos stieg von 2006 bis 2007 von 384 auf 413 Fälle. Der Anstieg betrifft Frauen wie Männer gleichermaßen. Im Vergleich mit dem Jahr 2006 stieg die Zahl der Neudiagnosen im Jahr 2007 in dieser Gruppe insbesondere in den Bundesländern Baden-Württemberg und Hessen an, während die Zahl in Berlin zurückging. Die Angabe "heterosexuelle Übertragung" ist leider nicht so belastbar wie die Angabe "MSM" oder "IVD", da im Einzelfall Angaben zu einem konkreten Übertragungsrisiko (Partner aus einer Gruppe mit erhöhtem Infektionsrisiko) oder Kontakt mit einem konkreten HIV-positiven Partner häufig fehlen. Das Verhältnis Männer zu Frauen in dieser Gruppe hat sich von 0,98 im Jahr 2000 stetig auf 1,63 im Jahr 2007 erhöht. Daher kann vermutet werden, dass ein Teil der Männer, die diesen Infektionsweg angeben, sich tatsächlich auf anderem Weg infiziert hat.
PERSONEN AUS HOCHPRÄVALENZLÄNDERN
Abb. 3a: Verteilung der HIV-Erstdiagnosen mit Risikoangabe IVD nach Bundesland und Jahr der Diagnose
Abb. 3b: Verteilung von HIV-Erstdiagnosen bei IVD aus der Herkunftsregion Osteuropa nach Bundesland und
Jahr der Diagnose
Mit einem Rückgang von 309 auf 254 ist die Zahl der HIV-Neudiagnosen bei Personen aus Hochprävalenzregionen gegenüber dem Vorjahr deutlich niedriger. Der Rückgang wurde in erster Linie in den Bundesländern Baden-Württemberg, Hessen, Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen registriert, während in den übrigen Bundesländern die Zahlen im Wesentlichen gleich blieben. Worauf der Rückgang zurückzuführen ist, bleibt unklar. Neben einer verminderten Zuwanderung aus Hochprävalenzregionen müssen auch Veränderungen beim Testangebot bzw. der Wahrnehmung von Testangeboten als Erklärung in Betracht gezogen werden.
I.V.-DROGENGEBRAUCHER
Die Zahl der HIV-Neudiagnosen bei Gebrauchern intravenös konsumierter Drogen ist nach einer Spitze von 162 Meldungen im Jahr 2006 mit 152 Fällen wieder leicht zurückgegangen. Nahezu die Hälfte aller Meldungen mit Angabe eines Infektionsrisikos über intravenösen Drogenkonsum kam aus dem Bundesland Nordrhein-Westfalen, jeweils 8-10% der Meldungen aus den Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Niedersachsen. In Sachsen-Anhalt wurde mit 9 HIV-Neudiagnosen im Jahr 2007 eine für die neuen Bundesländer ungewöhnliche, relativ hohe Anzahl von HIV-Neudiagnosen bei IVD gemeldet. Eine mögliche Erklärung für die Veränderung der regionalen Verteilung von HIV-Neudiagnosen bei IVD könnte im Einfluss der HIV-Epidemie bei Drogengebrauchern in Osteuropa liegen. Die höchsten Anteile von Drogengebrauchern aus Osteuropa werden aus Sachsen, Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen berichtet. Drogengebraucher mit Herkunft aus Osteuropa stellen zwar nur einen kleinen Teil der HIV-Neudiagnosen bei Drogengebrauchern, aber über den Einfluss von frisch infizierten aktiv Drogen konsumierenden Drogengebrauchern aus Osteuropa kann möglicherweise eine kritische Schwelle überschritten werden, die lokale/regionale ausbruchsartige Infektketten auslöst. Ob und in welchem Umfang solche importierten Infektionen zu Infektketten führen, hängt aber von den Strukturen der lokalen und regionalen Drogenszenen ab. Dazu liegen derzeit keine oder nur unzureichende Informationen vor.
VERTIKALE TRANSMISSION
Im Jahr 2007 wurden 25 HIV-Infektionen (1%) bei Kindern und Neugeborenen diagnostiziert die sich über ihre Mutter infiziert haben. Davon wurden 16 in Deutschland geboren und neun Kinder sind bereits infiziert nach Deutschland eingereist. Bei dreizehn der sechzehn in Deutschland geborenen Kinder war der Mutter kein HIV-Test in der Schwangerschaft angeboten worden, die Schwangerschaften lagen zwischen 1997 und 2007. In diesem Zusammenhang soll darauf hingewiesen werden, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) im Dezember 2007 die aktualisierte Mutterschaftsrichtlinie veröffentlicht hat und die betreuenden Ärzte nunmehr verpflichtet sind, den HIV-Test im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen anzubieten.
