Ingo W. Husstedt, Münster
Moderne Schmerztherapie der HIV-assoziierten Polyneuropathie
Seit Einführung der hochaktiven antiretroviralen Therapie (HAART) 1996 ist die Inzidenz HIV-assoziierter neuro- kognitiver Störungen und opportunistischer Infektionen des ZNS wesentlich zurückgegangen. Die Inzidenz und Prävalenz HIV-assoziierter Polyneuropathien (HIV-PNP) ist jedoch gestiegen. Damit ist die HIV-PNP die häufigste neurologische Manifestation der HIV-Infektion überhaupt.
Weltweit gesehen ist die HIV-Infektion neben Diabetes mellitus und Lepra mit die häufigsten Ursachen einer Polyneuropathie (PNP) überhaupt. Die Wahrscheinlichkeit, eine Polyneuropathie zu entwickeln, ist durch die verlängerte Überlebenszeit unter HAART, den Einsatz neurotoxischer Retrovirustatika und deren längere Anwendungsdauer gestiegen. Oft bestehen komplexe Interaktionen zwischen diesen Risikofaktoren. Veränderungen der Funktion peripherer Nerven finden sich bereits bei 20% in Frühstadien der HIV-Infektion, ohne dass nach klinischen Kriterien eine PNP vorliegt.
Abb. 1 Veränderung der NAS-Scores (%) gegenüber Baseline, durchschnittliche Schmerzintensität in den vergangenen 24 Stunden.
Backonja M, et al. Lancet Neurol 2008;7(12):1106–1112
Erst Dysästhesie, dann Schmerz
Abb. 2 Typische Lokalisation der HIV-DSP 25 Jahre nach laborchemischer Feststellung der HIV-Infektion. Die schwarze Markierung zeigt die Grenze der schmerzhaften DSP aufsteigend zu den Zehenspitzen in einem typischen Fall. © IWH
Abb. 3 Applikation des Capsaicin-Gels. © IWH
Abb. 4 Applikation der Capsaicin-haltigen Qutenza-Folie. © IWH
Abb. 5 Fixierung der Capsaicin-haltigen Qutenza-Folie mit Mullbinden zur besseren Haftung über die Einwirkdauer von 30 Min. © IWH
Die häufigsten HIV-PNP stellen die distal-symmetrische (HIV-DSP) und die toxische Form (HIV-TOX) dar. Bei beiden handelt es sich um typische längenabhängige PNPs mit einem strumpf- und später handschuhförmigen Ausbreitungsmuster. Die Initialsymptome sind meist Missempfindungen in den Zehen, die langsam zu den Knöcheln aufsteigen und häufig einen schmerzhaft brennenden Charakter haben. Im Verlauf berichten Patienten über sensible Negativsymptome, wie Hypästhesien oder Hypalgesien, d.h. verminderte Gefühls- und Schmerzempfindung. Erloschene Achillessehnenreflexe (ASR) finden sich als Frühsymptom in vielen Fällen. Sind die ASR sehr lebhaft, sollte an eine parallel bestehende Myelopathie gedacht werden. Neurophysiologisch findet sich ein sensibles axonales Läsionsmuster mit Verringerung der Nervenleitgeschwindigkeit und der Amplitude des Nervenaktionspotentials. Etwa ein Fünftel der Patienten mit den klinischen Symptomen einer PNP weist normale neurographische Befunde auf, was sich durch den isolierten Befall der kleinkalibrigen Nervenfasern, die die Nozi- und Thermozeption vermitteln, erklärt, die mit normalen neurophysiologischen Methoden nicht zu evaluieren sind.
Symptomatische Therapie
Eine sichere kausale Therapie existiert
für die HIV-DSP nicht. Eine prospektive Arbeit über 8 Monate konnte eine
Besserung in der quantitativen sensorischen Testung unter HAART zeigen. Bei
HIV-TOX ist die Fortsetzung oder Umstellung der HAART indiziert, neurotoxische
Präparate sollten abgesetzt werden. Die Remission kann vier Wochen bis ca.
sechs Monate andauern. Im Vordergrund der Behandlung steht die symptomatische
Therapie der Schmerzen. Tabelle 1 stellt im Überblick die etablierten
Antiepileptika Gabapentin, Pregabalin, Lamotrigen, die Thymoleptika
Amitriptylin und Duloxetin bezüglich
Dosierung, unerwünschte und Wechselwirkungen dar. Das im Allgemeinen in der
Behandlung schmerzhafter Neuropathien ebenfalls zum Einsatz kommende
Carbamazepin sollte aufgrund der Interaktionen mit den Proteaseinhibitoren bzw.
den nicht-nukleosidalen Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NNRTI) nur mit
äußerster Zurückhaltung und unter strenger Kontrolle der Viruslast eingesetzt
werden. Durch die starke Induktion des hepatischen Cytochrom P450 kann die
Serumkonzentration der antiretroviralen Substanzen in einen unwirksamen Bereich
gesenkt werden. Eine Kombinationstherapie für Substanzen mit unterschiedlichem
Wirkmechanismus ist pathophysiologisch sinnvoll, wie z.B. auch der Einsatz von
Duloxetin bei paralleler depressiver Episode.
