VERANTWORTUNG ALS ZENTRALES THEMA EINER AIDS-KONFERENZ
HIV/Aids - Ethische Perspektiven
Vom 19. bis zum 21. Juni 2008 kamen auf Einladung der Deutschen AIDS-Hilfe und der Goethe-Universität über 230 Teilnehmer und gut 40 Referenten zusammen, um auf einer Fachkonferenz ethische Perspektiven von HIV/AIDS gemeinsam zu diskutieren. Angestoßen wurde diese Konferenz von der Deutschen AIDS-Hilfe, die sich in der alltäglichen Arbeit seit jeher mit einer Vielzahl ethischer Fragen konfrontiert sieht, etwa der Frage, an welchen Werten sich die HIV-Prävention orientieren soll oder welche Forderungen an den Einzelnen und die Gesellschaft gestellt werden können bzw. sollen?
Plakat zur Bewerbung der Konferenz bei Aidshilfen und in Universitäten
Mit Gründung der Deutschen AIDS-Hilfe vor 25 Jahren wurden bereits früh wichtige ethische Grundentscheidungen gefällt: Mit dem Entschluss, Primärprävention und die Sorge um Menschen mit HIV eng miteinander zu verzahnen und die Entstigmatisierung von Menschen mit HIV als ein Kern der Prävention zu begreifen, wurde deutlich Position bezogen. Auch in den Folgejahren folgten Wertediskussionen, insbesondere bei der Ausgestaltung der Primärprävention. Immer wieder galt und gilt es, sich maßlosen Forderungen nach absoluter (Verhaltens)-Kontrolle entgegenzustellen und Präventionsstrategien zu entwickeln, die das Individuum und seine realen Möglichkeiten berücksichtigen, sowie auf gesellschaftlich-strukturelle Präventionshindernisse Einfluss zu nehmen.
Ziel der Konferenz war, diese ethischen Fragen in einen breiteren wissenschaftlichen Diskurs zu tragen. Die DAH konnte dafür die Goethe-Universität Frankfurt als Kooperationspartner gewinnen, wissenschaftlicher Leiter der Tagung war Professor Stefan Alkier vom Fachbereich Evangelische Theologie. Über 40 Referent(inn)en aus Philosophie, Religionswissenschaft, Medien, Recht und Politik waren nach Frankfurt eingeladen, um zu aktuellen ethischen Fragen Position zu beziehen.
Die Tagung fand in Kooperation mit dem Bundesministerium für Gesundheit und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und mit weiterer Unterstützung durch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) der Schweizerischen Eidgenossenschaft statt.
Nach dem Eröffnungsvortrag von Professor Julian Nida-Rümelin, der "die Freiheit des Einzelnen und das Interesse der Gesellschaft" anhand ethischer Konzepte wie dem Utilitarismus zueinander in Beziehung setzte, folgten Vorträge, Podiumsdiskussionen und Workshops in mehr als neun Themengebieten der Ethik.
HIV/AIDS IN DEN MEDIEN
Rafael Capurro, Professor für Informationswissenschaft und Informationsethik an der Stuttgarter Hochschule der Medien, setzte sich in seinem Vortrag "Fremddarstellung - Selbstdarstellung. Über Grenzen der Medialisierung menschlichen Leidens" kritisch mit der Darstellung von HIV und Aids in den Massenmedien auseinander. Als Alternative zur Fremddarstellung durch Printmedien, Funk und Fernsehen, die häufig voyeuristische Tendenzen zeige, sieht Capurro das Internet, das durch die vielfältigen Möglichkeiten der interaktiven Selbstdarstellung genauere Beschreibungen der Lebenswirklichkeiten biete. Auch Dr. Klaus Wiegerling ging in seinem Vortrag "Tabu und Notwendigkeit: das Dilemma Aids zu zeigen" auf die Schwierigkeit der medialen Abbildung von Krankheit, Tod und Sterben ein. Für ihn stellt vor allem die Kunst eine gute Möglichkeit dar, eine kommunikative Brücke zu schlagen.
GLOBALE VERANTWORTUNG
Im Bereich der Wirtschaftsethik diskutierten Dr. Christoph Benn, Director of External Relations beim Global Fund to Fight AIDS, Tubercolosis and Malaria der WHO ("Globale Herausforderung - Globale Verantwortung. Aids als Anfrage an die gerechte Allokation von Ressourcen") und Peter Koslowski, Professor für Philosophie an der Freien Universität Amsterdam, ("Die ethische Ökonomie der gesundheitspolitischen und die Unternehmensethik der betrieblichen Bekämpfung von HIV/Aids") die Frage, welche globale Verantwortung reiche Staaten für die Gesundheitsvorsorge in Entwicklungsländern tragen, wie knappe Mittel gerecht verteilt werden können und ob die "Bevorzugung" der Behandlung von Aids gegenüber anderen Erkrankungen ethisch gerechtfertigt sei.
www.hivtravel.org - Neues Internetangebot
Die neue Website ist das Ergebnis einer langjährigen Zusammenarbeit auf internationaler Ebene zwischen der Deutschen AIDS-Hilfe, der European AIDS-Treatment Group und der International AIDS Society.
