Olaf Degen, Hamburg
Nadelstich – meine persönliche Erfahrung mit der PEP

Die Verordnung und das Management einer PEP gehören zum klinischen Alltag des HIV-Schwerpunktarztes. Doch eine kleine Unachtsamkeit, ein Nadelstich, und schon ist man plötzlich selbst Patient. Und aus dieser Perspektive sieht die Welt doch etwas anders aus…

Dr. Olaf Degen, UKE Hamburg
Dr. Olaf Degen, UKE Hamburg

Tag 0

Ambulanz, Mittwoch, später Vormittag. Das Wartezimmer voll, verschiedene Anrufer warten auf Rückruf. Fühle mich ausgeschlafen und fit, sehe diesem Tag mit respektvoller Erwartung entgegen.

Nächster Patient, außer der Reihe. Herr P, 35 Jahre alt, ein höflicher, ruhiger, zurückhaltender Thailänder. HIV positiv, ich kenne ihn und seinen Lebensgefährten seit vielen Jahren. Damals mit schwerer PCP auf unserer infektiologischen Station, in diesem Zusammenhang dann Diagnose der HIV-Infektion, sein Partner negativ. Hab sie damals beruhigt, ihnen die guten Behandlungsoptionen geschildert, versucht Zuversicht und Kraft zu vermitteln. Er und sein Partner waren von der Diagnose schwer geschockt, hielten aber in Ruhe zusammen. Ich fühlte mich von Anfang an für beide verantwortlich. Die PCP ließ sich gut behandeln, die ART mit Truvada/Sustiva wurde gut vertragen und zeigte schnell Wirkung. Nach wenigen  Monaten war die Viruslast unter der Nachweisgrenze, die Immunrekonstitution verlief allerdings langsam. Herr P. konnte seinen mit Leidenschaft ausgeübten Beruf als Sushi-Koch wieder aufnehmen, die Besprechungen der Laborbefunde waren bei guter Compliance und Wirksamkeit geprägt von guten Nachrichten und Dankbarkeit, der ärztliche Beruf von seiner schönsten Seite.

In 2008 stellte Herr P. sich erneut vor: „An meinem Hals ist eine Schwellung“. In der Tat eine deutlich sichtbare Schwellung eines zervikalen Lymphknoten, ca. 4x2 cm, er fühlte sich weich und nicht druckschmerzhaft an. Im Blut eine leichtgradige Erhöhung der Entzündungszeichen, der Quantiferontest zum Nachweis einer Tuberkulose war positiv. In der Punktion viel Eiter, wie erwartet mit dem Nachweis von Mycobakterium tuberculosis, in der Resistenztestung auf alle Substanzen voll sensibel. Auf ein neues, Beginn einer tuberkulostatische Vierfachtherapie.

Dr. Olaf Degen, UKE Hamburg

Der Lymphknoten fistelte über viele Monate, selbst im Sommer trug er Halstücher und hochgeschlagene Kragen. Langsam ging die Schwellung zurück, ihm ging es weiter gut, er arbeitete und war gut belastbar. Nach fast einem Jahr endlich Absetzen der Tuberkulosetherapie. Aber wenn man es besonders gut machen will, geht es oft schief. Der Lymphknoten nahm erneut deutlich an Größe zu. Erneute Punktion, diesmal gelang allerdings weder Keimnachweis noch Resistenzbestimmung. Trotzdem erneuter Beginn der tuberkulostatischen Vierfachkombination, die ein langsames Therapieansprechen zeigte. 

Diese Vorgeschichte vorweg, Herr P. sitzt also schließlich vor mir am Schreibtisch, beklagt sich nicht, wirkt ein wenig ängstlich und ist bei allem sehr ruhig und bescheiden. Ich kläre ihn auf, dass wir jetzt die Therapiewirkung erneut abwarten müssen. Ich entschließe mich aber zu einer entlastenden Punktion und bitte die Mitarbeiter der Sprechstunde, diese vorzubereiten.

In der Zwischenzeit schaue ich mir zwei weitere Patienten an und gehe dann zu Herrn P. in die Tagesklinik. Eine richtige Ablage für die Materialien fehlt bei uns neben dem Bett, schon häufig habe ich mir die Anschaffung vorgenommen, immer ging dieses wieder in der Hektik des Alltages unter. Daher lege ich das Tablett mit dem Punktionsbesteck auf das schlecht zugängliche Keyboard des nebenstehenden Ultraschallgerätes. Nach lokaler Betäubung zog ich einige Milliliter eitrig-blutiges Sekret aus dem Lymphknoten. Das Punktionsset hielt ich in der Hand und wollte es auf das Tablett legen, um es dann zu entsorgen. Mir kam hierbei der Bildschirm des Ultraschallgerätes in die Quere und die Spritze mit der Nadel daran rutschte mir aus der Hand und ging tief durch den Handschuh in den Daumen der linken Hand.

