ULRICH MARCUS, BERLIN
Die HIV-Pandemie bei Männern die Sex mit Männern haben

In den letzten Jahren gibt es zunehmend Untersuchungen zum Ausmaß der HIV-Epidemie bei MSM in Entwicklungs- und Schwellenländern. MSM sind die Hauptbetroffenengruppe von HIV in Lateinamerika, spielen eine wichtige und offenbar zunehmende Rolle in Asien und sind auch in Subsahara-Afrika und Osteuropa stark von der HIV-Epidemie betroffen. In Nordamerika, Westeuropa und Australien nimmt die HIV-Inzidenz bei MSM in den letzten Jahren wieder zu.

Mehr Mittel für MSM-Gesundheit!

Es gibt kein Land, in dem der Anteil der Mittel, die in die HIV-Prävention für MSM investiert werden, proportional dem Anteil der MSM an der Epidemie ist. Durchgehend werden diejenigen, die das höchste Risiko für eine HIV-Infektion haben, in der Prävention am schlechtesten bedacht werden. Dies gilt nicht nur für MSM, sondern auch für Sexarbeiter und Drogengebraucher sowie deren heterosexuelle Partner. Gesundheits-Dienstleistungen sind für MSM entweder nicht oder nur in schlechterer Qualität verfügbar. Hinzu kommt, dass der sexuellen und reproduktiven Gesundheit für Männer generell zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Die bisherige Erfahrung zeigt eindeutig: in jedem Land, in dem nach der Existenz von Menschen gesucht wird, die sich sexuell zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlen, wird man solche Menschen auch finden. Die Art und Weise, wie sie ihre sexuellen Bedürfnisse ausleben, wie sie sich selbst und ihre Position in der Gesellschaft wahrnehmen, sind allerdings vielfältig und unterschiedlich und werden stark dadurch geprägt, wie die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft mit Sexualität allgemein, mit Frauen und mit Minderheiten umgeht, die eine andere sexuelle Identität haben. Gleichgeschlechtliche Sexualität ist daher zugleich eine menschheitsgeschichtliche Konstante und ein soziales Konstrukt. Da es im folgenden Beitrag um die HIV-Pandemie bei MSM geht, liegt der Fokus auf Männern. Die Situation von Frauen, die Sex mit Frauen haben ist nicht Gegenstand der Erörterungen.

VERSCHIEDENE BEGRIFFE, UNTERSCHIEDLICHE KONZEPTE?

Homosexuell, homophil, schwul, Männer die Sex mit Männern haben - es gibt verschiedene Bezeichnungen für gleichgeschlechtliche Sexualität zwischen Männern. Historisch gesehen hat sich der Diskurs so entwickelt, dass im Zusammenhang mit HIV/AIDS in den westlichen postindustriellen Gesellschaften zunächst von homo- und bisexuellen Männern die Rede war. Der Diskurs reflektierte, dass diese Gruppen mit definierten sexuellen Identitäten zum einen sichtbar und zum anderen besonders betroffen waren. Sobald man den Blick jedoch auf Länder und Regionen außerhalb dieses Kulturkreises richtet, zeigt sich, dass die gesellschaftliche Realität durch diese Begriffe nicht mehr angemessen reflektiert wird. Sexuelle Identität ist eben nicht identisch mit sexuellem Verhalten oder sexueller Orientierung.

SPEKTRUM SEXUELLER IDENTITÄTEN

Ein Beispiel dafür liefert der Blick auf Indien, welches eine vieltausendjährige Geschichte gleichgeschlechtlicher Sexualität hat, die erst im 19. Jahrhundert durch die britische Kolonialherrschaft im Kontakt mit der christlich-abendländischen Kultur modifiziert wurde. Es gibt dort eine Reihe von verschiedenen sexuellen Identitäten, die in unterschiedlichem Ausmaß männliche und weibliche Geschlechterrollen beinhalten. Neben Männern, die Sex mit anderen Männern haben und dabei eine männliche oder weibliche Geschlechterrolle einnehmen, gibt es Männer, die zwar Sex mit Männern haben, diese aber nicht als Männer wahrnehmen, genauso wie es Männer gibt, die sich selbst nicht als Männer fühlen und wahrnehmen (Abb. 2). Wenn man in Europa oder Nordamerika von Homosexuellen oder einer schwulen Community spricht, ist das nicht das gleiche wie die vielen unterschiedlichen Communities von MSM in Indien, wo sich darunter ein breiteres Spektrum heterogener sexueller Identitäten verbirgt.

Abb. 2: Spektrum sexueller Identitäten und sexuellen Verhaltens bei Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten in Indien
Abb. 2: Spektrum sexueller Identitäten und sexuellen Verhaltens bei Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten in Indien

MEHR TRANSGENDER IN LATEINAMERIKA UND ASIEN

Im Unterschied zu einem betont maskulinen Erscheinungsbild von schwulen Männern in Westeuropa, Nordamerika und Australien sind ein feminines Erscheinungsbild und eine feminine Identität bei sich zu gleichgeschlechtlichen Kontakten bekennenden Männern in Lateinamerika, Asien und Afrika häufiger. Vor allem in Lateinamerika und Asien gibt es auch einen relativ hohen Anteil von Männern mit femininem Erscheinungsbild und femininer Identität (Transgender: Transvestiten und Transsexuelle), die - auch bedingt durch ihre soziale Stigmatisierung - im Bereich der Sexarbeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Dies trifft besonders auf Länder zu, in denen die Zahl der Frauen in der Sexarbeit begrenzt ist und in denen Straßensexarbeit verbreitet ist. Die größere Stigmatisierung und ein erhöhtes Risiko durch Sexarbeit tragen dazu bei, dass Transgender in vielen Ländern noch stärker von HIV betroffen sind als MSM (Tab.1).