Das Internetangebot steht weltweit allen HIV-Positiven, Beratenden und Interessierten zur Verfügung. Die ausführliche Datensammlung bietet aktuelle Informationen rund um das Thema Reisen mit HIV, also hauptsächlich zu Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen - www.hivtravel.org
Wilhelmstraße 138 · 10963 Berlin
Tel.: 0 30 / 69 00 87-52/-53 · Fax: 0 30 / 69 00 87-42
FÜR VIELFALT - GEGEN AUSGRENZUNG
Ein vielbeachteter Beitrag kam von Prof. Rita Süßmuth, ehemalige Bundestagspräsidentin, die im Bereich "Politische Ethik" ihre Erfahrungen im Aidsbereich resumierend deutlich forderte, die Prävention und Behandlung von Aids stets auch in gesellschaftlichen Bezügen zu denken. Neben der Bekämpfung von Armut in den Entwicklungsländern heißt das für sie vor allem auch, sich gegen Ausgrenzung von HIV-Positiven und Menschen, die eine nicht-normative Sexualität leben, zu wenden. "Warum lassen wir nicht Vielfalt gelten?", fragte Süßmuth. Nicht der Grund der HIV-Infektion ist wichtig, sondern zu erfahren "wie helfe ich Dir, dass du in der Situation ein Unterstützer und Einbezogener bist".
INDIVIDUELLE VERANTWORTUNG
In mehreren Vorträgen wurde der Frage der Verantwortung des Einzelnen bei der sexuellen HIV-Übertragung nachgegangen. Wolfgang Frisch, Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtstheorie an der Universität Freiburg, wertete in seinem Vortrag "HIV-Infektionsrisiken und rechtliche Verhaltensordnung. Die Stellungnahme der rechtlichen Ethik" Recht und Rechtsprechung hinsichtlich der Aufklärungspflicht und des Strafbestandes der Körperverletzung aus. Für Frisch haben HIV-Positive prinzipiell eine Aufklärungspflicht gegenüber einem möglichen Sexualpartner. In der anschließenden Diskussion wurde dann kontrovers diskutiert, ob die Forderung nach Aufklärung und Schutz auch bei Viruslast unter der Nachweisgrenze gelten müsse. Das Strafrecht betrachtet Frisch als notwendiges Instrumentarium der Prävention. Jacob Hösl, Rechtsanwalt aus Köln, und Prof. Pärli, Forschungsleiter des Zentrums für Arbeits- und Sozialversicherungsrecht der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wintherthur, betonten im Workshop "Recht als Mittel der HIV-Prävention" hingegen, dass in der Prävention weniger das Strafrecht als vielmehr die Menschenrechte und das Antidiskriminierungsrecht als Schutz für Menschen mit HIV diskutiert werden müssten.
RECHT AUF SELBSTSCHÄDIGUNG?
Vittorio Hösle, Professor für Philosophie an der Universität Notre Dame (USA), setzte sich in seinem von Professor Alkier vorgelesenem Beitrag u.a. mit der Frage auseinander: "Wie weit ist man dafür verantwortlich, sich über sich selbst zu informieren?". Prinzipiell gibt es für Hösle ein Recht auf Unwissenheit. Er fordert jedoch, dass ungetestete Menschen, die ein Infektionsrisiko hatten, andere durch ihr Verhalten vor einer möglichen Infektion schützen müssen. Im Weiteren ging Hösle auf den einvernehmlichen ungeschützten Geschlechtsverkehr in diskordanten sexuellen Begegnungen ein (ein Partner HIV-positiv, einer HIV-negativ), den er unter moralischen Gesichtspunkten kritisch sieht. Für Hösle gibt es kein "Recht auf Selbstschädigung", da für ihn menschliches Leben ein viel zu hohen Wert hat, "als dass man es ohne guten Grund aufs Spiel setzen kann". Dr. Dr. Stefan Nagel setzte dem in seinem Beitrag im Workshop "Verantwortung in der HIV-Prävention" die These entgegen, dass die Selbstverpflichtung eines HIV-Positiven stets nur geschützten Geschlechtsverkehr mit seinem Partner zu haben, auch wenn dieser explizit "unsafe sex" wünscht, ein Eingriff in die Autonomie des zu Schützenden darstellt. Den HIV-Positiven sieht er in der beschriebenen Situation in einem ethischen Dilemma: Entweder er erklärt den anderen für unmündig und zwängt ihm sein Wertesystem auf, oder er gefährdet möglicherweise die Gesundheit des anderen. Nagel versuchte das Dilemma mit einem Modell aufzulösen, das die Verantwortung fürs eigene Handeln konsequent an den Einzelnen zurückdelegiert.
