Heino Stöver, Frankfurt, und Bärbel Knorr, Berlin
HIV, Hepatitis und Haft

Prinzipiell gelten für die medizinische Versorgung von Gefangenen die gleichen Standards wie für Patienten der gesetzlichen Krankenversicherung. Dennoch gibt es hinter Gittern eine Fülle von Besonderheiten, bedingt durch das enge Zusammenleben, durch gehäuft auftretende Krankheitsbilder wie HIV und Hepatitis C und durch die Doppelfunktion des Arztes als Teil der staatlichen Macht und zugleich als Anwalt des Patienten.

Um es vorweg zu nehmen: Wir wissen sehr viel über die Herausforderungen der medizinischen Versorgung im Justizvollzug, aber relativ wenig über die Realitäten der gesundheitlichen Versorgung Gefangener. Eine Bestandsaufnahme und Übersicht über die Versorgungsleistungen wird einerseits durch die föderale Struktur des Strafvollzuges und fragmentierte Daten, andererseits durch mangelnde Forschung, Dokumentation, Qualitätssicherung erschwert.

Terminologie

Foto: Heino Stöver
Foto: Heino Stöver

Zunächst einige begriffliche Klärungen, die die Diskussion um die gesundheitliche Versorgung Gefangener prägen. ‚Anstaltsmedizin‘, ‚Gefängnismedizin‘ sind ungenügende Begriffe für eine gesundheitliche Versorgung, die sich an den Richtlinien der GKV orientiert. Sie suggerieren eine ‚Extra-Medizin‘, die es nicht gibt. Es gibt wohl besondere Umstände, aber keine Zwei-Klassen-Medizin zwischen „Drinnen und Draußen“. Sprechen wir in Haft von medizinischer oder gesundheitlicher Versorgung Gefangener? Letzteres wäre ein umfassenderes Konzept und würde moderne Strategien der Gesundheitsvorsorge beinhalten.

Im Strafvollzugsgesetz wird zudem von „Gesundheitsfürsorge“ gesprochen (§56-66 StVollzG). Dies stellt ein veraltetes Konzept gesundheitlicher Versorgung von Ärzten für kranke Menschen dar. Es basiert auf einem kurativen Verständnis von Medizin. Moderne präventive Ansätze hingegen, die auf „partizipativer Entscheidungsfindung“ basieren, kommen notwendigerweise zu kurz! ‚Gesundheitsfürsorge‘ reflektiert nicht die in Freiheit entwickelten Konzepte von Gesundheitsförderung, die Setting- und Ressourcen-orientiert sind und alle im Vollzug lebenden und arbeitenden Menschen (also auch die Angestellten) sowie die baulich-physikalischen Bedingungen einbeziehen würde: Healthy Prisons wäre der begriffliche Ausdruck der Neukonzeption (Stöver 2000).

Strukturelle Vorgaben

Die strukturellen Bedingungen der medizinischen Versorgung von Gefangenen zeigt die Besonderheiten und Probleme im Justizvollzug. Anstaltsärzte müssen ein erhebliches Rückgrat beweisen, um nicht vorschnell vereinnahmt zu werden und ihre professionelle Unabhängigkeit zu wahren. Sie müssen über beruflich-ethische Leitlinien allgemein, über medizinische Ethik im Vollzug im Besonderen informiert sein, um zu wissen, wie sie mit sicherheitsrelevanten Anforderungen umgehen müssen (Keppler 2009b).

Gesundheitlich stark vorbelastete Gefangene, z.B. Sucht und psychische/psychiatrische Störungen/Erkrankungen, aber auch geriatrische Problematiken stellen enorme Herausforderungen dar. Das bedeutet medizinische Herausforderungen, die weniger mit einer Hausarztpraxis, sondern eher mit einer Schwerpunktpraxis verglichen werden können.

Die medizinischen Dienste der JVA sind auf die medizinische Sekundär-Versorgung nur unzureichend vorbereitet. Während die Primär-Versorgung zu einem hohen Teil gewährleistet und erbracht wird, werden sekundäre und tertiäre Behandlungsstufen (Ko-/Multi-Morbiditäten, psychiatrische, geriatrische Erkrankungen) nicht ausreichend abgedeckt.

Die Übergänge von der Freiheit in die Haft und wieder hinaus bilden enorme Schnittstellenprobleme für eine kontinuierliche Gesundheitsversorgung und münden oft in Abbrüchen, Unter- oder Fehlversorgungen (Stöver/Keppler 2009).