Tab. 1: HIV-Prävalenzen bei Transgender (=Transsexuelle und Transvestiten) im Vergleich zu MSM und Allgemeinbevölkerung, Asien und Lateinamerika, 2001-2007
Tab. 1: HIV-Prävalenzen bei Transgender (=Transsexuelle und Transvestiten) im Vergleich zu MSM und Allgemeinbevölkerung, Asien und Lateinamerika, 2001-2007

LIEBE UND SEX IM VERBORGENEN SIND DIE REGEL

Abb. 3: Sexuelle Netzwerke von MSM in Indien am Beispiel von "Kothi" und "Panthi"
Abb. 3: Sexuelle Netzwerke von MSM in Indien am Beispiel von "Kothi" und "Panthi"

Die Entwicklung eigener "schwuler" Communities in den postindustriellen westlichen Staaten, in denen MSM ihre sexuellen Präferenzen offen zeigen und leben können, ist im globalen Maßstab betrachtet eine Ausnahme und nicht die Regel. In den meisten Gesellschaften werden sexuelle Kontakte zwischen Männern mehr oder weniger toleriert, wenn sie diskret im privaten Bereich stattfinden, eine Zurschaustellung in der Öffentlichkeit ist aber verpönt. Die unterschiedliche soziale und politische Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Sexualität, aber auch das Ausmaß, in dem sexuelles Verhalten und sexuelle Identität übereinstimmen, haben Auswirkungen auf die Strukturen sexueller Netzwerke und die Ausbreitungsdynamiken sexuell übertragbarer Infektionen inklusive HIV. Abbildung 3 zeigt das sexuelle Netzwerk einer Panthi-Kothi-Beziehung in Indien, die die enge Verknüpfung mit heterosexuellen Netzwerken deutlich macht (Panthi= MSM mit männlicher Geschlechterrolle, Kothi= MSM mit weiblicher Geschlechterrolle in MSM-Beziehung).

Rechtliche Situation von MSM

Männer, die sexuell mit anderen Männern verkehren und Frauen, die mit Frauen verkehren, gibt es in jedem Land dieser Erde. Ihre Existenz mag von Regierungen geleugnet werden, und sexuelle Handlungen zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern sind in vielen Ländern verboten. In 86 Ländern ist einvernehmlicher Geschlechtsverkehr zwischen Männern strafbar, in 21 Ländern mit Gefängnisstrafen von zehn Jahren oder länger, und in sieben Ländern steht darauf sogar die Todesstrafe. Dies führt in vielen Ländern dazu, dass die Existenz von Sex zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern in der Öffentlichkeit unsichtbar wird und dieser ausschließlich oder vorwiegend in privaten Nischen stattfindet.

Abb. 1: Rechtliche Situation von MSM

Länder in denen Homosexualität verboten ist
* die Konsequenz, mit der Verstöße gegen Verbote tatsächlich geahndet werden, variiert erheblich auch zwischen Ländern mit sehr ähnlicher Gesetzgebung

INFEKTIONEN IN SEXUELLEN NETZWERKEN

In Ländern mit einem hohen Maß an Übereinstimmung von sexuellem Verhalten, sexueller Orientierung und sexueller Identität (Westeuropa, Nordamerika, Australien) bilden sich sehr dichte sexuelle Netzwerke in der MSM-Population, in denen es zu einer raschen Ausbreitung sexuell übertragbarer Erreger kommen kann. Epidemien in der MSM-Population haben aber nur eine geringe Ausstrahlung in die heterosexuelle Bevölkerung. Andererseits sind die dichten sexuellen Netzwerke auch assoziiert mit sozialen Netzwerken, die für Aufklärung, Prävention und die Förderung von Verhaltensänderungen genutzt werden können.

In Ländern mit geringer Übereinstimmung von sexuellem Verhalten und sexueller Identität sind die sexuellen Netzwerke weniger dicht und sexuell übertragbare Erreger breiten sich bei MSM langsamer aus. Da gleich- und gemischtgeschlechtliche sexuelle Netzwerke miteinander verknüpft sind, ist die Ausbreitung sexuell übertragbarer Erreger aber diffuser und bleibt nicht so stark auf eine Gruppe beschränkt. Auch sind präventive Interventionen viel schwieriger, weil MSM schlechter gezielt angesprochen werden können.

MSM IN LATEINAMERIKA

Tab. 2: Transsexualität und Sexarbeit bei MSM in Lateinamerika
Tab. 2: Transsexualität und Sexarbeit bei MSM in Lateinamerika

Homosexualität ist mittlerweile in allen Ländern Lateinamerikas legalisiert, während in der Karibik nach wie vor in vielen Ländern homosexuelle Kontakte strafrechtlich verfolgt werden können.

Es können grob vier Kontexte für homosexuelles Verhalten in Lateinamerika unterschieden werden:

  • In sozial unterprivilegierten urbanen Milieus herrscht eine Trennung nach Geschlechterrollen vor. Offen erkennbare MSM haben ein feminines Auftreten/ äußeres Erscheinungsbild oder es handelt sich um Transsexuelle. Sie nehmen vorwiegend die rezeptive Rolle beim Analverkehr ein und Sexarbeit ist nicht selten.
  • Die insertiven Partner und Freier sind meist bisexuelle Männer mit heterosexueller Identität.
  • In den urbanen Mittelklassen haben sich "moderne" Schwulenszenen entwickelt, in denen ein Großteil der Männer nicht auf eine Geschlechterrolle fixiert ist.
  • Auch in den Mittelklassen gibt es natürlich nicht offen lebende bisexuelle Männer, die vorwiegend die insertive Rolle einnehmen, aber auch versatil sein können.

