DAVID WOJNAROWICZ
Silence = Death
„Arthur Rimbaud in New York“, 1978- 79, 25 x 20 cm, aus einer Serie von 24 Gelatinesilber-Abzügen
Untitled (face in dirt), ca. 1980, 72,4 x 72,4 cm, Gelatinesilber-Abzug
Bereits als Teenager lebte Wojnarowicz einige Jahre auf der Straße und verdiente sich seinen Lebensunterhalt zeitweise auch als Stricher. Später zog er als Landstreicher durch die USA - studierte zeitweise an der High School of Music and Art in Manhattan - diese Zeit auf der Straße sollte seine Kunst entscheidend prägen. Nach Aufenthalten in San Francisco wie auch in Frankreich kehrte er in den 70er Jahren zurück nach New York, um dort als Künstler zu leben und zu arbeiten. Zeitweise war er Musiker in der Band „Three Teens Kill 4 - No Motive“, die auf Kinderinstrumenten spielte und Kassettenaufnahmen von gefundenen Geräuschen kombinierte, und in Filmen, Fotos und Texten dokumentierte er die Lower West Side und ihre Bewohner.
Arthur Rimbaud in New York
In dieser Zeit entstand auch seine bekannte Foto-Serie „Arthur Rimbaud in New York“. Sie zeigt Wojnarowicz oder einen Bekannten mit einer Maske, die das Gesicht von Arthur Rimbaud trägt, in heruntergekommenen Gegenden und Wohnungen von New York. Als Vorlage verwendete Wojnarowicz ein bekanntes Foto, das Rimbaud als jungen Mann darstellt. Die Analogie ist nicht zufällig: Rimbaud, der im Alter von 37 Jahren starb, gab im Alter von 21 das Schreiben auf - nachdem er seine berühmtesten Gedichte wie die Illuminationen bereits veröffentlicht hatte - und reiste für den Rest seines Lebens ruhelos durch Europa und Nordafrika, wo er sich als Händler für Gewürze, Elfenbein und Waffen durchschlug. Er starb 1891 an Knochenkrebs.
In seiner Fotoserie identifizierte sich Wojnarowicz zweifellos mit Rimbauds Leben, das oft zu einem fortdauernden Exzess von Dichtung, Drogenrausch, homosexueller Erotik und Gewalt stilisiert wird. Es zeigt die - selbstgewählte - Einsamkeit und Anonymität des Künstlers in der Großstadt und romantisiert diese. Sie dokumentiert auch das Ende einer Ära, denn kurz nach ihrem Entstehen wurde das Viertel zur schicken Wohngegend der aufkommenden Yuppie-Generation, das die ursprünglichen Bewohner verdrängte.
Kunst und politischer Aktivismus
Wojnarowicz fand seine Themen sowie auch sein Material nicht in der klassischen Kunst, sondern in der Kultur, die ihn umgab, bevor „Low-Culture“ vom Kunstbetrieb entdeckt wurde: Er kombinierte allgemein bekannte Figuren und Symbole aus Comics, Science Fiction und Werbung und gab ihnen oft eine neue, ironische Bedeutung, welche die ursprüngliche unterlief. Ikonen des amerikanischen Traums wurden in einen anderen, subversiven Kontext gebracht, der sie durch die Kombination mit typischen Klischees als Ausdruck des Kapitalismus und der Gewalt entlarvte. Harmlose Anzeigen verwandelten sich in Bilder des Schreckens. So überdruckte Wojnarowicz in „True Myth“ die Anzeige eines Supermarkts für billigen Zucker mit der grotesken, an einen mittelalterlichen Holzschnitt erinnernden Darstellung der Wölfin, die Romulus und Remus, die mythischen Gründer Roms, säugt. Auf ihrem Rücken ruht die Welt, die gewissermaßen von den Kindern ausgesogen wird.