Diese werden von den Gefangenen oftmals angezeigt. Es folgen – für den Arzt potentiell belastende – Untersuchungen über die tatsächliche Behandlungspraxis – darin drückt sich auch der Widerstand der Patienten aus.

Inhaftierte haben keine freie Arztwahl: Sich den Arzt/die Ärztin nicht aussuchen können, sondern komplett von ihm/ihr abhängig zu sein, hat oftmals schwerwiegende Folgen für das Arzt/Patient-Vertrauensverhältnis. „Meine Patienten laufen mir nicht weg“ (was oft scherzhaft geäußert wird) erfordert eine große Verantwortung und sichtbaren Ausdruck und permanente Orientierung an der Unabhängigkeit des Arztes in Haft. Die fehlende freie Arztwahl wird besonders deutlich im Frauenvollzug und hat zur Forderung nach gendergerechter ärztlicher Versorgung geführt (AG Frauenvollzug 2013). Aber auch umgekehrt muss an die gendersensible ärztliche Versorgung gedacht werden!

Eine dem Äquivalenzprinzip verpflichtete (d.h. gleiche Qualität in der medizinischen Versorgung innerhalb und außerhalb der Mauern, Orientierungen an den GKV-Richtlinien) medizinische Versorgung Gefangener, insbesondere der suchtkranken Inhaftierten ist bislang nicht umgesetzt. Dies markiert eine strukturelle gesundheitliche Ungleichheit, die die gesundheitliche Versorgung Gefangener durch einen justiz-internen Gesundheitsdienst („Gesundheitsfürsorge“) in Frage stellt (Pont, Stöver, Wolff 2012). Das mit der Inhaftierung verbundene Herausfallen aus der Gesetzlichen Krankenversicherung offenbart nach Haftentlassung zusätzliche Risiken, denn in Haft durchgeführte Therapien (z.B. Substitutionsbehandlung, HIV-Therapie) können oft nur mit erheblicher Verzögerung fortgesetzt werden (Lesting/Stöver 2012).

Ärzte unter Druck

Der Druck von innen und von außen bezogen auf die Erwartung an je eine spezifische Ausgestaltung der ‚Anstaltsmedizin‘ ist enorm hoch: Abstinenzforderungen/-unterstützungen (seitens der Politik), Beruhigungen der Gefangenen (seitens des Personals), medizinische Unterstützung gemäß GKV (seitens der Gefangenen), und Unterstützung bei sicherheitsrelevanten Entscheidungen und Maßnahmen, Abstandsgebot der Qualität medizinischer Versorgung zu der in Freiheit (seitens der Mehrheit der Bevölkerung) sind nur einige der Zwickmühlen, in die Anstaltsärzte geraten (können). Iatrogene Störungen/Erkrankungen stellen besondere Herausforderungen für die gesundheitliche Versorgung dar, und sind besonders schwer zu diagnostizieren. Entsprechend umfangreich stellen sich die Versorgungs- und Organisationsprobleme dar.

Jeder zweite Häftling Drogen-erfahren

In Deutschland befinden sich rund 70.000 Menschen im Strafvollzug und in Untersuchungshaft. Weitere 10.000 Menschen sind im Maßregelvollzug (d.h. psychisch kranke oder suchtkranke Straftäter) untergebracht. Die Gefangenenzahlen sind seit einigen Jahren rückläufig, dennoch durchläuft jedes Jahr eine relativ große Gruppe die Haftanstalten: Über 238.000 Eintritte aus der Freiheit oder Wechsel der JVA. Davon sind über 112.000 Neuaufnahmen, zzgl. Neuaufnahmen und Wechsel Maßregelvollzug  (Statistisches Bundesamt 2012).

Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung sind aktuelle/ehemalige i.v.-Drogenkonsumenten, HCV-/HIV-Infizierte in deutschen Haftanstalten deutlich überrepräsentiert. Diese Zahlen bestätigt die EMCDDA (European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction), deren Schätzungen darauf hinauslaufen, dass mindestens die Hälfte der europäischen Gefangenenpopulation „drogenerfahren“ ist, viele davon mit einem problematischen und/oder intravenösen Konsum (EMCDDA 2006).