Verschiedene Studien zum Sexualverhalten von MSM in Lateinamerika zeigen einen im Vergleich zu Westeuropa hohen Anteil an bisexuellem Verhalten (Spannbreite ca. 25% bis 64% bezogen auf die Lebenszeit, 8-30% bezogen auf das letzte Jahr), einen hohen Anteil an verheirateten Männern (10% bis 40%), und vergleichsweise hohe Anteile von "Transgenders" (Transsexuellen) in der Gruppe der MSM (10-20%).

Auch im Bereich der Sexarbeit sind auf Grund eines hohen Anteils von Transsexuellen unter den Sexarbeitern die Grenzen zwischen heterosexuellen und gleichgeschlechtlichen sexuellen Netzwerken fließend. Dies führt zu einer höheren Überlappung homosexueller und heterosexueller Kontaktnetzwerke. Infektionen, die sich zunächst primär in MSM-Netzwerken ausgebreitet haben, wie z.B. HIV, verbreiten sich dadurch auch stärker in der heterosexuellen Population.

HIV-Infektionen sind in Lateinamerika konzentriert in der Gruppe der Männer die Sex mit Männern haben sowie bei Transgender.

  • Generalisierte HIV-Epidemien mit vorwiegender heterosexueller Übertragung von HIV gibt es in einigen Staaten der Karibik (Bahamas, Barbados, Dominikanische Republik, Guyana, Haiti, Jamaika, Surinam, Trinidad & Tobago) sowie in Honduras
  • Länder mit einer konzentrierten HIV-Epidemie nur bei MSM: Bolivien, Chile, Kolumbien, Costa Rica, Dominika, Ekuador, El Salvador, Grenada, Guatemala, Mexiko, Nikaragua, Panama, Paraguay, Peru, St Kitts und Nevis, Santa Lucia, St Vincent, Venezuela
  • Länder mit konzentrierten HIV-Epidemien bei MSM und intravenösen Drogenkonsumenten: Argentinien, Brasilien und Uruguay.

Die HIV-Prävalenz bei MSM in Lateinamerika liegt in den publizierten Untersuchungen zwischen 10 und 20%. Dies beschreibt aber die Situation in den größeren Städten und in wahrscheinlich sexuell aktiveren Teilpopulationen und kann daher nicht als repräsentative Zahl für alle MSM interpretiert werden.

Die Form, in der Kondomverwendung in verschiedenen Untersuchungen abgefragt wird, differiert. Daher sind die Untersuchungsergebnisse zum Teil schlecht untereinander vergleichbar. In einer mexikanischen Untersuchung wurde konsequenter Kondomgebrauch im vorhergehenden Jahr von 64% der Befragten berichtet, in anderen Studien liegt der Anteil - bei zum Teil unterschiedlicher Definition - zwischen 10 und 75%.

Daten zur Prävalenz anderer sexuell übertragbarer Infektionen bei MSM liegen nur spärlich vor, systematische Untersuchungen zur Prävalenz rektaler und pharyngealer Infektionen praktisch gar nicht.

AFRIKA

Auch in Subsahara-Afrika gibt es Homosexualität und es gab sie auch schon in der Zeit vor der HIV-Epidemie. Allerdings wird das Leben von Männern mit gleichgeschlechtlichen sexuellen Kontakten in vielen Ländern erschwert durch Gewalt, Stigmatisierung und Diskriminierung. In 36 von 52 Staaten Afrikas ist Homosexualität bis heute verboten, in Nigeria steht auf einvernehmliche homosexuelle Kontakte sogar die Todesstrafe. Die meisten MSM haben neben männlichen auch weibliche Sexualpartner, viele sind mit Frauen verheiratet. Bei gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten wird beim Analverkehr oft auf Kondomverwendung verzichtet.

Dass die Gruppe der MSM in Afrika aus dem Schatten des Verschweigens und Verleugnens ins Licht von Pressekonferenzen und Konferenzvorträgen - zuletzt auf der Internationalen AIDS-Konferenz in Mexiko - gerückt ist, ist letztlich ein Resultat der internationalen Hilfe für die am stärksten von AIDS betroffenen Regionen. Dort wo mit dieser internationalen Hilfe eine systematische Analyse von Infektionsrisiken und Betroffenen durchgeführt wird, stößt man überall auf die Existenz dieser Gruppe, die bislang so stigmatisiert und marginalisiert war, dass ihre Existenz offiziell geleugnet wurde und sie selten die Kraft aufgebracht hat, sich selbst bemerkbar zu machen. Selbst kleine Ermunterungen und der "geschützte" Rahmen, den HIV/AIDS-Arbeit in diesen Ländern bietet, reichen jetzt aus, dass sich neben den sozial benachteiligten und unterdrückten Frauen auch die MSM in diesen Regionen anfangen selbst zu organisieren und für ihre Rechte und Interessen einzutreten.

Abb. 4: HIV-Prävalenzraten bei MSM in Afrika, 2000-08
Abb. 4: HIV-Prävalenzraten bei MSM in Afrika, 2000-08

