Christian
Hoffmann, Hamburg
ART ohne Nukes und ohne PIs – geht das?
Fallbericht:
Die 58jährige Patientin ist seit mindestens 1994 HIV-positiv. Zu AIDS-definierenden Erkrankungen ist es nicht gekommen. Antiretroviral behandelt wird sie bei einem Nadir von 170 CD4-Zellen/µl seit Februar 1997, anfangs teilweise mit „Duotherapien“ und anderen – aus heutiger Sicht – eher insuffizienten Regimen. Ein genotypischer Resistenztest im Mai 2000 unter der damaligen Kombination D4T+3TC+ Nevirapin hatte diverse RTI-typische Resistenzen ergeben, und zwar im NRTI-Bereich M184V plus drei TAMs (T70R+T215F+K219E) sowie die beiden Mutationen Y181C+V108I bei den NNRTIs. PI-Resistenzen bestanden nicht. Zusätzlich klagt die Patientin zu diesem Zeitpunkt über eine Lipoatrophie („Storchenbeine“).
Daraufhin wurde die Patientin 2001 auf eine NRTI-sparende Therapie umgestellt. Unter mehreren Doppel-PI-Kombinationen und einer zuletzt im Juni 2008 Therapie mit Raltegravir und Darunavir/r zeigte sich eine gute und konstante Virussuppression mit normalen CD4-Zellen.
Neuere Probleme der adipösen Patientin sind ein inzwischen insulinpflichtiger Diabetes mellitus mit Entwicklung einer Insulinresistenz und einer diabetischen Nephropathie (letzte GFR von 30-40 ml/Min). Zusätzlich bestehen ein arterieller Hypertonus sowie eine zunehmend Statin-refraktäre Dyslipidämie (Cholesterin 583 mg/dl, Triglyzeride 864 mg/dl, LDL 353 mg/dl, HDL 34 mg/dl). Die Familienanamnese ist positiv, der Vater ist mit 59 Jahren an einem Myokardinfarkt gestorben.
Bei Patienten wie in dem oben geschilderten Fall stellt sich zunächst die Frage, ob aus virologischer Sicht ein Verzicht auf den geboosterten PI angesichts der Resistenzlage überhaupt möglich ist. Auch ist natürlich unklar, welchen Einfluss/Stellenwert der PI/r letztlich auf die sehr ungünstige Stoffwechsellage hat. In den letzten Jahren gab es allerdings einige Pilotstudien zu experimentellen Kombinationen, die im Folgenden zusammengefasst werden sollen. Zu unterscheiden sind dabei Kombinationen aus dem Integrasehemmer Raltegravir plus entweder dem CCR5-Antagonisten Maraviroc und/oder verschiedenen NNRTIs wie Nevirapin, Etravirin oder Rilpivirin.
Raltegravir+Maraviroc
Auf dünnem Eis sollte man sich vorsichtig bewegen.
© Jürgen Fälchle-fotolia.com
Pharmakokinetisch scheint die Kombination gut machbar zu sein. Klinisch relevante Spiegel-Veränderungen scheint es nicht zu geben (Andrews 2010, Baroncelli 2010). Wie ist es mit der Effektivität? In der ROCnRAL Studie, die auf der CROI 2013 Anfang des Jahres vorgestellt wurde, kam diese Strategie auf den ersten Blick erst einmal unter die Räder. In dieser einarmigen Pilotstudie hatten insgesamt 44 Patienten mit Lipodystrophie eine duale Therapie aus Raltegravir+Maraviroc begonnen (Katlama 2013). Die Patienten hatten im Median 15 Jahre ART erhalten und im Median über 5 Jahre eine Viruslast unter der Nachweisgrenze, bei allen lagen R5-trope Viren vor. Nach dem Wechsel auf Raltegravir+Maraviroc entwickelten insgesamt 7/44 Patienten ein Therapieversagen, davon 5/7 mit virologischem Versagen (zwischen Woche 8 und Woche 20). Immerhin 3/7 Patienten zeigten dabei Raltegravir-Resistenzen und ein Patient einen Shift zu Non-R5-Viren, sodass die Studie auf Empfehlung des unabhängigen Data Safety Monitoring Boards im September 2012 abgebrochen wurde. Bemerkenswert: die 5/44 Patienten mit Therapieversagen hatten zuvor unter anderen Regimen (jeweils zwei Patienten mit TDF+FTC plus Darunavir/r oder Efavirenz, ein Patient mit Darunavir/r-Monotherapie) sehr lange eine gute Virussuppression beibehalten, und zwar zwischen rund 4 und 9 Jahren. ROCnRAL zeigt daher leider nur zu eindrücklich, dass das Eis brüchig bleibt und dass man auch bei sehr lang bestehender Virussuppression vorsichtig bleiben muss. Andererseits war diese Strategie aber auch bei vielen Patienten erfolgreich. Zu klären bleibt, bei welchen Patienten und aus welchen Gründen die Kombination aus Raltegravir und Maraviroc nicht ausreicht.
