Matthias Stoll, Hannover
Neue Firstline-Optionen
Traditionell beschäftigen sich die Leitlinien vorwiegend mit der Erstlinienbehandlung und insofern sollte deren „metasynchrone“ Aktualisierung eigentlich ein Indiz dafür sein, dass es massenhaft neue antiretrovirale Therapieoptionen geben müsste. Dem ist nicht so. Der Grund für die Aktualisierung war weniger die Frage nach dem „wie?“, sondern vielmehr die Frage nach dem „wann?“, d.h. nach dem Therapiebeginn. Die Therapieindikation hat sich hier meist nach vorne verschoben. Bei asymptomatischen Patienten soll schon bei CD4-Werten von 350/µl behandelt werden. Bei der Aktualisierung wurden dann aber stets auch die Empfehlungen für die bevorzugten Therapieregime überarbeitet.
Abb. 1: Firstline-Optionen in den Leitlinien1-5
Fortschritt aus dem Salvage-Bereich …
In den letzten Jahren gab es zahlreiche Neuzulassungen antiretroviraler Medikamente und Substanzklassen vorwiegend für intensiv vorbehandelte Patienten. Diese Patienten sind eine begehrte Zielgruppe für klinische Studien zur Erprobung von neuen antiretroviralen Substanzen, was auch den Patienten zugute kam, denn mangels anderer Optionen waren sie dringend auf solche Studien angewiesen. Mittlerweile ist Anzahl der Patienten, für die sich kein geeignetes Therapieregime mehr finden lässt, deutlich zurückgegangen. Der Erfolg der neuen Substanzen im Salvagebereich ist überraschend nachhaltig. Die meisten der multiresistenten Patienten sind dank der neuen Therapie-Optionen inzwischen erfolgreich behandelt.
… drängt in die Firstline
Einige der neu zugelassenen Medikamente haben sogar bereits den Sprung in die Firstline-Therapie geschafft, wie z.B. die Proteinaseinhibitoren Atazanavir und Darunavir. Andere Medikamente, wie der Integrasehemmer Raltegravir, der Chemokinrezeptorantagonist Maraviroc und der neue nicht-nukleosidale Reverse Transkriptase Inhibitor (NNRTI) Etravirin, drängen ebenfalls in diesen Indikationsbereich. Allerdings muss man die Frage stellen, ob für zusätzliche Behandlungsoptionen in der Firstline-Therapie objektiv (noch) ein hoher Bedarf fortbesteht. Letztlich haben die bestehenden Optionen durchweg sehr hohe virologische Erfolgsraten, weisen eine gute Verträglichkeit auf und werden immer einfacher in der Anwendung, seit Koformulierungen und einmal täglich zu verabreichende Regime zunehmend verfügbar geworden sind. Die Vielzahl verschiedener Optionen erlaubt zudem in den meisten Fällen, in denen Unverträglichkeiten oder Kontraindikation gegen einzelne Substanzen bestehen, auf verträglichere und effektive Optionen umzusteigen. Mit der zunehmenden Zahl neuer Therapieoptionen ist also auch der Wettbewerb um die Empfehlung als ein besonders gut geeignetes antiretrovirales Medikament für die Erstlinien-Therapie neu eröffnet.
Stärkere Schwerpunktsetzung
Das Bessere ist der Feind des Guten - insofern fokussieren die neuen Leitlinien paradoxerweise trotz der Zunahme an Optionen teilweise auf weniger Kombinationen als dies in früheren Auflagen der Fall war. Wurden schon zuvor für die Nukleosidanaloga nur noch Fixkombinationen bevorzugt empfohlen, so hat sich dieser Trend in den aktuellen Leitlinien fortgesetzt. Von den drei vorhandenen Nukleosidanaloga-Fixkombinationen wird die AZT-haltige wegen ihrer potenziell höheren Toxizität in keiner der Leitlinien mehr für die Einleitung der antiretroviralen Therapie empfohlen. Die DHHS-Leitlinie empfiehlt sogar inzwischen nur noch eine Koformulierung als Nukleosidanaloga-Rückgrat.
Erstmals wirtschaftliche Aspekte
Diese Tendenz zeigt sich auch bei den anderen Substanzklassen. Besonders rigoros sind die britischen Leitlinien. Dort werden Proteinaseinhibitoren nicht mehr an erster Stelle für die Einleitung einer antiretroviralen Therapie empfohlen und innerhalb der Gruppe der NNRTI empfehlen die Briten nur noch Efavirenz. Interessanterweise wird diese Schwerpunktsetzung weniger medizinisch als wirtschaftlich begründet. Dieser Aspekt hatte bisher bei der Behandlung der HIV-Infektion nur eine nachgeordnete Rolle gespielt. Es ist also auch hier eine „Normalisierung“ im Umgang mit der Erkrankung HIV/Aids zu verzeichnen, die von diesen im Gesundheitswesen sehr verbreiteten Überlegungen bisher weitgehend ausgenommen war. Alle anderen Leitlinien weisen allerdings weiterhin geboosterte Proteinaseinhibitoren als eine Option der ersten Wahl für die Einleitung der antiretroviralen Behandlung aus.
Und manchmal eilen die Leitlinien sogar der Zulassung voraus. Der Wunsch nach exklusiver Aktualität der Leitlinie der eigenen Fachgesellschaft treibt manchmal Blüten, die man sonst nur von der Boulevardpresse kennt. So publizierte die IAS die bevorzugte Empfehlung des Einsatzes von Darunavir in der Firstline Behandlung noch bevor Darunavir irgendwo in der Welt für diese Indikation zugelassen war.