KRIMINALISIERUNG VERHINDERT PRÄVENTION

Bisher wurden nur in wenigen Ländern Afrikas Studien durchgeführt, in denen die Verbreitung von HIV-Infektionen bei MSM untersucht wurde (Abb. 4). Wie vergleichbar und wie repräsentativ diese Werte in Ländern sind, in denen Homosexualität meist verboten ist und gleichgeschlechtliche sexuelle Kontakte mit Gefängnis bestraft werden können, bleibt eine offene Frage. Die Untersuchungen belegen aber, dass entgegen manch offizieller Behauptung gleichgeschlechtliche Sexualität auch in Afrika existiert, dass man einen Zugang zu dieser Gruppe findet, wenn man es denn ernsthaft versucht, und dass die Vernachlässigung von MSM bei der Aufklärung und Präventionsarbeit durch nichts zu rechtfertigen ist. Die Zahlen legen im Gegenteil nahe, dass Kriminalisierung von gleichgeschlechtlicher Sexualität und rechtliche und soziale Diskriminierung dringend abgebaut werden müssen, um eine erfolgversprechende Präventionsarbeit überhaupt erst aufbauen zu können. Zum Teil fehlen grundlegende Informationen wie die, dass HIV auch und gerade bei Analverkehr übertragen wird: durch Tabuisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität wird der Eindruck vermittelt, HIV könne nur bei heterosexuellem Vaginalverkehr übertragen werden. In Einrichtungen der Gesundheitsversorgung können gleichgeschlechtliche Sexualkontakte auf Grund der gesellschaftlichen Stigmatisierung nicht thematisiert werden, was nicht nur die "Unsichtbarkeit" des Problems erklärt, sondern zum Beispiel auch dazu beiträgt, dass MSM mit verdächtigen STI-Symptomen Kliniken nicht aufsuchen und dass rektale Infektionen mit sexuell übertragbaren Erregern nicht diagnostiziert werden.

PARALLELWELTEN

Ein sehr großer Teil der MSM in Afrika lebt auf Grund des gesellschaftlichen Konformitätsdrucks in heterosexuellen Partnerschaften. Durch die in der Regel geheim gehaltenen parallelen Partnerschaften entstehen, ebenso wie durch konkurrierende heterosexuelle Partnerschaften, sexuelle Netzwerke, in denen sich HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen leicht ausbreiten können.

Beispielhaft seien hier ausgewählte Ergebnisse einer Studie in Nigeria und einer in Mombasa, Kenia, berichtet.

In der nigerianischen Studie wurden 1125 Männer untersucht und befragt, die über Schneeballverfahren (Respondent driven sampling) und Mund-zu-Mund-Propaganda rekrutiert worden waren. Der Altersgipfel lag zwischen 20 und 30 Jahren, Männer älter als 40 Jahre wurden kaum erreicht. 44% bezeichneten sich als homosexuell, 55% als bisexuell.

Die HIV-Prävalenz lag bei 13,5%, die Seroprävalenz von Antikörpern gegen Hepatitis B bei 12%, von Hepatitis C bei 3% und von Syphilis bei 0,3%. Es wurden erhebliche regionale Differenzen beobachtet: so lag die HIV-Prävalenz in Lagos bei 25%, in Kano bei 12% und in einer ländlicheren Region bei 3%. Obwohl ein Viertel der Teilnehmer angab, schon einmal auf HIV untersucht worden zu sein, waren nur 7% der festgestellten HIV-Infektionen bereits bekannt.

Knapp 2/3 der Studienteilnehmer nahm das Angebot einer körperlichen Untersuchung wahr. Etwa ein Viertel der Befragten berichtete anale und/oder genitale Beschwerden. Weniger als 10% aller Teilnehmer hatten jemals im Kontext einer Gesundheitsuntersuchung dem Untersucher gegenüber gleichgeschlechtliche Sexualkontakte angegeben. Die wichtigsten Gründe, bei gesundheitlichen Beschwerden keine Gesundheitseinrichtungen aufzusuchen, waren die hohen Kosten und homophobe Einstellungen beim Personal.

KEIN IMPORT DURCH SEXTOURISMUS

In der kenianischen Studie wurden Männer befragt, die gegen Bezahlung Sex mit Männern haben. Der Anteil der Männer, die angaben, bei Sexualkontakten mit nicht-festen Partnern keine Kondome zu benutzen, lag bei 44%. Männer, die ausschließlich Sex mit männlichen Partnern angaben (n=114), berichteten im Vergleich zu Männern, die Sex mit Männern und Frauen angaben (n=171), zu einem höheren Anteil rezeptiven Analverkehr (75% vs. 40%) und zu einem geringeren Anteil insertiven Analverkehr (46% vs. 91%). Obwohl die Angaben zum Kondomgebrauch in beiden Gruppen gleich waren, lag die HIV-Prävalenz bei den Männern die nur männliche Partner angaben mit 43% deutlich höher als bei den Männern, die auch weibliche Partner hatten (12%). Auch eine aktive Syphilis war mit 7% vs. 1,2% in der ersten Gruppe deutlich häufiger.

Analysen der Virussubtypen, die bei HIV-infizierten MSM in der Studie gefunden werden, belegen, dass die HIV-Epidemie bei MSM mit der lokalen heterosexuellen Epidemie verbunden ist und nicht durch sexuelle Kontakte mit Touristen aus Europa oder Amerika erklärt werden kann.

SÜD-ASIEN

Obwohl auch in Südasien gleichgeschlechtliche Sexualkontakte zwischen Männern gesetzlich unter Strafandrohung stehen, ist die gesellschaftliche Realität eine ganz andere als in Subsahara-Afrika. Gleichgeschlechtliche Sexualität ist zwar stigmatisiert, aber ihre Existenz wird nicht negiert. Eine Umfrage in der männlichen Allgemeinbevölkerung in 5 indischen Bundesstaaten ergab Anteile von 3% bei verheirateten und 10% bei unverheirateten Männern, die sexuelle Kontakte mit einem Mann im vorangegangenen Jahr angeben. Das sind höhere Prozentsätze als bei entsprechenden Befragungen in westeuropäischen Ländern. In bestimmten Berufsgruppen, z.B. bei Lastwagenfahrern, die oft lange unterwegs sind, werden sexuelle Kontakte mit Männern von 15-50% der Befragten angegeben. Dies spricht für eine stärkere Entkoppelung von sexuellem Verhalten und sexueller Identität im Vergleich zu Westeuropa und Nordamerika.

Es gibt sogar eine Gruppe von MSM, die Hijras, denen traditionell religiöse Ehrfurcht entgegengebracht wird. Weitverzweigte soziale Netzwerke spielen für die Kontakte untereinander eine wichtige Rolle. Diese Netzwerke sind teilweise zusätzlich nach Kastenzugehörigkeit bzw. sozialer Stellung separiert.