Die NNNB-Studie („NoNucNoBoost“) untersucht derzeit, ob eine solche Kombination machbar ist, wenn weder eine problematische Resistenzlage noch eine lange Therapievorgeschichte vorliegen. In dieser aktuell noch laufenden Studie erhalten therapienaive Patienten mit R5-tropen Viren, mindestens 200 CD4-Zellen und weniger als 100.000 Kopien/ml zunächst eine Vierfachtherapie aus TDF+FTC und Maraviroc und Raltegravir. Diese wird nach 24 Wochen und bei guter Virussuppression auf die duale Therapie aus Raltegravir+Maraviroc vereinfacht. Erste Daten wurden kürzlich auf der IAS in Kuala Lumpur vorgestellt (Cotte 2013). In der ersten Pilotphase blieben von 10 Patienten alle bis Woche 48 unter 50 Kopien/ml, die Studie wurde inzwischen für weitere 30 Patienten geöffnet.
NNRTIs+Raltegravir
Auf der EACS in Brüssel wurden zwei Studien zu NNRTIs+Raltegravir veröffentlicht. Dabei erwies sich die Kombination aus Raltegravir+Nevirapin in einer kleinen französischen Studie an 39 Patienten als effektiv. Die Patienten waren langjährig vorbehandelt (im Mittel 14 Jahre) und unter einer Standard-ART mit Nevirapin mindestens sechs Monate mit ihrer HIV-RNA unter der Nachweisgrenze (im Mittel 50 Monate). Teilweise wurde mit Raltegravir der PI/r ersetzt, teilweise auch TDF+FTC. Nach dem Wechsel auf die Duotherapie kam es über immerhin nun schon über 27 Monate hinweg nur zu einem einzigen Fall virologischen Versagens (Reliquet 2013). Ähnliches zeigte sich auch in einer Pilotstudie bei 25 Patienten unter einer Kombination aus Raltegravir+Etravirin, die mittlerweile auch peer-reviewed veröffentlich wurde (Monteiro 2013). Hier waren die Patienten ebenfalls sehr lange vorbehandelt, im Mittel sogar 16 Jahre. Immerhin 84% hatten zuvor ein virologisches Versagen entwickelt, viele Patienten hatten zahlreiche Resistenzmutationen. Trotzdem fand sich in dieser Pilotstudie – allerdings bei noch kurzem Follow-up – bislang nur ein einziger Fall virologischen Versagens unter der Duotherapie.
Trotz der begrenzten Erfahrungen scheint zumindest in Paris bereits nicht selten von solchen Optionen Gebrauch gemacht zu werden. Die Arbeitsgruppe um Christine Katlama wertete retrospektiv immerhin 91 Patienten aus, die seit Januar 2008 auf die Duotherapie aus Raltegravir+Etravirin gewechselt waren (Calin 2013). Bei allen Patienten war die Viruslast zum Zeitpunkt des Wechsels unter der Nachweisgrenze. Die Umstellungsgründe waren sehr heterogen und bestanden in Lipodystrophie, renalen und gastrointestinalen Nebenwirkungen, aber auch Therapievereinfachungen. Das mediane Follow-up lag bei 11,5 Monaten. Insgesamt 65 Patienten hatten 6 Monate erreicht und 48 sogar schon 12 Monate, die Rate der Patienten zu diesem Zeitpunkt mit einer HIV-RNA unter 50 Kopien/ml lag zu diesen Zeitpunkten bei 98,2% und 92,3%. Insgesamt 3 Fälle virologischen Versagens wurden beobachtet, 2/3 hatten zuvor bereits ein NNRTI-Versagen erlebt. Ein Patient entwickelte Raltegravir-Resistenzen. Auch wenn es zwischen Poster und Abstract ein paar Diskrepanzen gab (im Abstract waren es noch 5 Fälle virologischen Versagens gewesen, im Poster nur noch 3): laut den Autoren rechtfertigen diese Resultate eine randomisierte Studie.
NNRTIs+Raltegravir+Maraviroc
Diese Kombination wurde bislang vor allem im Salvage-Setting untersucht. Daten gibt es fast ausschließlich zu Etravirin+Raltegravir+Maraviroc. In einer italienischen Studie blieben 26/28 (92%) nach 96 Wochen unter der Nachweisgrenze (Nozzi 2010, Nozzi 2011), nach 156 Wochen waren es 22/24 (92%) Patienten (Bigolonia 2012). In einer Fallserie aus den USA gelang dies 6/9 Patienten nach 24 Wochen (Youngblood 2011). Auch aus Washington wurden retrospektiv ein paar Fälle vorgestellt (Ward 2013), die erfolgreich auf eine PI/NRTI-freie Kombination umgestellt hatten, darunter einige Patienten mit Kombinationen wie Raltegravir und Maraviroc plus entweder Etravirin oder auch Rilpivirin. Angesichts des Fehlens einer Kontrollgruppe bei all diesen Beobachtungen kann derzeit nur konstatiert werden, dass bei Dreiklassen-Versagen eine solche Triple-Kombi prinzipiell möglich und in vielen Fällen wohl auch effektiv ist. Es bleibt unklar, bei welchen Patienten. Pharmakokinetisch scheint die Kombination ohne relevante Probleme zu sein (Calcagno 2011).
