Ingo
Husstedt und Stefan Evers, Münster
Epileptische Anfälle bei HIV und Aids
Abb. 1 Partiell komplexer epileptischer Anfall; links vor dem Anfall, rechts rhythmische Bewegungen des rechten Arms und psychische Abwesenheit mit starrem, ausdrucklosem Blick
Abb. 2 Generalisierter epileptischer Anfall; links vor dem Anfall, rechts im Anfall
Prinzipiell werden partielle und generalisierte Anfälle unterschieden. Die auffälligen Veränderungen und Äußerungen bei einem epileptischen Anfall hängen von der Funktion des Hirnareals ab, in welchem der Anfall entsteht. Es treten unwillkürliche rhythmische Zuckungen einer Körperregion auf, wobei die Willkürbeweglichkeit aufgehoben ist. Auch Schmerzen oder Veränderungen der Gefühlswahrnehmung können partielle Anfälle darstellen. Andere typische Symptome sind Sehstörungen, Veränderungen des Geruchs, des Geschmacks, des Gehörs und des Gleichgewichts. Wenn neben diesen Symptomen die Reaktionsfähigkeit auf Reize beeinträchtigt oder das Erinnerungsvermögen verändert ist, spricht man von partiell-komplexen Anfällen (Abb. 1)
Generalisierte Anfälle
Häufigkeit in Deutschland
Epileptische Anfälle stellen eine der häufigsten chronischen Erkrankungen in der Neurologie dar. Für Deutschland wird die Zahl der Patienten mit Epilepsie auf 400.000 bis 800.000 bei 30.000 Neuerkrankungen pro Jahr geschätzt. Neben den Betroffenen mit einer gesicherten Epilepsie geht man davon aus, dass bei ca. 5% der Bevölkerung eine latente Epilepsie besteht, das entspricht auch dem Bevölkerungsanteil, der mindestens einmal im Leben einen epileptischen Anfall entwickelt, ohne jedoch an Epilepsie zu leiden.
Akute Hilfsmaßnahmen bei Epilepsie
- Versuchen, den Stürzenden aufzufangen oder hinzulegen, am besten in stabile Seitenlage
- Betroffene aus einer Gefahrenzone herausbringen, dabei am Oberkörper und nicht an den Extremitäten transportieren, da es leicht zum Ausrenken kommen kann
- Abwehrbewegungen nachgeben, da es sonst sehr leicht zu körperlichen Auseinandersetzungen kommen kann
- Keinen Gegenstand zwischen die Zähne schieben, richtet meistens mehr Schaden an als es Nutzen bringt
- Nutzlos Herumstehende werden gebeten zu gehen, da bei Wiedererlangen des Bewusstseins „Gaffer“ sehr unangenehm sind
- Dauer des Anfalls registrieren, insbesondere bei erstem epileptischen Anfall Einweisung ins Krankenhaus organisieren
Am bekanntesten sind generalisierte epileptische Anfälle (Abb. 2). Dabei tritt ein kompletter Bewusstseinsverlust auf, oft ein Initialschrei mit Anspannung der Muskulatur, es kommt zum Sturz und generalisierten rhythmischen Zuckungen der Muskulatur mit Zungenbiss, Anhalten der Atmung mit Blauwerden im Gesicht und Speichelfluss. Oft sind diese Anfälle von Stuhl- oder Urinabgang begleitet und der Betroffene ist für einige Zeit nach dem Anfall desorientiert.
Ursachen
Je nach Stadium der HIV-Infektion weisen bis zu 90% der Patienten eine Form von Neuro-Aids auf. Auslöser von epileptischen Anfällen kann die HIV-assoziierte neuro-kognitive Störung sein, über die bereits früher berichtet wurde (HIV&more 2/2007, www.hivandmore.de/archiv), aber auch opportunistische Infektionen, Alkohol- und Drogenkonsum.