Untitled (Buffalo), 1988-89, 103 x 122 cm, Gelatinesilber-Abzug, Edition von 5
Durch die Verwendung von Material wie zerschnittenen Landkarten oder Geldscheinen verwies Wojnarowicz auf die Künstlichkeit von geografischen, sozialen und politischen Grenzen. Die Darstellung von Insekten und Tornados evozierte hingegen die ursprünglichen Kräfte der Natur, mit denen der Menschin Disharmonie lebt. Diesen Zustand illustrierte Wojnarowicz beispielsweise in der Fotografie eines Dioramas im National History Museum in Washington, DC. Sie zeigt Büffel – amerikanisches Sinnbild von Freiheit und Ungebundenheit, die sich eine Klippe hinabstürzen. Konsequenterweise engagierte sich Wojnarowicz auch öffentlich im Kampf gegen die Diskriminierung Aidskranker und unterstützte u.a. Organisationen wie Act Up - „AIDS Coalition to Unleash Power“ durch Lesungen seiner Texte oder durch die Schenkung von Bildern. In dem Film „Silence = Death“ visualisierte er auch eindrucksvoll den Act Up Slogan „Silence = Death“ in einer Einstellung, die sein Gesicht mit zugenähtem Mund zeigt.
A Fire in my Belly
Untitled (Peter Hujar), 1989, 62,4 x 77,5 cm, Gelatinesilber-Abzug
1987 wurde bei Wojnarowicz Aids diagnostiziert, ebenso wie bei seinem Lebensgefährten, dem Fotografen Peter Hujar, der noch im selben Jahr starb. Wojnarowicz verarbeitete dessen Tod in einem Kurzfilm, in dem er die Ignoranz der Gesellschaft gegenüber Aids, dessen Schrecken und den Horror des Sterbens zum Ausdruck brachte und der den Anfang eines Archivs, das Hujars Tod dokumentieren sollte, darstellt. In seinem Essay „Living Close to the Knives“ schrieb Wojnarowicz: „... als wäre sein Tod auf Zelluloid auf der Rückseite meiner Augen festgehalten“.
Der nur wenige Minuten dauernde Film „A fire in my belly” kombiniert Sequenzen von Hujars Körper auf dem Sterbebett direkt nach dessen Tod mit Einstellungen von Belugawalen und zieht dadurch eine Analogie zwischen den „bleichen, fast grauweißen Körpern, die in einem von Sonnenstrahlen erleuchtetes Becken in einem dunklen Gebäude treiben“ und der „Anmut und Unschuld von Hujars Körper, die den Tod überdauert“. Wojnarowicz fasste die Bedeutung Hujars für ihn folgendermaßen zusammen: “Dieser Körper meines Freundes auf dem Bett meines Bruders meines Vaters meine emotionale Verbindung zur Welt dieser Körper.“
In der Ausstellung „Hide/Seek“ - Difference and Desire in American Portraiture, die sich mit Fragen von Sexualität und Geschlecht auseinandersetzt und von 30.1.2010 - 13.02-2011 in der National Portrait Gallery des Smithsonian Institute in Washington zu sehen ist, sorgte „A Fire in My Belly“ nun mehr als 20 Jahre nach seinem Entstehen für einen Skandal.
Untitled (Peter Hujar), 1989, 62,4 x 77,5 cm Gelatinesilber-Abzug
Auslöser war nicht die Darstellung destoten Hujar, sondern eine kurze Einstellung, die ein auf dem Boden liegendes Kruzifix zeigt, über das wimmelnde Ameisen laufen - Symbol für die Tatenlosigkeit Gottes und die Hilflosigkeit der Menschen gegenüber Aids.
Zunächst verschwand das Video plötzlich aus der Ausstellung, nach dem William Donohue, Präsident der rechtskonservativen Vereinigung „Catholic League for Religious and Civil Rights“, gegen die Ausstellung und insbesondere gegen Wojnarowiczs Arbeit gehetzt und es als „hate speech“ bezeichnet hatte.
Doch die Zeiten ändern sich: Die einflussreiche Warhol Foundation, die den Nachlass Warhols verwaltet und mit fast 400.000 Dollar Spenden einer der wichtigsten des Smithsonian ist, drohte daraufhin, wegen Zensur die Gelder zu streichen. In vielen Zeitungen wurde über diesen Vorgang berichtet, was dem Film, der daraufhin von zahlreichen anderen Museen und Galerien gezeigt wurde und nun auch auf Youtube zu sehen ist, ironischerweise eine viel größere Popularität verschaffte, als es die Ausstellung je vermocht hätte. Wojnarowicz hätte diese Form der „viralen“ Verbreitung - im Gegensatz zur musealen - sicher gefreut. Er überlebte Hujar nur um wenige Jahre und starb im selben Alter wie Rimbaud.