Rainer Schilling, Berlin
Die Haut ist dünner geworden; das bleibt
Für HIV&more sprach Bernd Aretz mit dem langjährigen Schwulenreferenten und Gründungsmitglied der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH), Rainer Schilling. Zurzeit ist er im Vorstand der Berliner AIDS-Hilfe. Auf dem Tisch stapeln sich Arbeitspapiere und Zeitschriften rund um HIV, schwules Leben und Drogengebrauchskultur. Bevor Rainer Schilling 1987 zur DAH kam, hatte er schon als Herausgeber und Layouter die Zeitschriften „Emanzipation und Torso“, Ratgeber und Bücher betreut. Im Münchener Verein für Sexuelle Gleichberechtigung (VSG) hatte er die Theoriediskussionen mit der gelebten Wirklichkeit abgeglichen und seinen beharrlichen Einsatz für den Respekt gegenüber schwulen Lebensentwürfen und Biographien begonnen.
Im Jahr 1982 war Rainer Schilling in San Francisco.
„Mein Reisebegleiter war Karl-Georg Cruse. AIDS war in der Szene durch Aufklärungsaktionen und Flyer präsent. Das schwule Leben schien aber noch kaum beeinträchtigt. Allerdings berichteten Mitglieder des VSG von schwerwiegenden Krankheitsverläufen und sammelten für erkrankte amerikanische Freunde. Dass es auch uns betreffen würde, wurde uns dadurch klar. Wir mussten handeln. Da ging es um Aufklärung, Schutz vor Diskriminierung, Begleitung der kranken Freunde, Begrenzung der Krankheit und ihrer Folgen. Es ging um Sexualität, Drogengebrauch, gesellschaftliche Zuschreibungen. Die Deutsche AIDS-Hilfe wurde im September 1983 noch mit dem Namenszusatz Berlin gegründet. Andere großstädtische Gründungen folgten sehr schnell. Aus der DAH entwickelte sich schon bald der Dachverband – AIDS war inzwischen zwar vereinzelt, aber nicht mehr zu übersehen bei uns angekommen. Die Gründer der DAH, der schwule Verleger Bruno Gmünder, der Wirt der Kneipe „Knolle“ und auch Sabine Lange, eine engagierte Krankenschwester, einte, dass sie wussten, welche Facetten das schwule Leben hat. Karl-Georg war an der Gründung der Münchener AIDS-Hilfe beteiligt und übernahm auch ein Vorstands-amt. Die studentische Schwulenbewegung verhielt sich reserviert.“
Karl-Georg Cruse war seit Ende der Siebziger Jahre im VSG engagiert. Er war ein Mann, der aufgrund des Paragraphen 175 StGB verurteilt worden war und sich deshalb sein Leben lang als mit einem Makel behaftet empfand, auch wenn er seine sexuelle Identität nicht versteckte. Gemüseverkäuferinnen und Taxifahrer, die er mit dem Hinweis ansprach, er begehre dies oder das und sei homosexuell, können das bezeugen. Karl-Georg Cruse hatte seine Tätigkeit in der Wirtschaft aufgegeben, weil er die Neigung seines Arbeitgebers, Schadensregulierungen zu Lasten der Versicherten zu betreiben, nicht mehr ertrug. Stattdessen suchte er sich praktische Tätigkeiten, um die Akzeptanz von Homosexuellen in der Gesellschaft zu stärken. Er mischte sich in die Debatte um die Kießling-Affäre ein, er stritt für eine Öffnung der AIDS-Hilfen über den schwulen Gründerkreis hinaus und er baute den Vertrieb von Hot-Rubber-Kondomen und Gleitgel in der DAH auf. Im Jahr 1987 wurde Karl-Georg Cruse der erste Schwulenreferent der DAH und holte Rainer Schilling in die DAH nach Berlin.
