Nils Postel, München
Im Westen viel Neues
Wie junge deutsche HIV-Spezialisten in den USA forschen
Der 15 Jahre alte Toyota – von einem mittlerweile nach Deutschland zurückgekehrten Kollegen übernommen - hat es mit seiner riesigen Beule, einem platten Reifen und den nicht mehr funktionstüchtigen Scheinwerfern noch immer nicht durch den amerikanischen TÜV geschafft. Drei Monate ist Arne Schneidewind, Assistenzarzt der Universitätsklinik Regensburg, bereits in Boston, um in den Labors der Partners AIDS Research Center (Leiter: Bruce Walker) des Massachusetts General Hospital, Harvard Universität, zu forschen. Zu viel war in den ersten Wochen des Aufenthaltes zu organisieren: der bei der Anreise in London versandete Koffer, die eher schäbige Erst-Unterkunft, die nach neuerlicher Wohnungssuche verlangte, der Antrag fürs Forschungsstipendium und die intensive Einarbeitung erforderten gleich am Anfang einen 16-Stunden-Tag.
Gutes Pflaster für Aufsteiger: Boston
Hauptsächlich aus Reputationsgründen, aber auch, um später in Deutschland Forschungsgruppenleiter oder Direktor eines Universitätsinstituts zu werden, wird ein US-Forschungsaufenthalt oft als unabdingbar angesehen. Schneidewind, in Hildesheim geboren, gehört zu jenen, die das Klischee vom mobilen, motivierten, aber nicht ausschließlich von Karrierestreben bestimmten Nachwuchswissenschaftler ziemlich gut verkörpern. Nach einigen Jahren Arbeit in der klinischen Infektiologie wollte Schneidewind, „was Anderes ausprobieren“. Intensive Forschungsarbeit an deutschen Unikliniken ist neben Lehre und Patientenversorgung bekanntermaßen zeitlich kaum möglich. Außerdem gehört ein Forschungsaufenthalt off campus häufig zum Curriculum einer universitären Weiterbildung. Und da Schneidewinds Oberarzt gute Kontakte unterhält zum deutschen Forschungsgruppenleiter Marcus Altfeld, der seit vielen Jahren in Harvard arbeitet, lag es nahe, HIV-Forschung in den USA zu betreiben. Aus den ursprünglich geplanten zwei Jahren wurden dann dreieinhalb Jahre, um die angefangenen Forschungsprojekte fertig zu stellen. In seinen Arbeiten hat er sich hauptsächlich mit den Anpassungsmechanismen von HIV beschäftigt, die durch den vom zellulären Immunsystem ausgeübten Selektionsdruck induziert werden. Heraus kamen dabei drei Publikationen, die zur zielgenaueren Impfstoffforschung beitragen könnten: HIV-Mutanten, die sich einer bei HLA-B27 positiven Individuen spezifischen zellulären Immunreaktion entziehen („Escape Mutanten“), zeigen eine signifikant geringere Replikationskapazität. Für die Impfstoffentwicklung ist es möglicherweise sinnvoll, Immunreaktionen nur gegen einige wenige HIV-Epitope zu induzieren – die dafür aber hocheffektiv sind. Schon nach drei Monaten Aufenthalt in Boston hatte Scheidewind an einem Projekt mitgearbeitet und es so gleich auf die Autorenliste der entsprechenden Publikation geschafft. Und das, obwohl er sich in der Anfangszeit sehr intensiv um ein Forschungsstipendium bemühen musste, das seinen US-Aufenthalt erst möglich machen sollte.
Einem anderen wichtigen Thema geht der ebenfalls an der Harvard Universität arbeitende Hendrik Streeck aus Bonn nach. Er beschäftigt sich mit den immunologischen Grundlagen der primären HIV-Infektion (PHI) – dies könnte die Frage klären, ob eine Behandlung im Frühstadium per se indiziert ist oder nicht.