In zwei Fällen war die Infektion der Mutter in der Schwangerschaft bekannt und es erfolgten prophylaktische Maßnahmen. Es liegen aber nicht genügend Informationen vor, um beurteilen zu können, ob die Schwangerschaftsbetreuung entsprechend der Leitlinien erfolgte. In einem Fall, in dem entsprechend der Leitlinien vorgegangen worden war, wurde eine HIV-Infektion des Kindes nach mehrfachen unauffälligen PCR-Befunden und rückläufigen Antikörper-Titern erst im Alter von 18 Monaten entdeckt. Der genaue Infektionsmodus konnte nicht aufgeklärt werden.
REGIONALISIERTE TRENDS
Abb. 4: Trends bei HIV-Neudiagnosen bei MSM in den ostdeutschen Bundesländern nach Halbjahr der
Diagnose, 2003-2007
Abb. 5: Trends bei Syphilis- (Männer ohne Hetero) und HIV-Neudiagnosen bei MSM in NRW nach Halbjahr
der Diagnose, 2003-2007
Die regionale Entwicklung der HIV-Neudiagnosen in den letzten 4-5 Jahren verläuft uneinheitlich: In den meisten Regionen wechseln sich Perioden von Zu- und Abnahmen der HIV-Neudiagnosezahlen ab (beispielhaft siehe Entwicklung bei MSM in den ostdeutschen Bundesländern Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, Abb.4). Ausnahme bildete bisher Nordrhein-Westfalen, wo die HIV-Neudiagnosezahlen bei MSM seit 2001 kontinuierlich angestiegen sind (Abb.5). Die unterschiedlichen regionalen Entwicklungen sprechen dagegen, dass es sich um primär verhaltensbedingte oder unmittelbar durch Wirksamkeit präventiver Maßnahmen beeinflusste Trends handelt. Es gibt keine Hinweise dafür, dass es zeitliche und regionale Schwankungen von Risikoverhalten gäbe, die derartige Trends direkt erklären könnten. Vielmehr sprechen die unterschiedlichen regionalen Zeittrends für den Einfluss eines nicht verhaltensbedingten Kofaktors, der im Zeitverlauf zu- und abnimmt. Als auch biologisch plausibler Faktor, der solche Bedingungen erfüllt, bietet sich die Syphilis-Ko-Epidemie bei MSM an.
EINFLUSS DER SYPHILIS AUF DIE HIV-EPIDEMIE
In der Tat sind für die Syphilis periodische Schwankungen der Inzidenz beschrieben und unter Berücksichtigung der Möglichkeit dreier verschiedener Szenarien einer parallel mit HIV ablaufenden Syphilisepidemie zeigen die zeitlichen Verläufe von Syphiliswellen in den verschiedenen Regionen ein hohes Maß an Übereinstimmung mit den zeitlichen Trends für HIV-Neuinfektionen (Abb. 4 und 5).
Szenario 1 ist die Ausbreitung der Syphilis in sexuellen Netzwerken überwiegend HIV-infizierter MSM. Dieses Szenario führt zu keinen nennenswerten Veränderungen bei HIV-Neudiagnosen.
Szenario 2 stellt die Ausbreitung der Syphilis in bezüglich des HIV-Status gemischten sexuellen Netzwerken dar. In diesem Szenario kann die Syphilis sowohl die Empfänglichkeit für eine HIV-Infektion bei einer HIV-negativen Person als auch die HIV-bezogene Infektiosität einer HIV-positiven Person erhöhen: Konsequenz dieser Interaktion ist die Erhöhung der HIV-Übertragungswahrscheinlichkeit pro (ungeschütztem) Sexualkontakt.
Szenario 3 schließlich ist eine Ausbreitung der Syphilis in überwiegend HIV-negativen sexuellen Netzwerken, was auch wieder keine unmittelbaren Auswirkungen auf HIV-Neuinfektionen hat. Das dritte Szenario ist hauptsächlich in Regionen mit geringer HIV-Prävalenz zu erwarten.
WIE KANN MAN SICH EINEN EINFLUSS DER SYPHILIS AUF DIE HIV-EPIDEMIE VORSTELLEN?