Etwa jeder Zehnte der allgemein angenommenen Gesamtzahl von mind. 150.000 problematischen Drogenabhängigen ist somit inhaftiert. Bei 11.000 zur Verfügung stehenden Therapieplätzen befinden sich also etwa 1,5 Mal mehr Drogenkonsumenten im Gefängnis als in Therapieeinrichtungen.


i.v.-Drogen-
konsumenten
HCV HIV
Haftanstalten1,2 21,9-29,6% 14,3%-17,6% 0,8 -1,2%
Allgemeinbevölkerung 0,3%3 0,4 -0,7%1 0,05%4
Faktor 73- bis 98fach 26- bis 32fach 16- bis 24fach
1 Radun et al. 2007; 2 Schulte et al. 2009; 3 EMCDDA 2006; 4 UNAIDS 2007;
HCV: Hepatitis-V-Virus, HIV: Human Immunodeficiency Virus

Tab 1  Anteil der i.v.-Drogenkonsumenten (IDU) und Drogen-assoziierter Infektionserkrankungen in deutschen Haftanstalten und in der Allgemein- bevölkerung. Befragung von Anstaltsärzten in 31 deutschen Haftanstalten mit insgesamt mehr als 14.000 Strafgefangenen (Schulte et al. 2009)

Die Infektionsdynamik wird überwiegend von drogen-bedingten Infektionsrisiken befeuert. Entsprechend hoch ist die Zahl Opioidabhängiger mit einer schwerwiegenden Infektionskrankheit: 17,6% aller Gefangenen haben eine Hepatitis C, 10,6% haben oder hatten eine Hepatitis B, 0,8% sind HIV-positiv (Tab. 1). Jeder zweite Gefangene (50,6%), der jemals Drogen injizierte, ist HCV-positiv und 1,6% sind HIV-positiv. Das heißt jeder fünfte bis sechste Gefangene hat mindestens eine dieser Infektionserkrankungen.

Die Problemlage gleicht der einer suchtmedizinisch-infektiologischen Schwerpunktpraxis in Freiheit: doch ist man dafür gerüstet? Allein diese Zahlen beantworten diese Frage: Von 186 Justizvollzugsanstalten bietet nur eine JVA einen Spritzentausch an, d.h. von den 70.000 Gefangenen haben 110 Gefangene einen Zugang zu sterilen Spritzen (0,16%).

Substanzabhängigkeit

Viele DrogenkonsumentInnen waren schon mindestens einmal inhaftiert. Eine Untersuchung an KonsumentInnen in Freiheit fand einen Anteil an Hafterfahrungen von durchschnittlich vier Jahren (48,8 Monate; Frauen 31,6, Männer 55,6%), wobei die Inhaftierung zwischen wenigen Tagen als kürzestem und 20 Jahren als längstem Zeitraum variierte (Stöver 2012). Die Hafterfahrungen variieren jedoch nicht nur alters- und geschlechtsspezifisch, sondern auch zwischen Stadt und Land, Ost und West.

Foto: Heino Stöver
Foto: Heino Stöver

Im Gefängnis sind etwa ein Drittel der männlichen Inhaftierten und mindestens die Hälfte der weiblichen Inhaftierten Drogengebraucher/innen. Dass diese Schätzungen eher konservativ sind, zeigen in einzelnen Bundesländern durchgeführte Untersuchungen, nach denen etwa jeder zweite Gefangene als „drogengefährdet“, jeder Dritte als „therapiebedürftig“ angesehen werden muss. Auch andere substanzbezogene Störungen sind in Haft stark überrepräsentiert (z.B. Alkohol und Tabak).

In der Behandlung der Drogenabhängigkeit hat die Suchtmedizin in den letzten 30 Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Heute stehen Substitution, psycho-soziale Interventionen und „Harm Reduction“ im Vordergrund. Im Strafvollzug setzt man dagegen immer noch vorwiegend auf die zentrale Strategie der Abstinenz. Dies geht einher mit der Vorstellung, der Vollzug wäre ein geeigneter Ort, um die Drogenabhängigkeit erfolgreich zu überwinden. Der Gesellschaft wird suggeriert, Gefängnisse seien drogenfrei und der Sicherheitsauftrag werde erfolgreich erfüllt – eine Politik, die intra- und extramural eine große sozialpsychologische und politische Bedeutung erhält. Drogenkonsum im Gefängnis mit all seinen Risiken kann in einer solchen Ausblendung von Ambivalenzen und Komplexitätsreduktion erfolgreich negiert werden.