Schnelle Gedanken gingen wie kleine Blitze durch meinen Kopf. Aber – es wird schon nichts passiert sein. Erstmal Herrn P. verabschieden, der von all dem nichts mitbekommen hatte, ich begleite ihn zur Tür. Dann Handschuhe ab und die gut sichtbare Stichwunde desinfiziert, eine Blutung ließ sich nicht anregen. Kurz hinsetzen und nachdenken. Seine HIV-Virämie ist schon seit vielen Monaten unter der Nachweisgrenze, es kann also nichts passiert sein. Hepatitis B und C ist negativ, mein Hepatitis-Impfschutz erst vor kurzem kontrolliert. Übertragung einer Tuberkulose durch Nadelstiche nach meiner Information nicht möglich. Also beschloss ich, mit der Sprechstunde fortzufahren.

Ich bat den nächsten Patienten ins Sprechzimmer, ein älterer HIV positiver Mann, der meine ganze Aufmerksamkeit fordert und eine deutliche depressive Stimmungslage hat. Ich war nicht richtig bei der Sache und konnte ihm kaum folgen. War die Stichverletzung vielleicht doch nicht so ungefährlich? Komme mit meinen Gedanken nicht weiter und beschließe, den Rat meiner Kollegin zu suchen.

Ich schildere ihr den Fall auf dem Flur und wollte eigentlich nur eine Bestätigung für meinen Plan, keine weiteren Maßnahmen ergreifen zu müssen. Sie widerlegt mich schnell und deutlich und empfahl mir den umgehenden Beginn einer Postexpositionsprophylaxe (PEP) und weiterhin eine Meldung an die Berufsgenossenschaft. Dieses Vorgehen ist mir bestens bekannt, ich habe in meiner Sprechstunde regelmäßig ärztliche Kollegen nach Stich- und Schnittverletzungen.

Mir erschien dieser ganze Aufwand und das Hinzuziehen von anderen Ärzten in unserem Klinikum, von den Chirurgen als Durchgangsärzte für die BG-Meldung, viel zu groß. Außerdem war die Sprechstunde voll, mehrere Patienten warten auf mich. Trotzdem wusste ich, dass meine Kollegin Recht hatte, ich machte mich auf die Suche nach Medikamenten.

Ich ließ mir ein Rezept über Kaletra und Truvada ausstellen und machte mich auf den Weg zu einer auf unserem Klinikgelände angesiedelten Apotheke. Die Mitarbeiterin dort erscheint mir unendlich langsam. Ihre Kollegin muss ihr jeden Schritt erklären, irgendwas scheint mit der Software oder meinem Rezept nicht zu stimmen. Ich bitte um spätere Klärung der administrativen Probleme und gleichzeitig um ein Glas Wasser. Die Damen schauen mich etwas mitleidig und fragend an. Polternd fallen die Tablettendosen aus dem Ausgabeschacht, 2+1 Tabletten in die Hand und schnell runterschlucken. Dann zur Notaufnahme, den Chirurgen für die Aufnahme einer Meldung an die Berufsgenossenschaft vorstellen. Alle dort sehr nett, ich selber fühle mich nach Einnahme der ersten Tabletten schon deutlich ruhiger. Erkläre den Kollegen das Vorgehen und welche Blutuntersuchungen notwendig sind, weiterhin widerspreche ich der angeregten medikamentösen Prophylaxe einer Tuberkulose-Übertragung. Trotz allem Aktionismus: Ich fühle mich durch meine plötzliche Rolle als Patient sehr verunsichert.

Tag 2

Merke nach der zweiten Einnahme die beschriebenen gastrointestinalen Nebenwirkungen. Keine massiven Durchfälle, aber mein Bauch „grummelt“ lautstark, zusätzlich fühle ich mich  müde und abgeschlagen.

Tag 4

Habe wenig Hunger, fühle mich, als hätte ich einen Luftballon verschluckt. Toilettengänge folgen einer neuen Logik und sind nicht vorhersehbar, gelegentlich müssen sie ungeachtet der örtlichen Situation schnell umgesetzt werden. Sport und Sauna unterbreche ich vorerst, fühle mich im Fitness-Studio fehl am Platze.