Zunächst ist festzuhalten, dass es um die Frage geht, welche Faktoren für die Zunahme von HIV-Infektionen bei MSM in den letzten Jahren (seit ca. 2001) verantwortlich sind. Es geht also nicht um eine Erklärung für alle HIV-Neuinfektionen. Syphilis als Kofaktor für die Übertragung von HIV hat in den neunziger Jahren vermutlich nur eine ganz geringe Rolle gespielt, da Prävalenz und Inzidenz der Syphilis damals den niedrigsten Stand seit Beginn der Registrierung von Syphiliserkrankungen erreicht hatten. Es kann also ein Basislevel von HIV-Neuinfektionen, für das der Kofaktor Syphilis keine Rolle spielt, angenommen werden. Dieses lag bei MSM Ende der 90er Jahre bei geschätzten ca. 1.000 HIV-Neuinfektionen/ Jahr. Die hohe Übertragungswahrscheinlichkeit von HIV in der Phase der Primärinfektion, andere STI-Kofaktoren wie Herpes genitalis und verhaltensbedingte Risiken wie häufiger Verzicht auf Kondomanwendung innerhalb fester Partnerschaften spielen für dieses Basislevel wahrscheinlich eine wichtige Rolle.
Neben der zeitlichen Koinzidenz des Anstiegs der HIV-Neudiagnosen bei MSM und der Re-Etablierung eines endemischen Niveaus der Syphiliszirkulation bei MSM ist ein Einfluss auch biologisch plausibel. Aus einer Vielzahl von Untersuchungen ist bekannt, dass gleichzeitig vorliegende andere Infektionen bei HIV-Infizierten zu einer Immunaktivierung führen können, in deren Folge auch die HIV-Vermehrung zunimmt2. Im Kontext sexuell übertragbarer Erreger kann es sich dabei um ein vorwiegend lokales Phänomen an der infizierten Schleimhaut (Gonorrhö, Chlamydien, Trichomonas, bakterielle Vaginose) oder um ein kombiniertes lokales und systemisches Geschehen bei generalisierenden systemischen oder invasiven Infektionen (Syphilis, Herpes genitalis, Lymphogranuloma venereum) handeln. Beim Herpes genitalis ist darüber hinaus eine Wechselwirkung der Herpes-und HI-Viren untereinander, bei der Syphilis ein immunologischer Effekt auf die Expression des CCR5-Rezeptors, eines für die Infektion von Zielzellen durch HIV wichtigen zellulären Rezeptors, beschrieben3, 4, 5. Epidemiologisch gesehen scheinen die mit Schleimhautgeschwüren einhergehenden generalisierenden Infektionen eine deutlich größere Auswirkung auf die HIV-Verbreitung zu haben als die lokal begrenzten bakteriellen Schleimhautinfektionen. Wie groß der jeweilige Kofaktoreneffekt ist, ist schwierig zu messen. Vergleichende Untersuchungen in Populationen mit deutlich unterschiedlicher Syphilis-Prävalenz können Hinweise geben, man kann bei solchen Vergleichen aber nicht immer sicher ausschließen, dass andere, möglicherweise nicht erfasste Einflussfaktoren eine Rolle spielen6.
DER KOFAKTORENEFFEKT DER SYPHILIS IST SCHWER GENAU ZU QUANTIFIZIEREN
Der Anteil der beobachtbaren Ko-Diagnosen von HIV und Syphilis auf individueller Ebene beschreibt wahrscheinlich nur einen Teil des wechselseitigen Einflusses auf die jeweilige Übertragungshäufigkeit und die jeweilige Kofaktorenrolle, da zum einen nicht immer systematisch und unter Berücksichtigung von serologischen Fensterperioden auf beide Infektionen hin untersucht wird. Zum anderen sind die Übertragungswege für HIV und Syphilis unterschiedlich: HIV wird über virushaltiges Sperma, Vaginalsekret oder beim Kontakt von Penis- und rektaler Schleimhaut übertragen, die Syphilis dagegen beim Kontakt mit erregerhaltigen Syphilisläsionen an Haut und Schleimhäuten. Bei einem sexuellen Kontakt mit einer HIV-Syphilis-koinfizierten Person können also sowohl beide Erreger gleichzeitig als auch nur einer der beiden Erreger übertragen werden.
In Deutschland lag der Anteil der vermutlichen Ko-Diagnosen in einer entsprechenden Analyse von Syphilis- und HIV-Meldungen im Zeitraum Januar 2001 bis Juni 2004 bei ca. 10% der HIV-Erstdiagnosen7.
Derzeit plant das RKI weitere Analysen und Untersuchungen, um das Ausmaß des vermuteten Kofaktoreneffekts besser quantifizieren zu können.