Falsches Konzept

Zugrunde liegt dieser Politik ein fehlendes oder falsches Verständnis von Abhängigkeit. Opioidabhängigkeit ist als eine schwere, chronisch rezidivierende Erkrankung zu verstehen. Rückfall (oder Beikonsum) sind zu erwarten und müssen in das Behandlungskonzept integriert werden. Auch wenn der Konsum psychotroper Substanzen während der Haftzeit reduziert oder sogar eingestellt wird, sind Rückfälle unmittelbar nach der Haftentlassung die Regel (Kompensationskonsum für die Zwangsabstinenz) und zudem mit einem erhöhtem Mortalitätsrisiko verbunden.

Substitutionsbehandlung

Evidenz-basierte Kernstrategien zur Behandlung der Opioidabhängigkeit, z.B. die Substitutionsbehandlung – wurden in vielen Haftanstalten entweder erst mit einem Zeitverzug von vielen Jahren eingeführt, sind nicht flächendeckend und  in manchen Bundesländern gar nicht existent. Dies führt zu Behandlungsdiskontinuitäten bei Eintritt in und bei Austritt aus der Haft  mit z.T. erheblichen Auswirkungen auf den gesundheitlichen Status in und nach der Haft.

Es gibt keine genauen Behandlungszahlen aus dem Justizvollzug. Auch die Bundesopiumstelle erfasst den Ort „Justizvollzug“ nicht gesondert, so dass hier nur Schätzungen vorliegen. In Nordrhein-Westfalen und Berlin wurde die Substitution in den letzten Jahren ausgebaut, insbesondere in NRW ist die Zahl der SubstitutionspatientInnen stark angestiegen von 139 Substitutionen im Jahr 2008 auf rund 1.500 im Jahr 2013. Bundesweit werden vermutlich nur 2.500 Gefangene substituiert, d.h. nur jeder siebte Drogengebraucher in Gefangenschaft erhält  dieses Angebot.

Keine Bewegung in Bayern

In manchen Bundesländern ist es so gut wie unmöglich substituiert zu werden. 2012 hatten zwei Gefangene der bayerischen JVA Kaisheim vergeblich auf Substitution geklagt. Eine dieser Klagen wird nun beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. Einer der beiden Kläger ist HIV positiv und war einer der ersten Substitutionspatienten in Deutschland. Die gerichtliche Entscheidung wurde ohne direkte Anhörung getroffen, als Gutachter wurde der behandelnde Anstaltsarzt gehört.

Ein Sprecher des bayrischen Justizministeriums erklärte: „unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung“ halte man am „Ziel einer Betäubungsmittelfreiheit“ fest (Frank 2011). Dies bedeutet für die ca. 3.000 drogenabhängigen Gefangenen in bayrischen JVA praktisch den Ausschluss von einer state-of-the-art-Behandlung, denn die Substitutionsbehandlung ist laut Bundesärztekammer-Richtlinien das Mittel der Wahl bei der Behandlung von Opioidabhängigkeit. Dies drückt politische Grenzziehungen und Macht aus, sich über den Stand medizinischer Wissenschaften (ausgedrückt in den Bundesärztekammer-Richtlinien, 19.2. 2010) hinweg setzen zu können.

Gefahr bei Entlassung

Zu den bekannten Risiken für die Drogenmortalität gehören Szenarien des Wiedereinstiegs in den Konsum nach Abstinenzperioden bzw. Perioden unregelmäßigen Konsums. Ein typischer Risikozeitraum für Konsumenten von Opioiden ist die Phase nach Entlassung aus einem Haftaufenthalt. Speziell die ersten 14 Tage nach Entlassung unterliegen nach internationaler Literatur einer besonderen Erhöhung des relativen Risikos, an einer Drogenintoxikation zu versterben. Dies gilt zunächst für die Todesfallraten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, die, je nach Studie, zwischen 30 und 120fach erhöht sind. Es gilt weiter für die Erhöhung des Risikos speziell in der ersten und zweiten Woche nach Haftentlassung gegenüber späteren Zeiträumen (das relative Risiko in den ersten 2 Wochen wird zumeist etwa 4-7fach erhöht beschrieben. In Deutschland fehlen dazu Daten aus den letzten Jahren. Das bayerische Landeskriminalamt ermittelte, dass 33 der 246 im Jahre 2008 registrierten Drogentodesfälle in den 2 Monaten vor Tod aus der Haft entlassen worden waren (entsprechend 13%). In diesem Zusammenhang ist einerseits die Behandlungskontinuität mit einer Substitutionsbehandlung oder die Eindosierung etwa 6 Monate vor Haftentlassung für eine Mortalitäts-/Morbiditätsprophylaxe für die besonders vulnerable Phase nach Haftentlassung von besonderer Wichtigkeit. Andererseits ergeben sich mit einer Naloxon-Mitgabe und einem vorangegangenem Training neue Möglichkeiten einer wirksamen Mortalitätsprophylaxe.