Tag 7

PEP mit Truvada R und Kaletra R
PEP mit Truvada R und Kaletra R

Premiere im Thalia-Theater in Hamburg, eine der besten Bühnen in Hamburg und in Deutschland. Wie immer mit meinem Theaterfreund auf unseren Stammplätzen in der sechsten Reihe in der Mitte, das Theater ausverkauft und voll mit hanseatischem Bildungsbürgertum. Ich erkundige mich bereits beim Eingang nach der Länge des Stückes und ob Pausen vorgesehen sind, da die Stücke oft ohne Pause über drei bis vier Stunden gehen. „Drei Stunden, nein, eine Pause ist aus dramaturgischen Gründen nicht vorgesehen“, Mist!

Nach der ersten Stunde merke ich, dass ich dringend eine Toilette aufsuchen sollte. Ich blicke mich um: Meine Nachbarn, das ganze Theater ist ruhig, alle folgen gespannt der Inszenierung. Jetzt rausgehen würde unter den Blicken von vielen hundert Zuschauern stattfinden, meine ganze Sitzreihe müsste aufstehen, außerdem würden die Damen am Eingang mich nicht mehr in die laufende Vorstellung hineinlassen. Also durchhalten. Blicke alle 15 Minuten auf meine Uhr, habe schon Schweiß auf der Stirn. Als wir endlich rauskommen, verabschiede ich mich fluchtartig, lehne die Einladung zu einem Bier ab und fahre schnell nach Hause.

Tag 9

Wenn mir ein Patient von den Nebenwirkungen wie leichte Diarrhöen, Meteorismus, Abgeschlagenheit und Belastungsschwäche erzählen würde, hätte ich die Therapie als insgesamt sehr gut verträglich beschrieben. Dabei greifen diese „milden“ Nebenwirkungen massiv in mein Leben, meine Freizeitgestaltung und mein Privatleben ein.

Tag 12

Morgendliche Tabletteneinnahme, die zwei Dosen stehen neben dem Toaster. Truvada enthält 30, Kaletra 120 Tabletten, beides bei täglich 1x 1 und 2x 2 Tabletten genau ausreichend für einen Monat. Ich schütte mir die drei Tabletten in die Hand und schlucke sie hinunter. Wundere mich über die fast leere Dose von Truvada, nur noch ein paar vereinzelte Tabletten liegen auf dem Boden. Waren etwa zu wenige Tabletten in der Dose? Da fällt mit plötzlich ein, dass ich die ganzen Tage morgens und abends beide Substanzen eingenommen habe. Unglaublich, seit fast zwölf Jahren verschreibe ich HIV-Medikamente und kläre die Patienten über die Dosierungen und Einnahmezeitpunkte auf und jetzt nehme ich selber eine falsche Dosierung ein.

Tag 30

Beim Blutabnehmen am Hals
Beim Blutabnehmen am Hals

Endlich die letzte Dosis eingenommen! Lasse mir in der Ambulanz die HIV-Serologie  abnehmen und sende das Röhrchen an ein externes Labor. Wenn ich wider Erwarten doch positiv sein sollte, dann könnte es sich ansonsten in der Mikrobiologie und anderen Abteilungen in meiner Klinik herumsprechen. Kein schöner Gedanke. Als dann die Resultate in der Post bei mir zu Hause lagen, warte ich eine Weile, bevor ich den Brief öffne. Was, wenn der Test trotz aller Wahrscheinlichkeit doch positiv ausfallen würde? Die Erleichterung lässt mein Herz leichter schlagen, als ich das negative Ergebnis lese.

In den folgenden Wochen bemerke ich, dass ich die Schilderungen der Nebenwirkungen meiner Patienten anders wahrnehme. Ich bin im Zuhören aufmerksamer geworden. Die HIV-Therapie hat zu einer vergleichbaren Lebenserwartung für Infizierte zur Allgemeinbevölkerung geführt. Unsere Patienten können im Leben alle privaten und beruflichen Ziele verfolgen. Trotzdem habe ich Respekt bekommen, Respekt vor der täglichen Einnahme der Medikamente, der dadurch täglichen direkten Konfrontation mit der Infektion, dem Einfluss auch von „geringen“ Nebenwirkungen auf die Lebensqualität, die Gestaltung von Freizeit und Berufsleben.

Leitlinien der EACS zur Post-Expositionsprophylaxe (PEP)
Leitlinien der EACS zur Post-Expositionsprophylaxe (PEP)

Ausgabe 4 - 2009Back

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