„Als Arbeitsgrundlage hatten Karl-Georg und ich im Grunde die Ideen der Ottawa Charta der WHO, die 1986 verabschiedet wurde. Ein Höchstmaß an persönlicher Entfaltungsmöglichkeiten in einer Gemeinschaft, die dies trägt, fördert die seelische und körperliche Gesundheit. Im Kern geht es doch darum, das Individuum zu stärken, seine Handlungskompetenz – auch durch Information – zu erweitern und die Gesellschaft so zu verändern, dass sie die Individualität als Teil ihrer selbst akzeptiert und die Teilhabe aller ermöglicht. Wir haben das – auf die Praxis runtergebrochen – später strukturelle Prävention genannt. Zur gleichen Zeit wurde Saunen die Schließung angedroht, weil Kondome ausgegeben wurden. Die Dortmunder Staatsanwaltschaft erklärte Spritzenautomaten an Brennpunkten des Drogengebrauchs für unzulässig, da sie eine Aufforderung zum Drogengebrauch seien – abseits der Szenen, also dort wo sie nicht genutzt würden, gäbe es keine Bedenken. Im Drogenbereich ging es darum, Überleben zu ermöglichen und die international längst vorliegenden Erkenntnisse zu Substitution und Originalstoffvergabe auch in Deutschland Einzug halten zu lassen. Das hieß erst einmal den i.v.-Drogengebraucher als Drogengebraucher zu akzeptieren. Hilfsangebote mussten auch dann zur Verfügung stehen, wenn der Hilfesuchende nicht bereit war, sich abstinent zu verhalten.
Gerne erinnere ich an Prof. Friedrich Bschorr, einen emeritierten Rechtsmediziner, der in abgelegenen Tagungshäusern auf Einladung der langsam erstarkenden Junkie Selbsthilfe J.E.S. medizinische Trainings für das Überleben auf der Straße und erste Hilfe bei Unfällen durchführte. Als übergeordnete Organisation haben wir Akzept e. V. mitbegründet, um unterschiedlichste Wissenschaftsdisziplinen mit Betroffenen zu einer rationalen akzeptierenden Drogenpolitik zusammenzuführen. Die Selbsthilfe, vor allem J.E.S., hat mit der Förderung von Safer Use zunächst kaum vorstellbare Erfolge erzielt, auch in der Ärzteschaft. Die Drogenpolitik jedoch ist bis heute bei ihrer prohibitionistischen Linie geblieben. Entkriminalisierung tut daher immer noch not. Dass die BRD heutzutage nur noch eine Haftanstalt hat, in der Spritzen getauscht werden, ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Förderung von AIDS-Bekämpfungsprogrammen für nicht so entwickelte Staaten auch an eben diese Möglichkeit des Tausches geknüpft sind.“
Es ging darum, die Vielfalt schwulen Lebens und die Sexualität gegen Ausgrenzungs- und Verbotsphantasien zu verteidigen. Strafrechtlich musste der §175 beseitigt werden, was aber erst in Folge der Vereinigung 1994 geschah. Individuell bedurfte es vordringlich der Information. In den Anfangstagen wusste man nicht sehr viel mehr, als dass es sich um eine sexuell oder durch Blut übertragbare Infektion handelte. Die ersten Präventionsbotschaften entstanden.
„Uns war klar, dass wir die Sexualität gegen die Angst retten mussten. Zwangsweise Enthaltsamkeit bekommt der Seele und damit auch der Gesundheit nicht. Ziemlich schnell war sicher, dass Sperma bei der HIV-Übertragung eine Rolle spielte. Daher unsere Empfehlung, bei Analverkehr das Kondom zu benützen, trotz möglicher Anwendungsfehler mit dem Risiko einer HIV-Infektion. Plausibel war, dass das Risiko einer HIV-Infektion durch den Lusttropfen wahrscheinlich gering, aber im Einzelfall durchaus vorhanden war. Dennoch haben wir für den Oralverkehr formuliert: ‚Blasen ok – raus, bevor es kommt.‘ Die Alternative wäre rigider Kondomgebrauch gewesen, eine Haltung, an der die Menschen nur hätten scheitern können, im Endergebnis mit schlechteren Ergebnissen unserer Präventionsarbeit. Risiko-Minimierung statt Eliminierung, Safer Sex statt Safe Sex, das war unsere Maxime bei der Entwicklung von Präventionsbotschaften.“