Infektionsrisiken in Haft

Die in 2007/2008 vom RKI und WIAD durchgeführte Studie „Infektionskrankheiten unter Gefangenen in Deutschland“ wies auf folgende Probleme hin:

  • 21% der Drogengebraucher/innen in Haft benutzen gemeinsam Spritzen (16,3% manchmal, 4,6% immer)

  • 30% aller Gefangenen lassen sich in Haft tätowieren

  • 4,7% der Männer und 13,9% der Frauen lassen sich in Haft piercen

  • 4,7% der Männer und 15,4% der Frauen teilen sich Rasierklingen

Infektionsrisiken

In Gefängnissen ist der Anteil von HIV und Hepatitis-infizierten Menschen erheblich höher als außerhalb. Dafür gibt es eine Vielzahl von Ursachen, z.B. weil hier überwiegend gesundheitlich stark belastete Problemgruppen einsitzen (z.B. Drogenabhängige), die zudem nicht über die Möglichkeiten verfügen, sich vor einer HIV/HCV-Infektion zu schützen. Im Gefängnis gibt es keinen Spritzentausch. Gewalt, Stress und schlechtes Gefängnismanagement können sogar zu einer Verschärfung der HIV- und Hepatitis-Probleme hinter Gittern führen. Gefängnis-Insassen haben keine eigene Lobby, die schlechtere Bedingungen der gesundheitlichen Versorgung (d.h. Prävention, Unterstützung und Behandlung) in Haft einfordern könnten.

Therapie-Angebot

2011 fand eine Befragung der Bundesländer zur Versorgung Gefangener mit antiretroviraler und antiviraler Behandlung statt. Alle Bundesländer gaben an, eine antiretrovirale und (bis auf Sachsen) auch eine antivirale Behandlung anzubieten, jedoch konnte kein Bundesland über den Umfang der durchgeführten Therapien Auskunft geben (DBDD 2012).

HIV/Aids

Die Situation kann als „ist bemüht“ beschrieben werden. HIV-Spezialisten sind aufgrund der geringen Fallzahl nicht im Justizvollzug tätig. Dies ist auch nicht notwendig, wenn eine Zusammenarbeit mit einem niedergelassenen Spezialisten erfolgt. Dieses Modell wird in einigen wenigen JVA umgesetzt, in der Regel wird die Behandlung aber vom Anstaltsarzt durchgeführt. Selten wird die HIV-Behandlung gänzlich verweigert. In 2012 schaltete ein Gefangener das hessische Justizministerium ein, da er in der JVA Hünfeld lange Zeit vergeblich um eine HIV-Behandlung gebeten hatte. Das Ministerium antwortete, dass die Behandlung nach den mitteleuropäischen Standards erfolgte und nicht zu beanstanden gewesen sei. Mit 215 Helferzellen wären diese zu hoch für den Beginn einer Therapie gewesen, man hätte einen Abfall auf unter 200 Helferzellen abgewartet. Der Gefangene wurde verlegt und mit 129 Helferzellen dann auch die Behandlung aufgenommen.

Manche Gefangene geben ihre HIV-Infektion beim Medizinischen Dienst nicht an und verzichten damit auf eine HIV-Behandlung, da sie mit der Offenlegung Repressalien und Ausgrenzung während ihrer Haftstrafe befürchten (Verlust des Arbeitsplatzes, Offenlegung der HIV-Infektion gegenüber Mitgefangenen und Bediensteten, Ausschluss aus dem Freizeitbereich etc.).