Eine neue Therapieoption stellt die lokale Behandlung mit Capsaicin dar, z.B. mit Qutenza®, das zur Behandlung peripherer neuropathischen Schmerzen, bei Erwachsenen, die nicht an Diabetes mellitus leiden, zur Monotherapie, oder in Kombination mit anderen Substanzen zugelassen ist. Eine einmalige Applikation von Qutenza® von maximal 1 Stunde bewirkt eine Schmerzlinderung über 3 Monate. Das Pflaster in der Größe von 14 x 20 cm (280 cm²) enthält insgesamt 179 mg trans-Capsaicin, d. h. die Capsaicin-Konzentration beträgt 8% bzw. 640 µg/cm². Das kutane Pflaster („Hautpflaster“, „dermales Pflaster“) ist folienartig („Wirkfolie“) vom Mikroreservoir-Typ.
Praktische Anwendung
Die Vorbehandlung umfasst die Ermittlung und Markierung der schmerzhaftesten Hautareale, die Applikation eines topischen Lokalanästhetikums (z.B. 4%-iges Lidocain für 60 min) auf den markierten Arealen. Es kommen maximal 4 Pflaster pro Anwendung zum Einsatz, für 30 Minuten an den Füßen und für 60 Minuten an anderen Stellen. Nach der Behandlung soll die behandelte Hautregion großzügig gereinigt werden, das Reinigungsgel muss mindestens 1 Minute einwirken. Die Anwendung ist wiederholbar nach frühestens 90 Tagen. Nebenwirkungen (≥1%) stellen Schmerzen, Rötungen, Juckreiz, Papeln, Bläschen, Ödeme, Schwellungen und Trockenheit der Haut dar.
Einfache physikalische Maßnahmen
- Vermeiden enger Socken und Schuhe, langes Stehen | |||
bei Schmerzpersistenz akute Intervention mit konventionellen Analgetika
(möglichst nicht länger als 14 Tage) z.B. Paracetamol 3 x 500 mg Naproxen 2 x 250 mg | |||
bei Beschwerdepersistenz Dauertherapie | |||
Substanz | Wirksame Dosis in mg (Maximaldosis) | unerwünschte Wirkungen | Wechselwirkungen mit antiretroviraler Therapie |
Gabapentin | 900-2.400 (3.600) In 3 Einzeldosen | Benommenheit Übelkeit selten Pankreatitis | cave: potentielle Pankreastoxizität bei Kombination mit ddI und d4T |
Pregabalin | 150 (600) in 2 Einzeldosen | BenommenheitÜbelkeit | Keine relevanten Wechselwirkungen |
Lamotrigin | 100-200 (300) in 2 Einzeldosen cave: sehr langsam aufdosieren! | Hautausschlag Kopfschmerzen Übelkeit | cave: auch Abacavir und NNRTI 1 können Hautausschlag verursachen – kein zeitgleicher Beginn! |
Amitriptylin | 75-150 (300) abends | anticholinerge NW Sedierung, Müdigkeit cave: AV-Block, Glaukom | insbesondere Interaktion mit Protease-Inhibitoren möglich |
Tramal ret. | 50-100 mg (Titration 400 mg) | initial Sedierung initial Übelkeit Hypotension Miktionsstörung | mit Proteasehemmern sowie Efavirenz und Etravirin möglich |
retardiertes Morphin | initial 2x10 mg (Titration 200 mg) | initial Sedierung und Übelkeit; Obstipation Miktionsstörung Kumulation bei NI | cave: sedierender Effekt bei Kombination mit Efavirenz |
Duloxetin | 30 (60) als Einzeldosis morgens | off-label gute Verträglichkeit Übelkeit, Mundtrockenheit, Obstipation Hepatotoxizität | Interaktion mit Ritonavir, Abacavir möglich |
Tabelle 1 Symptomatische Therapie schmerzhafter HIV-Neuropathien
aus Hahn et al. Nervenarzt 2010 4:409-417
1 NNRTI: nicht-nukleosidale Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (Nevirapin, Efavirenz, Delavirdin), NI Niereninsuffizienz
(siehe auch: www.hiv-druginteractions.org )
Wirkmechanismus
Qutenza® als Analgetikum führt zu einer Defunktionalisierung der epidermalen Nervenfasern, die reversibel ist. Die Defunktionalisierung erfolgt abhängig von der Capsaicindosis und der Dauer der Anwendung, sie erfolgt nur im behandelten Areal. Die Behandlung zeigt einen raschen Wirkeintritt nach 2 Tagen, nach 8 Tagen ist es signifikant besser als die Kontrolle. Qutenza® kann als Monotherapie und in Kombination mit den erwähnten Substanzen eingesetzt werden. Die Resultate bisher durchgeführter Studien ergeben, dass auch bei wiederholter Anwendung Inzidenz oder Schwere der Nebenwirkungen konstant auf Niveau der ersten Anwendung blieben. Es wurden keine direkten systemischen Nebenwirkungen, keine Beeinträchtigungen der neurologischen Funktion oder des kardiovaskulären Systems festgestellt. Interaktionen über Cytochrom P 450 Systeme sind nicht beschrieben. Insbesondere Müdigkeit und Erektionsstörungen treten im Vergleich zu den anderen Therapien extrem selten auf.