„Ich war nach der Erklärung der Schweizer EKAF (Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen) aus dem Jahr 2009 enttäuscht, dass sich alle am Diskurs beteiligten Organisationen so schwer taten, diese Empfehlung in die Safer Sex Empfehlungen einzuordnen. Sich endgültig von der Vorstellung zu lösen, jede Infektion sei vermeidbar, scheint sehr schwer zu fallen. Über unsere Konzepte und Botschaften haben wir einen fruchtbaren Diskurs mit der Wissenschaft geführt. Michael Bochow, Martin Dannecker, Sophinette Becker, Rolf Rosenbrock und viele andere haben uns kritisch begleitet. Der Spannungsbogen im wissenschaftlichen Diskurs ging von ‚Sexualität darf nicht reguliert werden, ist auch nicht regulierbar‘ bis zu ‚die Prävention funktioniert doch.‘ Wir mussten zwischen Psychologie und Soziologie unseren Weg finden. Unsere Bilder und Botschaften mussten die Empfänger ansprechen, ernst nehmen, dass Safer Sex mit Einschränkungen verbunden ist, die manche nicht leisten können oder wollen. Wir wollten die individuelle Auseinandersetzung befördern.“
Rainer Schillings Arbeitsbereich waren unter anderem Printmedien. Viele seiner Plakate haben Eingang in Sammlungen oder Ausstellungen gefunden, wie zum Beispiel seine Familienbande als Familienmodell in der Ausstellung „Wege der Deutschen“, präsentiert unter anderen von der Kunst- und Ausstellungshalle der BRD. Viele seiner Plakate, die Präventionisten in Mengen auf Kongressen abgegriffen haben, wurden weltweit eingesetzt. Eigentlich ist es langsam an der Zeit, dies durch eine Werkschau zu würdigen. Zu manchen Erzeugnissen gab es aber auch Diskussionen, Indizierungsanträge, öffentliche Angriffe, fehlende Neuauflagen. Das klingt nicht nach einem entspannten Verhältnis zu den Behörden.
„Natürlich gab es immer wieder mal Diskussionen darüber, wie explizit Bilder sein durften, welche Vertriebswege für welches Medium sinnvoll seien. Aber ich habe die Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und dort insbesondere mit Dr. Wolfgang Müller immer sehr geschätzt. Dadurch, dass die BZgA die allgemeine Aufklärung betrieb, das Kondom gesellschaftsfähig machte und bei allen Gesellschaftsgruppen – also auch den schwulen Männern – bewarb, gab sie der DAH den Raum, die Stärkung der Identitäten und der Erhöhung der Handlungskompetenz zu fördern und sich um die Fragen des sozialen Umgangs in und mit bedrohten oder betroffenen Szenen zu kümmern. Uns war es sehr recht, dass viele unserer Plakate den Weg in die Dekoration manches Schlafzimmers fanden und damit Gesprächsanreize setzten. Das ging nicht nur mit Kuschelästhetik.
Im Ergebnis hat der Staat Spielräume zugelassen, die ich mir 15 Jahre vorher kaum hätte vorstellen können. Keine unserer Arbeiten wurde indiziert. Die BZgA hat uns als Fach- und Zuwendungsbehörde vor wechselnden Stimmungen der Politik geschützt. Durch langjährige vertrauensvolle Zusammenarbeit gewährleistet sie mit der DAH eine erfolgreiche Prävention. Es mag ja sein, dass die Angst, HIV könne die Heterosexuellen massiv erreichen, Triebfeder des politischen Handelns war, aber es machte den Weg für eine nachhaltige Veränderung der Gesellschaft frei. Natürlich gab es hin und wieder Ärger, z.B. als das Schwulenreferat des ASTA Bielefeld ein sehr erotisches Plakat außen auf seine Tür hing. Dafür war es zwar nicht bestimmt, aber ich glaube auch nicht, dass zwei einander zugewandte Männer irgendeinen Studenten in seinen seelischen Grundfesten erschüttern. Und vielleicht hat es dem ein oder anderen bei seinem Coming Out geholfen. Manche Botschaften lösten Ärger aus. Eine Plakatreihe des Drogenreferates „Vom Heroin, etc., etc. bekommt man es nicht“, um auch unsere Safer Use Botschaften unters Volk zu bringen, war trotz Richtigkeit der Aussage politisch zu weit gehend. Auch heute noch halte ich diese Serie für richtig und freue mich, wenn sie nach mehr als zwanzig Jahren immer noch in Kontaktläden hängt. Wir müssen die Menschen ja an ihren Orten, mit ihrer Sprache und ihren Bildern abholen. Dazu gehört heute ganz sicher das Internet, selbstverständlich in der Sprache der User.“
Als Antwort auf das Motto des Welt-AIDS-Tages 1991 „Gemeinsam die Herausforderung annehmen“ hat die DAH ein Plakat aufgesetzt: „AIDS hat ein Gesicht. Die Herausforderung sind wir“. Es gibt von der DAH auch ein Plakat „Gemeinsam gegen Schwulenhass und Ausländerfeindlichkeit“ und zur deutschen Vereinigung zusammen mit der AIDS-Hilfe DDR „Kein Anschluss unter dieser Nummer 175“. Die Präventionsagentur hat sich damit in die Politik eingemischt.