Ärztliche Schweigepflicht und HIV

Die Diagnose HIV-Infektion unterliegt ebenso wie andere Feststellungen über den Gesundheitszustand von Gefangenen der in § 203 StGB normierten ärztlichen Schweigepflicht. Diese Schweigepflicht besteht auch gegenüber der Anstaltsleitung und dem informationellen Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Gefangenen. Eine Weitergabe der Information ist nur zulässig, wie dies aufgrund eines konkreten Verdachts, dass der infizierte Gefangene verantwortungslos handeln werde, zum Schutz der gesunden Gefangenen, Bediensteten und Dritter unerlässlich ist. Eine Kennzeichnung von Personalakten sowie Transport- und Begleitpapieren über den positiven Befund ist grundsätzlich nicht zulässig. Gehen von dem Gefangenen keine konkreten Gefahren aus etwa in Form von Gewalttätigkeiten, darf der Befund nur in den Krankenakten vermerkt werden.

Verwaltungsvorschriften im Zusammenhang mit HIV/AIDS, die lediglich auf eine abstrakte Gefährdungssituation abstellen und eine nicht strikt zweckgebundene Verwendung der geschützten Daten zulassen, sind rechtswidrig. Da die Vollzugsbehörden gegenüber der Allgemeinheit eine kriminalpolitische und keine gesundheitspolitische Aufgabe haben, bestehen gegenüber Außenstehenden auch keine gesundheitlichen Schutz- oder gar Fürsorgepflichten. Deshalb besteht grundsätzlich auch keinerlei Notwendigkeit, Arbeitgeber, Intimpartner, Angehörige oder andere Verwaltungsstellen von der Infektion zu unterrichten  bzw. die „freiwillige“ Information durch die Gefangenen zur Voraussetzung für die Gewährung von Lockerungen zu machen. Abgesehen von den sehr seltenen Einzelfällen, in denen von dem betroffenen Gefangenen eine konkrete Gefährdung ausgeht, dürfen notwendige Wiedereingliederungsmaßnahmen nicht wegen einer vermeintlichen HIV-Bekämpfungspflicht der Vollzugsbehörden versagt werden. Dies muss auch deshalb gelten, weil nicht einzusehen ist, warum grundsätzlich andere und stärkere Anforderungen an Gefangene als an Bürger in Freiheit gestellt werden sollen.

Hepatitis C

Mit der Fokussierung der gesamten Aufmerksamkeit auf HIV ist das Infektionsrisiko Hepatitis in den letzten Jahren massiv unterschätzt worden. Gerade im Vollzug bestehen erhebliche Risiken einer schon als „gefängnistypisch“ zu bezeichnenden Verbreitung von Hepatitiden vor allem bei i.v.-DrogenkonsumentInnen. Insbesondere bei chronischer Hepatitis B und C besteht das Risiko von Komplikationen. Koinfektionen mit HIV und HCV bzw. HBV, die vor allem bei Drogenabhängigen zu finden sind, führen zu einer schnelleren Entwicklung zur Zirrhose.

Zwangsouting im Knast?  

Trotz der „Normalisierung“ von HIV/Aids sind Infektionskrankheiten immer noch Grund für einen Bruch der ärztlichen Schweigepflicht. In Nordrhein-Westfalen wird der § 203 StGB Abs. 1 („ärztliche Schweigepflicht“) so ausgelegt, dass die in einer Justizvollzugseinrichtung tätige anstaltsärztliche Kraft verpflichtet ist, die Anstaltsleitung über Infektionskrankheiten bei Inhaftierten unverzüglich zu unterrichten. Diese entscheidet dann, ob und welche weiteren Bediensteten und Dritte vom Infektionsstatus eines Gefangenen informiert werden – ohne dessen Einwilligung über seine HIV- und/oder Hepatitis-C-Infektion einzuholen (vgl. NRW, JM 2011). Die Deutsche AIDS-Hilfe (DAH) hatte bereits Anfang 2011 auf den unsäglichen Zustand hingewiesen, dass bezüglich von HIV-Infizierten auf den PC-Bildschirmen von Justizangestellten ‚Blutkontakt vermeiden!‘ erscheine, was ‚HIV-Positiv‘ heiße (Quelle: http://www.neues-deutschland.de/artikel/190322.zwangsouting-in-der-kritik.html). Diese Vorgehensweise ist ethisch und datenschutzrechtlich stark als diskriminierend und Verstoß gegen das Recht auf Selbstbestimmung in die Kritik geraten (vgl. Ärzte-Zeitung 18.4.2011, und führte zu einem Sachverständigengespräch zum Thema „Zwangsouting im Knast“ (22. Juni 2011 Düsseldorf, Rechtsausschuss des Landtag NRW). In 2011 schaltete die Deutsche AIDS-Hilfe die Datenschutzbeauftragten der Länder ein und bat um Auskunft, ob im Falle einer HIV-Infektion eines Gefangenen die Datenweitergabe vom Arzt an den Justizvollzug erfolgt. In Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen erfolgt die Datenweitergabe, in Hamburg und Saarland in Ausnahmefällen. In Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen wurde diese Praxis aufgrund des Einschaltens der Landesdatenschutzbeauftragten eingestellt. In NRW werden die Daten immer noch an den Vollzug weitergegeben, aber die Mitgefangenen werden wie noch bis ins Jahr 2011 nicht mehr informiert.