Die wenigen vorliegenden Studien zu HIV-Prävalenzen bei MSM auf dem indischen Subkontinent berichten weit differierende Prävalenzen zwischen 0,1% in Bangladesh und 7-16% in Südindien (Abb. 5).

Ein Bereich, in dem die gesellschaftliche Stigmatisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität besonders deutlich wird, ist auch in Indien der Umgang mit und die Behandlung von Geschlechtskrankheiten. Nur 2-3% der Befragten aus verschiedenen MSM-Gruppen gaben in einer Befragung an, bei STD-Symptomen in öffentliche Kliniken zu gehen. Die meisten suchen nach einer Behandlungsmöglichkeit im eigenen Netzwerk, bei privat praktizierenden Ärzten, in Apotheken oder bei traditionellen Heilern.

Abb. 5: HIV-Prävalenzen bei MSM in Süd-Asien (MSM = Männer die Sex mit Männern haben; MSW = Male sex workers; TG = transgenders)
Abb. 5: HIV-Prävalenzen bei MSM in Süd-Asien (MSM = Männer die Sex mit Männern haben; MSW = Male sex workers; TG = transgenders)

SÜDOST-ASIEN, CHINA

Die gesellschaftliche Situation für MSM in Südost-Asien und China ist von Land zu Land und auch innerhalb einzelner Länder sehr unterschiedlich. In den großen Städten Chinas hat sich erst in den letzten Jahren eine sichtbare homosexuelle Subkultur entwickelt. In Ländern wie Myanmar und Laos sind MSM noch wenig sichtbar. Thailand bietet in den großen Städten eine florierende homosexuelle Subkultur, insbesondere in Bangkok, Chiang Mai und Pattaya. Am liberalsten ist das Klima gegenüber MSM in Thailand, aber ein offenes Bekenntnis zur Homosexualität von Personen im öffentlichen Leben ist selbst in der Unterhaltungsindustrie noch eine Rarität. Im benachbarten, weniger liberalen Malaysia wurde noch vor kurzem ein Politiker mit dem Vorwurf homosexuell zu sein politisch und sozial kaltgestellt.

Größere und aussagekräftige Untersuchungen zur HIV-Prävalenz bei MSM liegen vor allem für Thailand und China vor. Sie zeigen deutlich steigende HIV-Prävalenzen in den letzten Jahren. In Bangkok wurde bei den letzten, methodisch sehr guten Studien im Jahr 2005 eine alarmierend hohe HIV-Prävalenz von 28% bei MSM gemessen, im Jahr 2007 lag die Prävalenz bei 31% (Abb. 6).

Abb. 6: HIV-Prävalenz bei MSM in Südostasien und China (MSM = Männer die Sex mit Männern haben; MSW = Male sex workers; TG = transgenders)
Abb. 6: HIV-Prävalenz bei MSM in Südostasien und China (MSM = Männer die Sex mit Männern haben; MSW = Male sex workers; TG = transgenders)

MSM-EPIDEMIE VERNACHLÄSSIGT

Auch für andere STI werden hohe Prävalenzen bei MSM beobachtet. Bei der Basisuntersuchung von Teilnehmern einer neu begonnenen Langzeit-Kohortenstudie bei MSM in Bangkok (Silom-Kohorte) wurden folgende Seroprävalenzen bei den 1.292 Teilnehmern bestimmt: HIV 23%, HBV 47%, HAV 27%, HCV 1%, HSV-1 56%, HSV-2 20% und Syphilis 4%. Rektale Infektionen mit Chlamydien wurden bei 9%, eine rektale Gonorrhö bei 6% der Teilnehmer diagnostiziert.

Die HIV-Epidemie in Thailand konzentrierte sich anfangs auf i.v. Drogenkonsumenten und Sexarbeiterinnen. Die Präventionsanstrengungen, mit denen Anfang der 90er Jahre begonnen wurde, konzentrierten sich auf den Bereich der Sexarbeit, wo auch große Erfolge erzielt wurden. Im Bereich der Drogenkonsumenten hat sich die Situation aber kaum verbessert und die Entwicklung im MSM-Bereich wurde lange Zeit vernachlässigt. Erst im Jahr 2003 wurde eine erste größere Untersuchung zur HIV-Prävalenz bei MSM in Bangkok durchgeführt, die bereits eine schockierend hohe Prävalenz von 17% zeigte. Seitdem wird dem Problem auch von offizieller Seite größere Aufmerksamkeit geschenkt. Weitere, auch nationale Studien wurden durchgeführt und MSM-spezifische Präventionskampagnen wurden begonnen. Zwischen 2003 und 2005 zeigen die vorliegenden Studienergebnisse nochmals einen kräftigen Prävalenzsprung nach oben, danach scheint sich die Prävalenz aber zumindest in den jüngeren Altersgruppen auf hohem Niveau zu stabilisieren.

Es wird geschätzt, dass derzeit mindestens 20% der HIV-Neuinfektionen in Thailand bei MSM erfolgen.

Bei einer neueren, in China durchgeführten Studie wurden 1.496 über respondent driven sampling rekrutierte MSM in 5 größeren Städten untersucht und befragt. Das Durchschnittsalter lag mit 27,5 Jahren relativ niedrig, zumal das Durchschnittsalter beim ersten Sexualkontakt mit 20,5 Jahren und das Durchschnittsalter beim ersten gleichgeschlechtlichen Sexualkontakt mit 22,8 Jahren vergleichsweise hoch lagen. Die HIV-Prävalenz betrug im Durchschnitt 1,6%, die höchsten Werte wurden bei 35-49-Jährigen festgestellt. 53% der Teilnehmer bezeichneten sich als homosexuell, 37% als bisexuell. Die durchschnittliche Zahl männlicher Partner in den vorangegangenen sechs Monaten war 5,6 und von zwei Drittel der Befragten wurde angegeben, beim letzten Analverkehr ein Kondom benutzt zu haben. 27% der Teilnehmer hatten im letzten halben Jahr sexuelle Kontakte auch mit weiblichen Partnerinnen, dabei benutzten 44% kein Kondom.