Wie schwierig es mitunter ist, in Deutschland Forschungsgelder zu
ergattern, müssen selbst renommierte HIV-Forscher erfahren: quasi in klinischer
Ergänzung zu Streecks Arbeiten sollte im Rahmen einer randomisierten Studie
Behandlung versus Nichtbehandlung der PHI verglichen werden; eine Studie von
erheblichem immunologischen und klinischen Interesse – abgelehnt vom
wichtigsten Forschungsförderer, der Deutschen Forschungsgemein-
schaft (DFG). Mit einem Etat von über zwei
Milliarden Euro ist die DFG führend in Europa. Hier ergattern die meisten
Nachwuchsforscher die Finanzierung, die sie zur Realisierung ihrer
wissenschaftlichen Projekte dringend brauchen; anspruchsvolle
Forschungsvorarbeiten sind zur erfolgreichen Antragsstellung unabdingbar. Aber
auch hier schlägt die gegenwärtige Schieflage des Bundeshaushaltes in Folge der
Finanzkrise zu: die Förderung der DFG wurde vor Kurzem von Finanzminister Peer
Steinbrück unter Haushaltsvorbehalt gestellt – heftig kritisiert von Matthias
Kleiner, Präsident der DFG. Forschungsprojekte im Ausland werden auch vom
Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) gefördert. Neben dem Sponsoring
von Kongressbesuchen und Auslandsvorträgen, das der DAAD Anfang des Jahres von
der DFG übernommen hat, werden Studienaufenthalte, Praktika und spezielle
Forschungsaufenthalte im Ausland finanziert. Frühzeitige Kontakte in die USA
können später den Einstieg in eine Forschungsgruppe wesentlich erleichtern. Bei
Medizinern bietet insbesondere das Studium hierzu hinreichend Gelegenheit.
Auslandsfamulaturen und PJ-Tertiale vermittelt die vor fünf Jahren gegründete
Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland.
Aber es geht auch ohne vorherige Kontakte, wie das Beispiel von Dirk Meyer-Olsen, Internist in der rheumatologisch-immunologischen Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover, zeigt. Er suchte selbstständig, um Labormethoden einer „international renommierten Arbeitsgruppe zu erlernen und frei zu sein von anderen – insbesondere klinischen – Verpflichtungen“, wie er sagt. Über drei Jahre war auch er im Labor von Bruce Walker. Wichtiger Forschungsschwerpunkt war die Analyse der verschiedenen T-Zellrezeptoren bei der HCV-Infektion in Schimpansen. Das Ausmaß der Diversität dieser T-Zellrezeptoren korreliert mit der Spontanheilungsrate der HCV-Infektion. Für die HIV-Erkrankung konnte Meyer-Olsen zeigen, dass das Immunsystem stets flexibel auch in der chronischen Infektion reagiert, indem es funktionell unterschiedliche T-Zellklone ausbildet. Nicht nur Quantität und Funktion der T-Zellen spielen also eine Rolle bei der HIV-Bekämpfung, sondern auch die molekulare Struktur der antigenspezifischen T-Zellantwort.
Wichtige Internetadressen
- Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland:
vermittelt Auslandsfamulaturen und PJ-Tertiale sowie Forschungsaufenthalte für Studierende • www.bvmd.de - Deutscher Akademischer Austauschdienst:
vermittelt und fördert Kongressbesuche, Vortragsreisen und Forschungsaufenthalte im Ausland • www.daad.de - Deutsche Forschungsgemeinschaft:
fördert u.a. Forschungsaufenthalte im Ausland • www.dfg.de
Wer sollte in den USA forschen?
