17.
KONGRESS DER DEUTSCHEN GESELLSCHAFT FÜR SUCHTMEDIZIN
Abstinenzideal und Behandlungsrealität
Anfang November fand in Berlin der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin statt. Im Mittelpunkt der Tagung stand die ewige Grundfrage der Suchtbehandlung: Das Verhältnis von Abstinenzideal zu den Möglichkeiten, dieses Ideal im klinischen Alltag zu erreichen.
Bei der Forderung nach Abstinenz muss man laut Ambros Uchtenhagen, Zürich, zwischen einem gesellschaftlichem und therapeutischen Leitgedanken unterscheiden. Das Abstinenzgebot als gesellschaftlicher Leitgedanke hat religiöse Wurzeln. Der Verzicht auf sinnliche Lust soll spirituelle Freuden schenken. Im weiteren geschichtlichen Verlauf kam noch ein weiteres gewichtiges Motiv hinzu. Das Bedürfnis die Arbeitsfähigkeit unter den Bedingungen der Industriegesellschaft zu sichern, erforderte die Kontrolle berauschender Substanzen. Der therapeutische Leitgedanke der Abstinenz will, diejenigen in die Schranken weisen, die zu einem kontrollierten Umgang mit Rauschmitteln nicht in der Lage sind.
PREIS DER DEUTSCHEN SUCHTMEDIZIN
Der Preis der Deutschen Suchtmedizin ging in diesem Jahr an die parlamentarische Staatssekretärin Frau Caspers-Merk. Geehrt wurde damit der außerordentliche Einsatz von Caspers-Merk für die Behandlung Heroinabhängiger während ihrer Zeit als Drogenbeauftragte der Bundesregierung. Caspers-Merk hatte in ihrer Amtszeit den voraussetzungslosen Zugang zur Methadonsubstitution und die Heroinstudie durchgesetzt.
PROHIBITION GESELLSCHAFTLICH WICHTIG
Nach Meinung von R. Hüllinghorst, Hamm, ist Abstinenzorientierung und Prohibition auch heute noch gesellschaftlich notwendig. Durch den Verlust der Traditionen seien Denken, Fühlen und Wollen nicht mehr im Einklang wie früher und die Unverbundenheit dieser Impulse werde zunehmend durch den Konsum von Drogen überspielt. Auch W. Burian aus Wien forderte für die Psychotherapie bei Süchtigen Abstinenz. Die Beziehung zum Therapeuten müsse die Beziehung zur Droge widerspiegeln, also dürfe sie nicht mehr konsumiert werden.
NUR WENIGE ERREICHEN ABSTINENZ
Langfristig werden nur 10-20% der Heroinabhängigen im Rahmen der Suchttherapie abstinent, egal ob sie in einer abstinenzorientierten Institution oder einer Substitutionspraxis behandelt werden. Abstinenz ist damit in der Realität nur für eine Minderheit erreichbar. Aus diesem Grund kann die Abstinenz heute nicht mehr das primäre Therapieziel der Heroinabhängigkeit sein. Ziel der Suchttherapie ist vielmehr ein selbstverantwortliches, produktives und subjektiv befriedigendes Leben. Dazu gehören die Sicherung des Überlebens, Schadensminderung und die Behandlung der psychiatrischen und somatischen Komorbidität. Das Prinzip des "Stepped Care", die gestufte Anwendung verschiedener Therapieansätze je nach den aktuellen individuellen Notwendigkeiten, ist Standard geworden.
ALKOHOLPROBLEME IM KRANKENHAUS
Alkoholabhängigkeit ist ein weit verbreitetes und häufig unerkanntes Problem. Laut Neumann von der Berliner Charite hat jeder fünfte stationäre Patient ein unerkanntes Alkoholproblem und jeder zweite dieser Patienten entwickelt im Krankenhaus ein Entzugssyndrom, was insbesondere postoperativ zu erheblichen Komplikationen führen kann. Wünschenswert ist hier eine frühzeitige Diagnostik.
NIKOTINENTWÖHNUNG
Aktuelle Untersuchungen zeigen eine 20-40% Abstinenzchance bei der Kombination aus Verhaltenstherapie und Nikotinersatz, Antidepressiva oder Vareniclin. Die Kosten dafür belaufen sich auf rund 600,- . Diese Kosten sollten laut Jörg Gölz, Berlin, von den Krankenkassen übernommen werden. Bislang weigern sich jedoch Kassen und GBA, die Nikotinentwöhnung zu finanzieren. Die Kosten von 17 Milliarden , die die Folgen der Nikotinabhängigkeit verursachen, werden dagegen klaglos bezahlt.
NEUROBIOLOGISCHE GRUNDLAGEN
Im neurobiologischen Symposium ging es vor allem um das "Neuro-Imaging" der Sucht. Mit verschiedenen bildgebenden Verfahren lassen sich strukturelle (anatomische), funktionale (Aktivierung von Hirnarealen) und biochemische (Konzentration von Neurotransmittern in bestimmten Hirnarealen) darstellen.
Süchtige brauchen offenbar stärkere Stimuli, um die Belohnungszentren im Gehirn zu aktivieren. Im Verlauf der Sucht kommt es zum Wechsel von positiven (Rausch) zu negativen (Entzug) Verstärkermechanismen. Ein gestörtes Stress-Coping führt bei Süchtigen zudem zur vermehrten Ausschüttung von Cortisol-Releasing Hormon (CRH). Die dadurch ausgelöste Kaskade von Stresspeptiden könnte einen zukünftigen Angriffspunkt für eine medikamentöse Beeinflussung der besonders stresssensiblen Süchtigen darstellen.