Neue Entwicklungen
Schaut man sich die Entwicklungen der Leitlinien in den letzten 10 Jahren an, so hat sich die Zusammensetzung der Erstlinientherapie nicht grundsätzlich geändert. Man behandelt mit zwei Nukleosidanaloga in Kombination mit entweder einem NNRTI oder mit einem geboosterten Proteaseinhibitor. Die Vertreter der neuen Substanzklassen haben sich trotz ihrer Marktzulassung für den Indikationsbereich der vorbehandelten Patienten hier bisher noch nicht etablieren können. Aber es besteht ein Bedürfnis aus unterschiedlichen, inhaltlich teilweise überlappenden Gründen:
- Wirtschaftliche Überlegungen bei Kostenträgern, Leistungserbringern oder den Anbietern der Pharmazeutika
- Wissenschaftliches Interesse an der Optimierung des Konzepts der HAART
- Klassensparende Regime zur strategischen Resistenzselektion
- Einfachere und anwenderfreundlichere Regime
- Individuellere Therapie-Optionen bei Unverträglichkeit
Ökonomische Überlegungen
Die wirtschaftlichen Überlegungen sind hier bewusst an den Anfang der Liste gestellt. Die offene Schwerpunktsetzung dazu in den britischen Leitlinien ist ein Novum. Die Frage nach dem Geld bestimmt aber schon lange die Wertung der vorhandenen Optionen und zwar nicht nur bei den Kostenträgern und Leistungserbringern, die ihre Budgets kalkulieren müssen. Auch die Patienten fragen gezielt Optionen mit Großpackungen, um Zuzahlungen zu sparen und die Anbieter möchten sich den großen und damit lukrativen Indikationsbereich der Erstlinientherapie für Ihre Produkte erschließen.
Wissenschaftliche Konzepte und Motive
Dem wissenschaftlichen Interesse an der Suche nach einer „optimalen“ initialen Behandlungsstrategie ist bislang auffallend wenig Rechnung getragen worden, weil Sponsoren für reine Konzeptstudien schwer zu finden sind. Möglicherweise verhilft die ökonomische Einsicht, dass mit optimierten Therapieoptionen viel Geld gespart werden könnte, für entsprechende Studien künftig auch Geldgeber jenseits der pharmazeutischen Industrie zu finden. Das soll nicht etwa heißen, dass deren Motive beim Sponsoring unehrenhaft seien. Immerhin ist die Zulassung von Atazanavir und Darunavir als neue Optionen in der Firstline-Therapie ein Erfolg der entsprechenden Industrie-gesponsorten klinischen Studien (CASTLE und ARTEMIS). Aber ein pharmazeutisches Unternehmen wird kein Interesse daran haben, alternative Konzepte zur Pharmakotherapie oder aber Studien zur Einsparung der selbst entwickelten Substanz voranzutreiben.
Gute Aussichten, die künftigen Leitlinien in der Initialtherapie schon bald um eine neue Substanzklasse zu erweitern, bestehen für die Integrasehemmer. Im Augenblick hat Raltegravir dort die Nase vorn - und vermutlich wird es sich, entsprechend des jetzt verfolgten Studiendesigns dann um eine „klassische“ Kombination handeln, also eine mit zwei Nukleosidanaloga. Grundsätzlich haben auch die CCR5- Inhibitoren ein Potenzial für die Firstline. Die bisherigen Studien dazu konnten jedoch noch nicht überzeugen. Das könnte sich ändern, wenn sensitivere und einfachere Tropismustests verfügbar werden.
Insgesamt besteht derzeit ein besonderes Interesse an Nukleosidanaloga-sparenden Kombinationen. Herr Stürmer diskutiert in diesem Kontext in diesem Heft ausführlich die Kombination mit Darunavir und Raltegravir. Hierzu ist eine klinische Studie im europäischen Netzwerk (NEAT) auf dem Weg. Auch werden derzeit neue Ansätze zur Monotherapie mit geboostertem Darunavir geprüft und zeigen erste viel versprechende Ergebnisse.
Ist weniger HAART mehr?
Bislang galt die virologisch wirksamste antiretrovirale Therapie als bevorzugtes Regime. Dieses Paradigma könnte in der Zukunft wanken. Die vielen neuen Möglichkeiten für eine Nachfolgetherapie lassen zumindest in der Firstline-Behandlung mit Rücksicht auf eine günstigere Langzeittoxizität oder aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus auch an Konzepte mit weniger potenten Therapieregimen denken. Für Patienten, die unter einer solchen versagen, wären dann immer noch genügend suppressive Therapieoptionen in der zweiten Linie vorhanden. Im Falle der Monotherapie mit Proteinaseinhibitoren und deren hohen genetischen Resistenzbarriere wäre bei engmaschigem Therapiemonitoring wahrscheinlich auch im Falle des virologischen Versagens nicht unbedingt die gesamte Substanzklasse verbrannt. Für die potentiell große Gruppe von Patienten, die unter solchen vereinfachten Therapieregimen dauerhaft virologisch supprimiert bleiben, wäre andererseits durch das Einsparen von Toxizität viel gewonnen.
1 Gazzard, et al. HIV Medicine, 9, 563-608; (Okt. 2008)
2 US DHHS Guidelines: http://AIDSinfo.nih.gov. (Nov. 2008)
3 US-IAS – Guidelines: Hammer S, et al. JAMA.; 300(5): 555-570; (Aug. 2008)
4 EACS guidelines. Available from www.eacs.eu/guide/index.htm (Okt. 2008)
5 Dt.-Österr. Leitlinien – http://www.daignet.de/site-content/hiv-therapie/leitlinien-1. (Sep. 2008)