„Natürlich. Diese Themen, die in diesen Plakaten angesprochen werden, berühren den Kern des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft. Die Missstände im Umgang mit Kranken, mit fremdländisch Scheinenden oder Schwulenverfolgung waren vorhanden. Sie zu thematisieren war nötig, um mit schwuler Szene um Veränderungen zu ringen, das schwule Selbstwertgefühl zu stärken. Nur wer sich selbst wertschätzt, kann auch dem anderen respektvoll begegnen. Die DAH hat in ihren Plakaten und Broschüren, ausgehend von realen Sorgen, Ängsten, Wünschen und Freuden in den Szenen, die Handlungskompetenz des einzelnen und hoffentlich auch die Solidarität untereinander gefördert.“
Die DAH wurde in schwulen Medien angefeindet, weil sie sich nicht der Forderung nach einem Verbot von Barebackpartys anschloss. Es gab die Rede vom verantwortungslosen Positiven und Einzelfallberichte von Menschen, die im Internet darum baten, dass man sie mit HIV infiziere.
„Es war schwierig, in der Debatte Ruhe zu bewahren. Es wurde so viel miteinander vermengt. Uns war wichtig, dass Teilnehmer von Partys sich der Risiken und der Möglichkeit ihrer Begrenzung bewusst waren. Dazu konnte auch das Meiden solcher Partys gehören. Problem waren ja nicht die HIV-Infizierten untereinander. Den Mann, der die Infektion einfach in Kauf nimmt oder sie gar sucht, mag es ja im Einzelfall geben. Das müssen wir akzeptieren, wenn wir uns auch wünschen, dass das informierte Individuum befähigt wird, seine Risiken zu minimieren. Im Übrigen wissen wir aus Untersuchungen zu sexuell übertragbaren Erkrankungen, dass es sich um relativ geschlossene sexuelle Netzwerke handelt. Diejenigen, die in ihnen agieren, haben einen sexuellen Lebensstil, der sie gegenüber übertragbaren Krankheiten besonders riskiert. Für die Ausbreitung der Infektion ist das nicht sonderlich relevant. Fatal wäre allerdings gewesen, wenn wir den Szenen, die uns wegen unserer Akzeptanz ihrer Lebenswelten mit unseren Informationen ernst nehmen, signalisiert hätten, wir missbilligten ihre Lebensweise.
Und wir mussten uns hüten, als Signal in die Welt zusenden, die AIDS-Hilfen oder die Positiven würden es schon richten, der Rest der Welt sei zu nichts verpflichtet. Prävention muss an Selbstschutz appellieren. Wir haben daher Verantwortung in erster Linie als Selbstverantwortung verstanden, allerdings mit der Maßgabe, dass Begegnungen auf gleicher Augenhöhe stattfinden. Uns waren Infektionen nie gleichgültig, aber manchmal sind sie nicht zu vermeiden. Auch die Deutsche AIDS-Hilfe hatte folglich immer infizierte Mitarbeiter. Aber das war ins Private verlagert. Innerhalb unseres Betriebes besprachen das die Leute mit dem Positivenreferenten Hans Hengelein. Natürlich hatten wir auch unsere Toten. Wir haben manchmal erst durch die ernsthafte Erkrankung von der Infektion der Kollegen erfahren. Das änderte sich teilweise, als 1990 die DAH einen überwiegend positiven Vorstand bekam, der zeigte, dass AIDS ein Gesicht hat. Aus Scham und Schuldgefühlen tun sich manche Infizierte auch heute noch schwer, selbst in Arbeitsfeldern wie der AIDS-Hilfe, offen mit ihrer Infektion umzugehen.“
Während das Gespräch um die Erinnerung kreist, stellen wir erfreut fest, dass im Rückblick vieles auch mit mildem Spott gesehen und erzählt wird. Doch die Haut ist dünner geworden. Das bleibt.
Rainer Schilling, Berlin
Rainer Schilling hat Germanistik, Geschichte und Politik studiert. Seit 1974 arbeitet er in der Schwulenbewegung, davon 1987 bis 2008 in der DAH. Zurzeit ist er Vorstandsmitglied der Berliner AIDS-Hilfe.