WER TRÄGT DIE VERANTWORTUNG BEI GESUNDHEITSRISIKEN?
Für Poul Lübcke, Professor am Institut für Philosophie der Universität Kopenhagen ("Grenzen des Rechts zur Selbstzerstörung in einer liberalen Gesellschaft"), ist der ungeschützte Geschlechtsverkehr zwischen zwei gleichberechtigten Partner moralisch kein Problem. Allerdings räumt Lübcke dem Staat die Möglichkeit ein, sich von den ökonomischen Folgen eines selbstschädigenden Verhaltens wie dem bewussten Eingehen eines Infektionsrisikos z.B. über Krankenkassenregelungen abzugrenzen.
Zu anderen Schlussfolgerungen kam Bettina Schmidt, Professorin für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in ihrem Beitrag "Völlig gesund und vollends verantwortlich. Die Gesundheitsforderung der Gesundheitsförderung", den sie im Themenbereich "Ethik der Prävention" vortrug. Sie kritisierte die gesundheitspolitische Entwicklung, Verantwortung für Gesundheitsrisiken zunehmend beim Individuum zu sehen und systemische Einflussgrößen auszublenden. Mit Forderungen nach einer finanziellen Beteiligung von Patienten bei "selbstverschuldeten Krankheiten" wie bei der aktuellen Regelung zur Behandlung von Tatoo/Piercing-Schäden solle das Solidaritätsprinzip scheibchenweise verabschiedet werden und Kosten auf den Schwächsten abgewälzt werden. Schmidt forderte hingegen eine größere soziale Verantwortung für die Gesundheit und ein systemisches Risikomanagement. Auf Risikoverhalten wie zum Beispiel den intravenösen Drogengebrauch sollte ihrer Meinung nach nicht mit Sanktionen, sondern mit Hilfsangeboten reagiert werden.
PRÄVENTION: GESUND UM JEDEN PREIS?
Dr. Stefan Etgeton skizzierte in seinem Beitrag "Gesund um jeden Preis? Prävention und ihre Grenzen" einen "Präventionsknigge" für die HIV-Prävention, der einen Verzicht auf Angst- und Todesmetaphern und die Maßgabe enthält, dass keine Botschaft auf Kosten der Betroffenen gesendet werden darf. Diesen "Knigge" sieht er zum Beispiel durch die aktuelle Kampagne der Michael-Stich-Stiftung verletzt, die sich gegen HIV-positive Mütter richte und vor allem Angst transportiere. Als entscheidend für die HIV-Prävention sieht Etgeton die Berücksichtigung der Tatsache, dass der Einzelne sich stets im Widerstreit zwischen kurzfristigem Wohlbefinden und dauerhaftem Wohlergehen befinde. Die langfristige Sicherung der Gesundheit werde dabei jedoch nicht immer und von jedem als das höchste Gut wahrgenommen. Für Etgeton muss Prävention Lebensumfelder und soziale Strukturen einbeziehen und im Sinne eines emanzipatorischen Vorgehens den Einzelnen dazu befähigen, ein Risiko realistisch zu bewerten, damit dieser dann eine selbstbestimmte Entscheidung fällen kann.
Die Vorträge und anschließenden Diskussionen zeigten, wie weit ethische Fragen das medizinische und das soziale Thema "HIV/Aids" berühren. Die Deutsche AIDS-Hilfe arbeitet derzeit an einer umfangreichen, redaktionell aufbereiteten Tagungsdokumentation, die die Konferenzinhalte einem breiteren Publikum zugänglich machen soll. Geplantes Erscheinungsdatum ist Ende 2008. Parallel dazu wird die Goethe-Universität mit Unterstützung der Deutschen AIDS-Hilfe einen wissenschaftlichen Tagungsband herausgeben, der sämtliche Vortragstexte in vollständiger Form enthalten wird.
In den Schlussworten betonte der Bundesgeschäftsführer der Deutschen AIDS-Hilfe, Dr. Luis Carlos Escobar Pinzón, dass die DAH ethische Fragen zukünftig immer wieder auf die Agenda ihrer Arbeit setzen und diskutieren wird. Denn, so Escobar, "der gesellschaftliche Konsens darüber, von HIV und Aids Betroffene und Bedrohte zu unterstützen und eine Solidargemeinschaft zu erhalten, muss jeden Tag neu erkämpft und neu mit Leben erfüllt werden."