Fallbericht:
Angesichts der bedrohlichen Stoffwechsellage wird bei der Patientin die Entscheidung zu einer Nuke- und PI-freien Therapie getroffen – trotz der problematischen Resistenzlage in dem letzten genotypischen Resistenztest 2000. Ein Tropismus-Test aus proviraler DNA bei der Patientin ergibt R5-trope Viren. Die Patientin erhält daher eine Kombination aus dem CCR5-Antagonisten Maraviroc 300 mg BD und dem Integrasehemmer Raltegravir 400 mg BD. Die Therapie wird (aufgrund der Daten aus der ROCnRAL Studie) noch um den NNTRI Rilpivirin erweitert, der nach Diskussion mit dem beteiligten Virologen trotz der beiden in 2000 detektierten NNRTI-Resistenzen noch wirksam sein sollte.
Stoffwechselparameter
Bessert sich eigentlich etwas durch antiretrovirale Therapien, die ohne PIs und ohne NRTIs auskommen? Unter Nevirapin+Raltegravir entwickelten sich die Lipide bei den Patienten nach sechs Monaten günstig (Reliquet 2013), ebenso unter Etravirin+Raltegravir (Monteiro 2013). Ob das letztlich Auswirkungen auf das kardiovaskuläre Risiko hat, bleibt unklar. Das gilt natürlich auch für die Lipodystrophie, wenngleich in der ROCnRAL-Studie wohl teilweise ein paar günstige Veränderungen beobachtet wurden (Bastard 2013). In der oben bereits erwähnten italienischen Studie verschlechterte sich dagegen unter einer Kombination aus Raltegravir+Maraviroc+Etravirin die Glucosetoleranz. Insgesamt 4/24 Patienten entwickelten in dieser Studie – unerwarteterweise – einen Diabetes mellitus (Bigolonia 2012). Kurz: Verlässliche, valide Aussagen darüber, ob sich metabolische oder sonstige Nebenwirkungen bessern oder möglicherweise sogar verschlechtern, können derzeit nicht gemacht werden.
Fallbericht:
Wichtigste Nachricht, 8 Monate später: Die HIV-RNA der Patientin liegt bei monatlichen Kontrollen weiter konstant unterhalb der Nachweisgrenze von 20 Kopien/ml. Die ART aus Maraviroc, Raltegravir und Rilpivirin wird gut vertragen und sehr gewissenhaft eingenommen. Die Lipid-Stoffwechsellage hat sich, ohne dass etwas an der begleitenden Statin- und Diabetes-Therapie geändert wurde, deutlich verbessert. Das Cholesterin ist von 583 auf 217 mg/dl gefallen, die Trigylceride von 864 auf 362 mg/dl, das LDL von 353 auf 151 mg/dl, das HDL ist dagegen von 34 und 47 mg/dl gestiegen. An der Insulinresistenz hat sich nichts geändert.
Fazit: Vieles geht, aber auch nicht alles!
Bei vorbehandelten Patienten mit guter Virussuppression, guter Adhärenz und ohne Resistenzprobleme in der Vorgeschichte geht vermutlich manches gut. Aber eben auch nicht alles! In der Primärtherapie, außerhalb von Studien und vor allem ohne Gründe sollten diese neuen Regime ganz sicher nicht angewendet werden. Es empfiehlt sich gerade in den ersten Monaten ein engmaschiges Monitoring, um das Resistenzrisiko möglichst zu minimieren. Ob sich beispielsweise eine Lipodystrophie bessert, ist nicht bewiesen. Ein positiver Effekt auf eine Dyslipidämie scheint, wie sich auch in dem beschriebenen Fall gezeigt hat, immerhin möglich zu sein. Alles in allem ist die Datenlage jedoch noch sehr dünn.
Dennoch sind vor dem Hintergrund einer jahrzehntelangen Therapie weitere Studien dringend notwendig. Die heute etablierten, relativ starren Therapien werden für eine lebenslange Behandlung vermutlich nicht ausreichen (Jansson 2013). Die ART in einer alternden Patientenpopulation muss flexibler werden, neue Strategiemöglichkeiten sind gefragt. Gerade mit Dolutegravir, einem Integrasehemmer mit wahrscheinlich sehr hoher Resistenzbarriere, könnten sich dabei in Zukunft neue Möglichkeiten bieten.
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