Im Rahmen einer anderen Studie in Peking 2005-2006 wurden 753 MSM untersucht. Das Durchschnittsalter lag bei 25 Jahren, 59% berichteten ausschließlich gleichgeschlechtliche Sexualkontakte, 41% Kontakte mit männlichen und weiblichen Partnern. Die HIV-Prävalenz lag bei 2%, serologische Marker für eine oder mehrere sexuell übertragbare Infektionen (Syphilis, Chlamydia trachomatis, Ureaplasma urealyticum, Hepatitis C) wurden bei knapp 14% der Teilnehmer festgestellt. Bei HIV-positiven Männern waren Seromarker für andere Infektionen in 94% positiv, bei HIV-negativen Männern nur bei 12%. Am häufigsten war bei HIV-positiven Männern die Syphilis-Serologie positiv (50%).

Nach einem Bericht der Commission on AIDS in Asia besteht die Gefahr, dass bei weiterer Nicht-Berücksichtigung von MSM in der HIV-Prävention in Asien diese bisher nur viertgrößte Betroffenengruppe in Asien (nach Männern, die sich bei Sexarbeiterinnen infiziert haben, Frauen, die über ihre Männer infiziert werden und Drogengebrauchern) in den nächsten zehn Jahren zur dominierenden Betroffenengruppe werden kann (Abb. 7).

Abb. 7: Projektion der Entwicklung der HIV-Neuinfektionen in Asien bis 2020 unter der Voraussetzung dass sich die gegenwärtigen Präventionsstrategien nicht verändern
Abb. 7: Projektion der Entwicklung der HIV-Neuinfektionen in Asien bis 2020 unter der Voraussetzung dass sich die gegenwärtigen Präventionsstrategien nicht verändern

MSM IN NORDAMERIKA, AUSTRALIEN UND WESTEUROPA

Zeitlich abgestimmt mit der Internationalen AIDS-Konferenz wurde von den amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention eine neue Einschätzung der epidemiologischen Situation und Entwicklung in den USA veröffentlicht. Gegenüber der bisherigen Schätzung von ca. 40.000 HIV-Neuinfektionen pro Jahr für die USA geht die aktualisierte Analyse von einer etwa 40% höheren Zahl, 58.000 pro Jahr aus. Dies ist eine deutliche Korrektur nach oben. Bei Betrachtung der neuen Zahlen zeigen sich in den USA, was die Betroffenengruppen angeht, sehr ähnliche Trends wie in den übrigen westlichen Industriestaaten: Die Neuinfektionen bei MSM nehmen seit etwa 2000/2001 zu, die Neuinfektionsraten bei Heterosexuellen und i.v. Drogenkonsumenten sind stabil oder leicht rückläufig (Abb. 8).

Eine Besonderheit in den USA ist die ungleichmäßige Betroffenheit der verschiedenen ethnischen Gruppen, die sich in allen durch das Transmissionsrisiko charakterisierten Gruppen widerspiegelt. Afroamerikanische Männer haben im Durchschnitt ein 7mal höheres Risiko, sich mit HIV zu infizieren als männliche weiße US-Amerikaner, bei Frauen ist das Risiko sogar 20mal höher. Afroamerikanische Heterosexuelle haben ein vielfach höheres Infektionsrisiko als weiße, Migranten aus Lateinamerika nehmen eine Zwischenposition ein. Dasselbe Bild gilt für i.v. Drogenkonsumenten und für MSM. Bei afroamerikanischen MSM in Großstädten werden HIV-Prävalenzen in der Größenordnung von 40% gemessen.

Abb. 8: Geschützte Zahl von HIV-Neudiagnosen bei Jugendlichen und Erwachsenen in den USA (25 Bundesstaaten) nach Übertragungsweg, 1994-2006
Abb. 8: Geschätzte Zahl von HIV-Neudiagnosen bei Jugendlichen und Erwachsenen in den USA (25 Bundesstaaten) nach Übertragungsweg, 1994-2006

GROßSTÄDTE VS. LAND

In Befragungen und Prävalenzstudien bei MSM in Westeuropa, Australien und Nordamerika werden ansonsten HIV-Prävalenzen in Größenordnungen zwischen 5% und knapp 20% beobachtet. Die höheren Werte (10-20%) werden bei MSM in Großstädten gemessen, in nationalen Studien in denen auch Regionen außerhalb der Großstädte berücksichtigt sind, liegen die Werte eher zwischen 5% und 10%. Da es sich bei den untersuchten bzw. befragten Personen üblicherweise um Convenience samples (nicht repräsentative Stichproben) handelt, deren Zusammensetzung und Rekrutierung sehr unterschiedlich sein kann, sind direkte Vergleiche zwischen Ländern schwierig. Sowohl bei Studien, die ihre Teilnehmer in Einrichtungen oder bei Veranstaltungen der homosexuellen Communities rekrutieren, als auch bei Internet-Befragungen, ist damit zu rechnen, dass bei den Teilnehmern sexuell aktivere Männer und damit auch Männer mit einem höheren HIV-Risiko überrepräsentiert sind. Nur vereinzelt gibt es repräsentative Untersuchungen der Gesamtbevölkerung, in denen der Anteil der MSM nicht nur bestimmt wird, sondern auch groß genug ist, um eine HIV-Prävalenz zu bestimmen. Eine derartige Untersuchung wurde 2004 in New York durchgeführt [Nguyen TQ et al. 2008]. Der Anteil der Männer, die sich als MSM zu erkennen gab, lag bei 10%, davon waren 14% HIV-positiv. Trotz des hohen MSM-Anteils (im Landesdurchschnitt nur 4%) waren die Absolutzahlen aber klein (7 HIV-positive MSM) und das statistische Konfidenzintervall für die HIV-Prävalenz ist mit 6-28% entsprechend weit.