WELCHE KONSEQUENZEN HÄTTE DIE IDENTIFIZIERUNG EINES EPIDEMIOLOGISCH BEDEUTSAMEN KOFAKTORENEFFEKTES DER SYPHILIS FÜR DIE HIV-PRÄVENTIONSSTRATEGIEN?
Da die Syphilis vielfältigere Wege der Übertragung als HIV kennt, sind die auf HIV zugeschnittenen Safer-Sex-Botschaften nur bedingt gegenüber der Syphilis wirksam. Weitere Botschaften und Maßnahmen, um die Syphilis-Verbreitung einzudämmen, sind neben dem Kondomgebrauch die Reduktion hoher Partnerzahlen (z.B. durch Maßnahmen, die zur Stabilisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften beitragen), häufigere Untersuchungen, um Infektionen frühzeitig zu entdecken und schneller behandeln zu können, und ein aggressiveres therapeutisches Management (z.B. durch vorbeugende Therapie bei Kontaktpersonen, die sich noch innerhalb der Fensterperiode befinden). Empfehlungen, in welchen Abständen bzw. nach wie vielen Partnerwechseln Untersuchungen durchgeführt werden sollten, wären hilfreich. Ebenso eine klare Stellungnahme des Gemeinsamen Bundesausschusses, dass Screening-Untersuchungen auf Syphilis (und andere STI) bei besonders gefährdeten Personengruppen über die Krankenkassen finanziert werden. Schließlich sollte die im §19 IfSG festgeschriebene Verpflichtung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, besonders gefährdeten Gruppen Beratung, Diagnostik und Therapie für STIs anzubieten, wenn nötig auch aufsuchend und anonym, ernst genommen werden. Um einen HIV-präventiven Effekt zu erzielen, müssten durch niedrigschwellige öffentliche Angebote vor allem auch bereits diagnostizierte HIV-Infizierte, die noch nicht in antiretroviraler Behandlung sind, erreicht werden. Diese Personengruppe fällt derzeit zwischen alle Stühle: sie sind noch nicht in regelmäßiger ärztlicher Betreuung wie diejenigen, die eine antiretrovirale Therapie erhalten, und sie werden nicht mehr durch Präventionsbotschaften und Testangebote angesprochen, deren primäres Ziel die Prävention von HIV-Infektionen ist.
Literatur
1. Bochow M, Schmidt AJ, Grote S (2007): Schwule Männer und AIDS. 8.Wiederholungsbefragung im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln. mimeo, Social Science Research Center, Berlin
2. Palacios R, Jiménez-Oñate F, Aguilar M, Galindo MJ, Rivas P, Ocampo A, Berenguer J, Arranz JA, Ríos MJ, Knobel H, Moreno F, Ena J, Santos J (2007). Impact of syphilis infection on HIV viral load and CD4 cell counts in HIV-infected patients. J Acquir Immune Defic Syndr, 44 (3): 356-9
3. Salazar JC, Cruz AR, Pope CD, Valderrama L, Trujillo R, Saravia NG, Radolf JD (2007). Treponema pallidum elicits innate and adaptive cellular immune responses in skin and blood during secondary syphilis: a flow-cytometric analysis. J Infect Dis, 195 (6): 879-87
4. Sellati TJ, Wilkinson DA, Sheffield JS, Koup RA, Radolf JD, Norgard MV (2000). Virulent Treponema pallidum, lipoprotein, and synthetic lipopeptides induce CCR5 on human monocytes and enhance their susceptibility to infection by human immunodeficiency virus type 1. J Infect Dis, 181 (1): 283-93
5. Sheffield JS, Wendel GD, McIntire DD, Norgard MV (2007). Effect of Genital Ulcer Disease on HIV-1 Coreceptor Expression in the Female Genital Tract. J Infect Dis, 196 (10): 1509-1516
6. Freeman EE, Orroth KK, White RG, Glynn JR, Bakker R, Boily MC, Habbema JDF, Buvé A, Hayes RJ: Proportion of new HIV infections attributable to herpes simplex 2 increases over time: simulations of the changing role of sexually transmitted infections in sub-Saharan African HIV epidemics. Sex Transm Infect 2007; 83 (Suppl 1): i17-i24
7. Marcus U, Kollan C, Bremer V, Hamouda O (2005). Relation between the HIV and the re-emerging syphilis epidemic among MSM in Germany: an analysis based on anonymous surveillance data. Sex Transm Infect, 81 (6): 456-7