Jeder neu aufgetretene epileptische Anfall bei einem Patienten mit HIV-Infektion stellt einen akuten Notfall dar, der umgehend in eine neurologische Abteilung eingewiesen werden muss. Es wird geschätzt, dass epileptische Anfälle bei bis zu 20% aller HIV-Infizierten auftreten. Bei einer Gruppe von 500 Patienten, die notfallmäßig in eine neurologische Klinik aufgenommen wurden, führten u.a. bei 20% epileptische Anfälle zur notfallmäßigen Aufnahme.1 In den meisten Untersuchungen werden primär generalisierte epileptische Anfälle mit 30% als die häufigste Form beschrieben.2 Von einem retrospektiv untersuchten Kollektiv der Neuro-Aids-Ambulanz im Universitätsklinikum Münster wiesen 6% epileptische Anfälle oder eine Epilepsie auf.
Wer bei einem solchen epileptischen Anfall dabei ist, sollte nicht in Panik geraten, sondern sich ruhig und besonnen verhalten.3 So bedrohlich ein solcher Anfall auch aussehen mag, ist er für die Betroffenen in der Regel nicht lebensgefährlich. Es ist praktisch unmöglich, einen Anfall zu unterbrechen, der einmal begonnen hat. Alle Hilfsmaßnahmen haben zum Ziel, mögliche Komplikationen und insbesondere Verletzungen zu verhindern.3
Stationäre Abklärung
Abb. 3 Generalisierte spikes/waves während eines generalisierten epileptischen Anfalls
Abb. 4 Generalisierte spikes/waves unter Photostimulation als Provokationsmethode
Jeder erste epileptische Anfall bei einem HIV-Infizierten bedarf einer umfassenden Abklärung in einer Abteilung für Neurologie, im Allgemeinen unter stationären Bedingungen. Die Ableitung eines Elektroenzephalogramms („Hirnstromkurve“) liefert mit spikes/waves die entscheidenden Hinweise, da diese typisch für epileptische Anfälle sind (Abb. 3). In einigen Fällen werden auch Verfahren eingesetzt, die diese Veränderungen provozieren die wie Photostimulation mit einem Flackerlicht (Abb. 4). Die Kernspintomographie wird zum Nachweis von Läsionen des Gehirns eingesetzt wie z.B. einer zerebralen Toxoplasmose im Aids-Stadium (Abb. 5). Auch die HIV-assoziierte neurokognitive Störung führt zu Veränderungen des Gehirns, die Ursache epileptischer Anfälle sein können, das HI-Virus ist bereits wenige Wochen nach Akquisition der HIV-Infektion im Gehirn nachweisbar. Bei 30% aller HIV-Infizierten lässt sich im Liquor das HI-Virus mittels PCR nachweisen, obwohl im Plasma das Virus unter die Nachweisgrenze supprimiert ist.
Indikation zur Therapie
In aller Regel besteht eine Indikation zur Behandlung mit Antikonvulsiva, wenn mindestens zwei Anfälle ohne Provokationsfaktoren (Schlafentzug, Alkoholkonsum, Drogengebrauch) eingetreten sind. Bei epileptischen Anfällen aufgrund fokaler Läsionen des Gehirns ist in vielen Fällen eine Behandlung mit Antiepileptika indiziert. In einer prospektiven Studie über 500 Patienten, die 5 Jahre umfasste, wurden als Hauptursachen epileptischer Anfälle toxische Drogen (47%), intrakraniale Läsionen (35%), Stoffwechselstörungen oder unbekannte Ursachen (18%) gefunden. Es handelte sich in 70% der Fälle um generalisierte Anfälle, in 12% um einfache motorische Anfälle, in 18% um partiell-komplexe Anfälle.5 Untersuchungen an einem eigenen Kollektiv ergaben, dass in 40% der Fälle bei erstaufgetretenen epileptischen Anfällen eine opportunistische Infektion als Auslöser vorlag.2
Medikamentöse Prävention
Abb. 5 33jähriger Patient aus Kamerun. HAART mit
geboostertem Atazanavir plus Tenofovir/Emtricitabin. Für die zerebrale
Toxoplasmose Sulfadiazin 4x 2 g, Daraprim 2x 50 mg, Atovaquone 2x 1,5 g
©Prof. Heindel, Institut für Klinische
Radiologie UK Münster
Mögliche Ursachen einer HIV-assoziierten Epilepsie
- akute Meningitis/Enzephalitis
- HIV-assoziierte neurokognitive Störung
- opportunistische Infektionen
- CMV-Toxoplasmose
- Kryptokokkose
- PML
- HSV-Enzephalitis
- zerebrale Tuberkulose
- primär zerebrales Lymphom
- Schlaganfälle
- Drogen
- antiretrovirale Medikation
Tab 2.