URSACHEN FÜR STEIGENDE HIV-ZAHLEN

Veränderungen der HIV-Therapiestrategien, Verhaltensänderungen und STI-Koepidemien sind die Gründe für steigende HIV-Neuinfektionszahlen bei MSM in den westlichen Industriestaaten. Ende der 90er Jahre, 1997-1999, scheinen die HIV-Neuinfektionszahlen auch bei MSM gesunken zu sein. Zu dieser Zeit wurde nahezu jeder Patient, bei dem eine HIV-Infektion diagnostiziert worden war, auch antiretroviral behandelt. Durch die 1999/2000 erfolgende Veränderung der Therapiestrategien wurden HIV-Diagnose und Therapiebeginn dann entkoppelt und es kam zu einer allmählichen Akkumulation von diagnostizierten HIV-Infizierten ohne wirksame antiretrovirale Therapie. Derzeit schwingt das Pendel des Therapiebeginns wieder in die Gegenrichtung und die Grenzen für den Therapiebeginn werden in den Industrieländern von 200-250 CD4-Zellen/µl auf 350µl hoch gesetzt, vor allem weil es neue Erkenntnisse zu den schädlichen Effekten der kontinuierlichen Immunstimulation durch die unbehandelte HIV-Infektion gibt und weil die Medikamente besser verträglich geworden sind. Der zusätzliche präventive Effekt ist dabei durchaus erwünscht.

EINFLUSS VON SEROSORTING

Die Verhaltensänderungen bei MSM in den Industriestaaten sind bei genauerer Betrachtung der entsprechenden Untersuchungen wahrscheinlich konsistenter als es auf den ersten Blick scheint. Oberflächliche Inkonsistenzen beruhen wahrscheinlich in erster Linie auf den teilweise unterschiedlich gestellten Fragen und somit unterschiedlichen Indikatoren und auf anderen methodischen Problemen. Es gibt z.B. Unterschiede zwischen den Indikatoren Häufigkeit von Analverkehr, Häufigkeit von ungeschütztem Analverkehr und Häufigkeit von ungeschütztem Analverkehr mit nicht serokonkordanten Partnern.

Konsistent in den meisten Wiederholungsuntersuchungen ist die Zunahme von Partnerzahlen und Analverkehr während der 90er Jahre (nachdem beides in Folge der AIDS-Krise in der zweiten Hälfte der 80er Jahre massiv zurückgegangen war). Nach 2000, also für den Zeitraum, in dem die HIV-Diagnosezahlen ansteigen, ist der diesbezügliche Trend aber nicht mehr eindeutig. In Teilgruppen mögen die Partnerzahlen weiter zunehmen, im Allgemeinen stabilisieren sich die Partnerzahlen aber. Ungeschützter Analverkehr nimmt vor allem in den späten 1990er bis in die frühen 2000er Jahre zu, allerdings erfolgt diese Zunahme im Kontext zunehmenden HIV-Serosortings, d.h. primär bei tatsächlicher oder vermeintlicher Kenntnis des gegenseitigen HIV-Status. Dies erklärt den Umstand, dass sich der Indikator "ungeschützter Analverkehr mit nicht-serokonkordantem Partner" kaum verändert bzw. sich teilweise sogar verbessert.

MEHR HIV DURCH STIS?

Dies bedeutet, dass Änderungen der individuellen Verhaltensparameter eine Zunahme von HIV-Neuinfektionen bei MSM nicht befriedigend erklären können. Die plausibelste Erklärung für die Zunahme von Neuinfektionen ist daher eine Veränderung der HIV-Übertragungswahrscheinlichkeit pro Kontakt, die verursacht wird durch STI-Koepidemien, die sich nach 1996 in der MSM-Population entwickelt haben und die sich stark in der HIV-positiven Population konzentrieren (beispielhaft dafür siehe Entwicklung der bakteriellen STI bei MSM in King County/Seattle in den USA zwischen Anfang der 80er Jahre und heute, Abb. 9). Die starke Konzentration in der Gruppe der HIV-positiven MSM ist wiederum eine Konsequenz des HIV-Serosortings, das bei HIV-positiven nicht nur vorwiegend, wie bei HIV-negativen MSM, innerhalb fester Partnerschaften (als "negotiated safety") erfolgt, sondern zunehmend auch mit nicht-festen Partnern. Die Wirksamkeit des HIV-Serosortings hängt dabei u.a. vom Umfeld und der Homogenität oder Heterogenität der sich darin bewegenden Personen ab: das Internet ermöglicht bei HIV-positiven Männern eine relativ hohe Wirksamkeit des Serosortings, für HIV-negative Männer ist das Risiko beim Serosorting im Internet dagegen besonders hoch. In anderen Umfeldern wie Sexparties, Saunen etc. kann die Wirksamkeit sehr variabel sein.

Abb. 9: Bakterielle sexuell übertragbare Infektionen bei MSM in King County (Seattle, USA), 1981-2006
Abb. 9: Bakterielle sexuell übertragbare Infektionen bei MSM in King County (Seattle, USA), 1981-2006

Als wichtige Gründe für Neuinfektionen werden häufig das hohe Risiko der Übertragung bei frisch Infizierten und die Unkenntnis der Infektion genannt. Daraus wird dann die auf den ersten Blick logisch erscheinende Forderung nach vermehrter HIV-Testung abgeleitet. Zweifellos trägt die hohe Viruskonzentration im Rahmen einer frischen HIV-Infektion dazu bei, dass ein überproportional hoher Anteil von HIV-Neuinfektionen durch ungeschützte sexuelle Kontakte mit frisch infizierten Personen zustande kommt, bei denen die HIV-Infektion in der Regel noch nicht diagnostiziert ist. Dies ist jedoch ein generelles Charakteristikum der HIV-Epidemie und würde noch nicht erklären, warum es gerade in den letzten Jahren zu einer Zunahme von HIV-Neuinfektionen gekommen ist, obwohl ein steigender Anteil der Infektionen früher diagnostiziert wird.