Sexualität

Eine grundsätzliche Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit männlicher und weiblicher Gefangener betrifft Grundbedürfnisse wie den Verlust sozialer Sexualität mit den Folgen der Reduzierung auf Selbstbefriedigung, Objektivierung des anderen Geschlechts und Stimulation gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte. Durch eine Verobjektivierung des weiblichen, z. T. auch des männlichen Körpers in Form von Postern an den Zellenwänden und einer starken Präsenz sexualitätsbezogener Gesprächsinhalte drückt sich der entfremdete Umgang mit den eigenen sexuellen Bedürfnissen aus. Der Objektstatus des sexualisierten Körpers reduziert wiederum die eigene Empfindungsspanne und verleugnet die mit partnerInbezogener Sexualität assoziierten Bedürfnisse nach Nähe, Gemeinsamkeit, Entspannung, Befriedigung. Das Dilemma besteht in der Allgegenwärtigkeit von Sexualität im Alltag und der stark eingeschränkten Befriedigung und letztlich erzwungenen Milieuanpassung sexueller Bedürfnisse.  Daraus erwachsen Spannungen, Frustrationen, Aggressionen, sexualisierte Gewaltphantasien. Vorhandene Probleme mit diesem Dilemma können nicht besprochen werden, weil weder informelle noch offizielle Foren im Vollzug zur Verfügung stehen. Zwar existieren Modelle in Strafanstalten, die im Rahmen von Langzeitbesuchen auf eine Ermöglichung auch sexueller Kontakte unter (Ehe-)PartnerInnen zielen (z.B. JVA Werl, JVA für Frauen Vechta) und lockerungsberechtigte Häftlinge können im Urlaub sexuelle Kontakte haben. Doch dies sind vereinzelte und isolierte Möglichkeiten, partnerInnenorientierte Sexualität zu leben. Neben der bedürfnisorientierten Sicht von Sexualität in Haft stellt sich auch die Frage nach dem Recht auf Erfüllung eines Kinderwunsches für Inhaftierte und deshalb die Unterstützung sexueller Kontakte zu ihren Partnern.

Sexueller Notstand

In Haft ist Sexualität ein Tabu: Symbolisierungen sind allgegenwärtig: „Unterschwellig scheint das ‚Verbot‘ der Ausübung von Sexualität nach wie vor als Teil der Strafe angesehen zu werden“. Weil Sexualität individuell abgespalten werden muss und die Thematik Sexualität im Vollzug offiziell ausgeblendet wird, finden alle Formen gelebter sozialer Sexualität verdeckt statt. Es gibt eine Realität von gleichgeschlechtlicher Sexualität, die in einem homophobischen Kontext kaum thematisierbar ist. Der Geheimhaltungsdruck verstärkt sich vor allem dann, wenn die in Haft gelebten homosexuellen Kontakte nicht dem eigenen sexuellen Selbstverständnis „heterosexuell“ entsprechen, was bei vielen Inhaftierten der Fall sein wird, die in der Inhaftierungszeit in Ermangelung heterosexueller Möglichkeiten homosexuelle Kontakte als „Notlösung“ praktizieren. Soziokulturelle Barrieren einer Zwangshetero-sexualität als gesellschaftliche Normalität und Homophobie wirken in dieser doppelten Realität der sexuellen Identität, die sich in der praktizierten Sexualität im Vollzug nicht wiederfindet. Wenn diese „Notlösungen“ über lange Zeit zur Gewohnheit sexueller Aktivität werden, repräsentieren sie Normalität unter den Inhaftierten, ohne offizielle Anerkennung und Verantwortungsübernahme. So entwickelt sich Homosexualität als Dunkelfeld, wo Prostitution z.B. zur Drogenbeschaffung oder Vergewaltigungen stattfinden ohne offen als Realität anerkannt zu werden.