HAART schließt meistens Medikamente ein, die ein hohes Interaktionspotenzial mit Antikonvulsiva besitzen. Ältere Substanzen zur Behandlung epileptischer Anfälle z.B. wie Phenylhydantoin oder Valproinsäure sind zwar billig und im Prinzip auch effektiv, weisen aber eine hohe Nebenwirkungsrate wie z.B. Müdigkeit, Polyneuropathie und Haarverlust auf. Darüber hinaus haben sie ein weites Interaktionsspektrum mit HAART. Geeignet sind die Substanzen Gabapentin, Pregabalin und Levetiracetam, wobei die beiden ersten auch bei gleichzeitig bestehender distalsymmetrischer, HIV-assoziierter Polyneuropathie einen wesentlichen schmerztherapeutischen Effekt besitzen. Die Aufdosierung folgt den allgemeinen Richtlinien, sie hat einschleichend zu erfolgen.
Nach eigenen Untersuchungen erhielten von den Patienten, die auf eine antikonvulsive Therapie eingestellt wurden, 50% für HIV-Infizierte ungeeignete Medikamente wie z.B. Valproinsäure, Carbamazepin, Lamotrigin, Clonazepam oder Phenylhydantoin.2
Antiepileptika müssen regelmäßig eingenommen werden, Auslassen erhöht das Risiko eines epileptischen Anfalls, insbesondere wenn Schlafentzug, Alkohol- oder Drogenkonsum hinzukommen. Je nach Ursache und Verlauf kann ggf. ein langsames Ausschleichen nach zwei- bis dreijähriger Anfallsfreiheit erfolgen. Dabei sind regelmäßige Kontrollen durch einen Neurologen notwendig.
Bei einem Anfall, der vom behandelnden Neurologen als Gelegenheitsanfall klassifiziert wird, besteht die Fahreignung wieder nach einer Beobachtungszeit von 3 bis 6 Monaten, wenn die auslösenden Bedingungen des Gelegenheitsanfalls nicht mehr gegeben sind. Bei anderen epileptischen Anfällen – z.B. aufgrund einer opportunistischen Infektion – besteht Fahreignung frühestens nach einjähriger Anfallsfreiheit.
1 Satishchandra P, Sinha S: Seizures in HIV-seropositive indivuduals: NIMHANS experience and review. Epilepsia 2008; 49: 33-41
2 Kellinghaus C, Engbring C, Husstedt IW et al.: Frequency of seizures and epilepsy in neurological HIV-infected patients. Seizure 2008; 17:27-33
3 Landesärztekammer Baden-Württemberg, Patienten-Infos: Erste Hilfe bei einem epileptischen Anfall. http://www.aerztekammer-bw.de
4 Goldstein MA, Harden CL: Human immunodeficiency virus (HIV). http://professionals.epilepsy.com
5 Pascual-Sedano B, Iranzo A, Marti-Fabregas J et al.: Prospective study of new-onset seizures in patients with human immunodeficiency virus infection: etiologic and clinical aspects. Arch Neurol 1999; 56: 609-612