ROLLE DER PRIMÄRINFEKTION

Um eine Zunahme von HIV-Infektionen allein aus der hohen Infektiosität im Rahmen der Primärinfektion zu erklären, müsste man postulieren, dass die Zahl der Partner, mit denen ungeschützter Sex in dieser Zeitspanne stattfindet, angestiegen ist. Eine solche Zunahme ist bei MSM, die sich für nicht-infiziert halten, in dem kritischen Zeitraum der letzten 5-7 Jahre aus den vorliegenden Untersuchungen nicht abzulesen. Nicht auszuschließen ist natürlich, dass eine solche Zunahme nur bei einer kleinen Gruppe von Personen stattfindet und die Untersuchungen nicht sensitiv genug sind, dies festzustellen. Die Untersuchungen zum Risikoverhalten zeigen, dass ein erheblicher Teil unsafer Sexualkontakte sporadisch erfolgt. Bei der kleineren Zahl von Personen, die gewohnheitsmäßig selten oder keine Kondome benutzen und viele Partner haben, erfolgt ein Risikomanagement am häufigsten durch sog. Serosorting, also auf Grundlage von Kenntnis (bei positivem HIV-Status) oder Annahmen (bei negativem HIV-Status) zum eigenen HIV-Status und dem des Partners. Ein Verzicht auf die Kondombenutzung auf Grundlage von Annahmen über die fortbestehende Gültigkeit eines vorangegangenen negativen HIV-Testergebnisses trotz zwischenzeitlich ungeschützter sexueller Kontakte ist aber eine höchst unsichere Präventionsstrategie.

HIV-TEST ZUR PRÄVENTION?

Eine Analyse der HIV-Neuinfektionen in einer australischen Kohortenstudie zwischen 2001 und 2007 ergibt, dass knapp ein Drittel der Infektionen bei ungeschütztem Verkehr mit einem bekannt HIV-positiven Partner stattfand, ein Drittel bei ungeschütztem Verkehr mit einem Partner mit unbekanntem HIV-Status und ein Drittel bei ungeschütztem Verkehr mit einem Partner, der angeblich HIV-negativ war. Die Frage ist, ob häufigere HIV-Testintervalle Neuinfektionen in dieser Gruppe verhindern oder sie in ihrem Risikomanagementverhalten nicht eher solange bestärken, bis eine Infektion tatsächlich stattgefunden hat.

Ein Grund, warum die Zahl der Infektionen, die im Rahmen der Primärinfektion übertragen werden, tatsächlich zugenommen haben könnte, wäre eine weitere Steigerung der Übertragungswahrscheinlichkeit durch Koinfektionen mit anderen sexuell übertragbaren Erregern. Gleichzeitig würde eine solche Zunahme von Koinfektionen auch zu einer höheren Übertragungswahrscheinlichkeit bei ungeschützten Sexualkontakten mit HIV-Infizierten in der chronischen Phase der Infektion führen, zumindest solange diese nicht effektiv antiretroviral behandelt werden. Solche Infektionen würden wiederum neue Ausgangspunkte für Infektionscluster bilden, die sich auf der Grundlage der hohen Infektiosität in der Primärinfektion entwickeln. Die geeignete Antwort auf dieses Szenario wäre aber weniger eine stärkere Propagierung des HIV-Testes, sondern vielmehr eine Verstärkung der Anstrengungen, die STI-Koepidemien besser unter Kontrolle zu bringen.

RISIKO ASYMPTOMATISCHE STI

Abb. 10: Häufigkeit von Manifestationsorten und klinischen Symptomen von Gonorrhö und Chlamydien bei MSM
Abb. 10: Häufigkeit von Manifestationsorten und klinischen Symptomen von Gonorrhö und Chlamydien bei MSM

In diesem Zusammenhang wird bei den Untersuchungsstandards für sexuell übertragbare Infektionen auch in den westlichen postindustriellen Gesellschaften die fortbestehende Stigmatisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität zwischen Männern offensichtlich. Bakterielle und virale Infektionen, die lokale Infektionen an den Schleimhäuten auslösen, treten bei MSM häufig im Rachen (Übertragung bei Oralverkehr) und im Rektum (Übertragung bei Analverkehr) auf (Abb. 10). An beiden Lokalisationen verlaufen lokale Schleimhautinfektionen häufig ohne oder mit geringen Symptomen. Dasselbe gilt zwar auch für vaginale Infektionen bei Frauen, aber während vaginale Screening-Untersuchungen auf sexuell übertragbare Erreger in vielen Ländern unter bestimmten Voraussetzungen durchaus üblich sind, gibt es entsprechende Screening-Angebote für MSM nur in sehr wenigen Ländern.

Referenzen und weiterführende Literatur

1. amfAR special report (2008): MSM, HIV, and the road to universal access – how far have we come? American Foundation for AIDS Research, August 2008, URL: www.amfar.org/msm

2. UNAIDS (2008): Review of legal frameworks and the situation of human rights related to sexual diversity in low and middle income countries. UNAIDS, August 2008

3. Baral S, Sifakis F, CleghornF, Beyrer C (2007): Elevated risk for HIV infection among men who have sex with men in low- and middle-income countries 2000-2006: a systematic review. PLoS Med 4(12): e339. doi:10.1371/journalpmed. 0040339


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