Hilfreich ist es allemal, in den USA gewesen zu sein, um weitere Karriereziele in Deutschland zu erreichen – Voraussetzung hierzu aber keineswegs. Darin sind sich eigentlich alle einig, allen voran Jürgen Rockstroh, Leiter der infektiologischen Abteilung der Universitätsklinik Bonn und Vorsitzender der Deutschen AIDS-Gesellschaft. Bisher haben sechs Ärzte aus Rockstrohs Arbeitsgruppe in den USA gearbeitet – einige sind gleich ganz dort geblieben oder in andere Länder weiter gezogen. Worauf es wirklich ankommt, so Rockstroh, ist, dass die Jung-Mediziner mit größtmöglichem Engagement und Enthusiasmus an wissenschaftliche Fragestellungen herangehen. Wer allein aus strategischen Karriereinteressen in die USA gehen will, sollte es besser gleich bleiben lassen. „Das wäre reine Verschwendung von Steuergeldern“, ergänzt Meyer-Olsen. Wer für eine wissenschaftliche Fragestellung „brennt“ wird auch erfolgreich an ihrer Lösung arbeiten und dann – quasi als willkommenes Beiprodukt – auch auf der Karriereleiter seinen Weg machen. Wichtig ist nicht die bloße Tatsache des US-Aufenthaltes, sondern, welche Ergebnisse er zeitigt. Wer in Deutschland oder Europa hochqualifiziert forscht und in renommierten Journals veröffentlicht, kann ebenso erfolgreich sein wie ein US-Heimkehrer. Bestes Beispiel ist Rockstroh selbst: er hat – abgesehen von einem PJ-Aufenthalt in New Orleans – nicht in den USA gearbeitet.
Licht und Schatten
Wichtig für die persönliche Entwicklung ist natürlich jeder Auslandsaufenthalt. Seine Einstellung zu den USA sei sogar positiver geworden, sagt Meyer-Olsen. Auch der differenziert-kritische Blick auf das eigene Land wird schärfer. Das Hauptmanko sind die zu geringen Forschungsfreiräume in Deutschland, die selbst durch allergrößtes Engagement nicht kompensiert werden können; es besteht also gegenüber anderen Ländern ein struktureller Forschungsnachteil. Kehrseite dieser Medaille: die daheim gebliebenen Forscher verlieren nie den Kontakt zur klinischen Medizin und können praktisch ohne Zeitverlust ihre Weiterbildung absolvieren.
Neben allem Planen und Organisieren, den ein Auslandsaufenthalt erfordert, ist der Forschungswillige in jedem Fall auf das Goodwill seines Vorgesetzten angewiesen: die Stelle in Deutschland muss freigehalten werden und der Rückkehrer sollte ein seiner Forschungsarbeit angemessenes Arbeitsumfeld vorfinden – was manchmal nicht der Fall ist, so dass sich einige dafür entscheiden, ganz „drüben“ zu bleiben.
Finanziell bedeutet ein US-Aufenthalt meist einen harten Einschnitt: verglichen mit deutschen Arztgehältern ist die Vergütung mickrig; die Lebenshaltungskosten hingegen sehr hoch, insbesondere an den forschungsintensiven Standorten wie Boston oder New York. Hinzu kommen die Kosten für den neuen Hausstand und die Heimflüge.
Eine Anrechnung der US-Zeiten durch die Landesärztekammern ist alles andere als selbstverständlich, so dass jahrelange Verzögerungen auf dem Weg zum Facharzt keine Seltenheit sind. Nach der Rückkehr in die Heimat muss sich der Jung-Forscher wieder in die klinische Medizin einfinden – und oft feststellen, dass die Zuhause-Gebliebenen mittlerweile an ihm vorbeigezogen sind. Forschung bedeutet immer, sich höchstdifferenziert mit einem winzigen Ausschnitt der Medizin zu beschäftigen. Das ist begeisternd, aber nicht ohne Konsequenzen. Wie sooft im ärztlichen Beruf kommt es auf Idealismus, Enthusiasmus und – last but not least – natürlich dem Spaß an der Arbeit an.
Seit Oktober ist Schneidewind nun wieder zurück in Regensburg. In welcher Weise der USA-Aufenthalt ihm genützt hat, wird sich erst in einigen Jahren zeigen. Viel gelernt und geleistet hat er nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht.