Prof. Rita Süssmuth, Berlin
„Wir bekämpfen die Krankheit, nicht die Menschen“
Mitte der 80er Jahre war ich als Bundesgesundheitsministerin plötzlich mit einem neuen Thema konfrontiert: AIDS. Ich habe die damalige Situation noch gut in Erinnerung, denn ich war gezwungen, mit einem für diese Sachlage völlig unzureichenden Wissen zu handeln.
Gewidmet Prof. Dr. Dr. Siegfried Dunde, der mir ein wichtiger Mitarbeiter und unverzichtbarer Berater in AIDS-Fragen war und den ich menschlich und fachlich sehr geschätzt habe.
Die AIDS-Forschung steckte in den Kinderschuhen und praktische medizinische Erfahrungen – angefangen mit der Frage, wie AIDS genau zu diagnostizieren sei – fehlten auf breiter Front. Wenig hilfreich war dabei auch das dauernde Wechselbad der Meldungen und Prognosen: Hieß es in der einen Woche „Es steht eine Katastrophe bevor“, erschien in der folgenden Woche ein eher moderater Artikel. Die Menschen waren also in höchstem Maße verunsichert und in diesem Klima nahmen viele Zuflucht in der Feststellung: „Das ist eine Krankheit, die uns nichts angeht, sie geschieht nur in einem bestimmten Milieu.“ Als heterosexuelles Problem wurde AIDS zunächst eindeutig heruntergeredet und in erster Linie als eine „Krankheit der Homosexuellen, Prostituierten und Drogenabhängigen“ gesehen.
Nur zögernd wurde akzeptiert, dass AIDS alle angeht und es darauf ankommt, die Krankheit zu bekämpfen, und nicht die betroffenen Menschen. Prävention ist notwendig und möglich. Verantwortlicher Schutz vor HIV-Infektion ist praktikabel und erfolgreich durchzuführen.
Die Auseinandersetzung darüber, wie man die Ausbreitung der Immunschwächekrankheit verhindern könne, ging durch Mark und Bein. Wie in der Gesellschaft gab es auch im politischen Lager zwei Fronten. Da war eine zunächst kleine Gruppe, die für eine Ausrichtung der Gesundheitspolitik auf Verhütung und Prävention plädierte, um die Infektion in Schach zu halten. Und es gab die große Mehrheit, die ständig das Seuchengesetz im Munde führte und der Ansicht war, die Infizierten müssten identifiziert und separiert werden. Insbesondere der damalige Leiter des Kreisverwaltungsreferates der Stadt München, Peter Gauweiler, feuerte die Ängste an und trat für eine harte Law-and-Order-Politik ein. Auf seine Forderung nach durchgehenden AIDS-Tests bei Homosexuellen hielt ich dagegen, dass man sie dann jeden Morgen erneut testen müsse. Neben Peter Gauweiler gab es den oft zitierten schwedischen Experten Michael Koch, der doch tatsächlich die Verschickung und Isolierung auf einer Insel vorschlug. Unmenschliche Vorschläge, untaugliche Scheinlösungen, aber in einer verängstigten Bevölkerung fanden sie natürlich heftige Resonanz.
Foto: Andrea Warpakowski
Unsere Priorität auf der politischen Ebene war, zunächst Kenntnis vom sich laufend erweiternden Wissen zu bekommen. Wir brauchten auch Beratung bei der Frage, welche Schutzmaßnahmen zu ergreifen waren. Recht bald gründeten wir deshalb einen Beirat, dem auch ausländische Wissenschaftler angehörten und der sich alle vier Wochen traf. Dieser Beirat war eine gemeinschaftliche Aktion der verschiedensten Gruppierungen: Forscher, Ärzte, Menschen der Kulturszene, Praktiker wie Street-Worker oder Priester und Pfarrer – eben alle, die mit von AIDS betroffenen Menschen einen Umgang von Mensch zu Mensch hatten. Im Vordergrund stand für mich immer die Prämisse: „Wir bekämpfen die Krankheit, nicht die Infizierten.“ Es war in dieser Situation damals ganz wichtig, die AIDS-Hilfen mit all ihren Erfahrungen sowohl in der homosexuellen Szene als auch bei den geeigneten Präventionen in die Schutzmaßnahmen einzubeziehen. Heute hört fast niemand mehr hin, aber damals durfte man das Wort Kondome nur hinter vorgehaltener Hand und als Politikerin schon gar nicht in der Öffentlichkeit sagen. Außerdem herrschte die Meinung vor, wer sexuell treu lebe, sei ja nicht gefährdet.
Durch unsere konzertierte Aktion haben wir innerhalb eines halben Jahres ausreichende Finanzmittel für Aufklärungsarbeit eingeholt, wobei in der Anfangsphase die Aufklärungsarbeit noch sehr davon geprägt war, auszuloten, wie weit wir in der Deutlichkeit unserer Botschaften gehen konnten. Auch hierbei waren die AIDS-Hilfen sehr wichtig, die mit einer sehr viel offeneren, auch härteren Sprache an die Öffentlichkeit gingen. Nur gemeinsam gelang dann doch, eine Einstellungsveränderung in der Mehrheit der Bevölkerung zugunsten der Prävention zu bemerken. Entscheidend war, dass mit Ausnahme eines Landesministers alle anderen Bundesländer unserer Position zustimmten. Das war der große politische Durchbruch. Aus meiner Sicht hat AIDS bei aller Dramatik, Gefahr und persönlicher Betroffenheit wenigstens das eine bewirkt: Die Menschen lernten endlich, offener über Sexualität zu sprechen, zu enttabuisieren, im Bewusstsein, dass Sexualität zum Menschen gehört wie Intellekt und Kultur. Es gelang, Eigenverantwortung, Selbstschutz und Schutz des anderen von dieser zunächst tödlichen Gefahr massiv zu erhöhen.
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Die HIV-Infektion veränderte damals die Lebensperspektive radikal, die Frage war: Wie lange lebe ich noch, wie viele Monate oder Wochen? Daher lag der Schwerpunkt der Arbeit der Deutschen AIDS-Stiftung auch zunächst darin, AIDS-kranken Menschen einen letzten Wunsch zu erfüllen, etwa eine Urlaubsreise oder einen Verwandtenbesuch. Bis heute hat sich glücklicherweise viel bewegt – vor allem in der Therapie, aber auch im Wissen über Prävention und Übertragungswege. Zwar gibt es immer noch keine heilenden Medikamente, aber die Lebensqualität HIV-infizierter Menschen ist heute erheblich besser als noch vor 25 Jahren. Dennoch erleben sie in bestimmten Bereichen weiterhin Ausgrenzung und Stigmatisierung. Viele Betroffene haben immer noch Angst, ihre Infektion öffentlich zu machen. Hinzu kommen neue Probleme im Zusammenhang mit dem Älterwerden HIV-infizierter Menschen. Wo können sie betreut wohnen, wenn sie an Begleiterkrankungen und Nebenwirkungen der Medikamente leiden und Pflege benötigen? Oder die Frage der beruflichen Integration. Diejenigen HIV-Positiven, die leistungsfähig sind, müssen an ihrem Arbeitsplatz akzeptiert und integriert werden. Die Stiftung unterstützt aus diesem Grund zunehmend Beschäftigungs- und Qualifizierungsprojekte für Betroffene sowie Angebote betreuten Wohnens. Dabei ist es wichtig, deutlich zu machen: HIV-Positive und AIDS-Kranke leben mitten unter uns, von ihnen geht bei verantwortlichem Verhalten keine Gefahr aus, egal ob wir sie am Arbeitsplatz oder in der Freizeit treffen.
Wir haben heute das Problem, dass die AIDS-Prävention von vielen Menschen nicht mehr so ernst genommen wird. HIV/AIDS wird eher als chronische, nicht als tödliche Krankheit wahrgenommen. Daher sind die Welt-AIDS-Tags-Kampagnen, die sich auch an die junge Generation wenden und dazu aufrufen, sich und den Partner zu schützen, dringend notwendig. Und hier spielt auch die Öffentlichkeitsarbeit der Deutschen AIDS-Stiftung eine wichtige Rolle: Sie trägt das Thema HIV/AIDS – auch über die Benefizveranstaltungen der Stiftung – in die Mitte der Gesellschaft, informiert über die Lebenssituation betroffener Menschen und ruft zu Solidarität mit ihnen auf.
AIDS hat aber vor allem auch eine globale Dimension. Neben mehr finanzieller Unterstützung muss die internationale Gemeinschaft darauf drängen, dass auch die Regierungen der am stärksten betroffenen Länder das Thema zur Priorität machen, dass sie sich dafür einsetzen, dass Tabus aufgebrochen werden und die Ausgrenzung betroffener Menschen beendet wird. Nur wenn AIDS ein öffentliches Thema ist, können Prävention und Aufklärung wirken. Die besorgniserregende Entwicklung vor allem im südlichen Afrika hat die Deutsche AIDS-Stiftung bereits im Jahr 2000 bewogen, sich auch international zu engagieren und modellhafte Projekte zu unterstützen, die sich vor allem der Prävention der Mutter-Kind-Übertragung widmen.
Die Arbeit der AIDS-Stiftung ergänzt und unterstützt die politischen Maßnahmen gegen AIDS und die Hilfe für Betroffene in der Prävention, im gesellschaftlichen und beruflichen Alltag, in der Forschung und Therapie und wirkt in anderen Bereichen als die Politik. Sie ist zu einem unverzichtbaren Bestandteil des gesamten Netzwerks geworden. Der Schwerpunkt der Stiftungsarbeit lag und liegt noch dort, wo für die Betroffenen die von der Politik verantworteten sozialen Hilfen enden. Also Bereiche wie Mithilfe bei der Wohnungssuche, bei der Beschaffung besonderer Matratzen, Förderung von Krankenreisen u.a.
Aber viel wichtiger als die vorgenannten Punkte ist, dass die AIDS-Stiftung mit der Politik – nicht gegen sie – in die Öffentlichkeit geht. Sei es für Projekte im Inland oder für Projekte außerhalb Deutschlands. Und dass sie Aufklärung und Hilfe miteinander verbindet. Persönlich bin ich davon überzeugt, dass die AIDS-Stiftung wie auch die AIDS-Hilfe einen erheblichen Beitrag zur Integration von HIV-Infizierten geleistet haben. Sie haben den präventiven Ansatz in den Vordergrund gestellt und damit wesentlich zum Zusammenleben von HIV-positiven Menschen, AIDS-Kranken und Nichtbetroffenen beigetragen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Rita Süssmuth, Bundestagspräsidentin a.D. und Ehrenvorsitzende der Deutschen AIDS-Stiftung
Rita Süssmuth studierte zunächst Romanistik und Geschichte, bevor sie ein Postgraduiertenstudium der Erziehungswissenschaft, Soziologie und Psychologie aufnahm und 1964 promovierte. Zwischen 1969 und 1982 übte sie zahlreiche wissenschaftliche Tätigkeiten als Professorin für international vergleichende Erziehungswissenschaften an verschiedenen Universitäten aus und leitete von 1982 - 1985 das Forschungsinstitut „Frau und Gesellschaft“ in Hannover. 1985 wurde sie zur Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit (ab 1986 zusätzlich für Frauen) ernannt und war damit die erste Frauenministerin auf Bundesebene. Im Jahr 2002 beendete sie ihre Zeit als aktive Politikerin und arbeitet seitdem in verschiedenen nationalen und internationalen Kommissionen, Verbänden und Stiftungen, unter anderem in der UNAIDS High Level Commission on HIV Prevention.