Gerade unter dem Aspekt „Infektionsschutz“ erhält die verdeckte gleichgeschlechtliche Sexualität Relevanz. Während weibliche Homosexualität als wenig infektionsrisikobehaftet gilt, ist männliche Homosexualität aufgrund hochriskanter Sexualpraktiken aus infektionsprophylaktischer Sicht als möglicher Transmissionsweg zu bewerten. Möglicherweise ist das Risiko einer HIV-Transmission im Strafvollzug sogar höher, da  keine Identifikation mit den „schwulen Risiken“ der HIV-Infektion stattfindet. Das konkrete HIV-Risiko wird oft unterschätzt oder negiert. Bei Jugendlichen spielen zudem die Lust am Abenteuer und Unverletzlichkeitsphantasien eine Rolle. Zum defizitären Selbstbewusstsein kommen Selbstablehnung, Selbsthass, starke Scham- und Schuldgefühle hinzu, was dann die entscheidende Ursache für mangelnde Kommunikations- und Aushandlungsfähigkeit bezüglich Sexualität insgesamt und „Safer Sex“ im Besonderen sein kann. Dies führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zur verstärkten Anpassung an Initiativen und Wünsche der Sexualpartner, z.B. nach dem „Unsafen Sex“.

Hürdenlauf zu Kondomen

Forderungen für bessere Gesundheit in Haft

  • Aufnahme der Gefangenen in die Gesetzliche Krankenversicherung und Rentenversicherung
  • HIV- und HCV-Behandlung entsprechend der Standards außerhalb des Vollzugs
  • Substitution entsprechend BTMVV und der Richtlinien der Bundesärztekammer
  • HIV- und HCV-Testung mit Beratungsangebot
  • Einhaltung der ärztlichen Schweigepflicht
  • Hepatitis A-/B-Impfung entsprechend der STIKO-Empfehlungen
  • Spritzentauschprojekte für Gefangene in allen Justizvollzugsanstalten
  • Bereitstellung von Akupunkturnadeln und Desinfektionsmittel fürs Tätowieren
  • Anonymer Zugang zu Kondomen und Gleitmitteln
  • Training und Mitgabe von Naloxon nach Haftentlassung

Kondome und wasserlösliche Gleitmittel sind prinzipiell in der Anstalt erhältlich, allerdings ist der Zugang nicht durchwegs selbstverständlich, kostenlos oder zumindest kostengünstig, niedrigschwellig, vertraulich und anonym. Angesichts der abgespaltenen und häufig verleugneten Realität von gelebter Sexualität von den einzelnen Inhaftierten ist ein formulierter Bedarf an Kondomen nicht zu erwarten. Allein ein niedrigschwelliger und anonymisierter Zugang zu Kondomen könnte den individuellen Konflikt mildern und die Bereitschaft zum Infektionsschutz steigern. Dieser Zugang ist jedoch in den meisten Anstalten nicht umgesetzt. Kondome sind  vorwiegend beim Drogenberater, Seelsorger, Sozialarbeiter, Sanitäter oder Kaufmann erhältlich (in der Regel alle zwei Wochen) oder sie sind beim Arzt verfügbar (setzt Arzttermin voraus). Vereinzelt werden Kondome auch beim Sozialdienst ausgelegt. Auch wenn das OLG Koblenz in NStZ 1997, 360 festgestellt hat, dass die Anstalten nicht zur kostenlosen Abgabe von Kondomen verpflichtet sind, sollten Kondome zur Vermeidung der Übertragung von Infektions- und Geschlechtskrankheiten (wie in mehreren Anstalten praktiziert) anonym, kostenlos und vor allem leicht zugänglich abgegeben werden (zust. Beschluss des 12. Strafverteidigertages StV 1988, 275). Zumindest sollte den Gefangenen aber die Möglichkeit eingeräumt werden, Kondome unbeobachtet und preiswert zu erstehen.

Prof. Dr. Heino Stöver
Fachhochschule Frankfurt am Main
Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit
Nibelungenplatz 1
· 60318 Frankfurt 


E-Mail: hstoever@fb4.fh-frankfurt.de

Literatur beim Verfasser




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