„Schweinsteiger schwärmt von PEP“i
Es gibt viele Fallstricke bei der Beratung zur HIV-Postexpositionsprophylaxe (PEP): Daran wird sich auch nach der Verabschiedung der aktualisierten Deutsch-Österreichischen Leitlinien auf dem DÖAK 2013 in Innsbruck wohl nichts ändern: PEP ist Off-Label Use. Der Einsatz erfolgt nicht zur Behandlung einer bestehenden Erkrankung sondern er dient der Vorbeugung. Anders als bei Sekundärpräventionen, die sich an objektivierbaren Parametern ausrichten, erfolgt die PEP nach Expositionsereignissen, die nur anamnestisch zu eruieren sind. Zudem beziehen sich die meisten Anfragen zur PEP auf konkrete Situationen, die so in den Leitlinien nicht explizit beschrieben sind.
Gelegenheit macht Liebe
Da das Ergebnis einer PEP-Beratung letztlich immer nur ein „ja“ oder ein „nein“ sein kann, sind Kontroversen nicht verwunderlich, wie das erste Beispiel belegt: Ein junger Mann verpasste beim Umsteigen den letzten Anschlusszug. Die ungeplante etwa achtstündige Wartezeit gab ihm Gelegenheit zum Besuch des Bahnhofviertels. Dort nahm er die Dienste einer Prostituierten in Anspruch, die ihn – unter Verzicht auf ein Kondom – oral befriedigte. In Stundenfrist wuchs bei ihm die Sorge, sich dabei mit HIV infiziert haben zu können. So begab er sich in die Notaufnahme des fußläufig erreichbaren Universitätskrankenhauses, wo er – seinen Ausführungen nach – erst eine Beratung und dann eine PEP erhielt. Wieder zu Hause ließ er sich tags darauf (an der dortigen Uniklinik) erneut beraten und war erstaunt, dass man ihm dort nicht zur Fortführung riet, da das Ereignis (Fellatio) für ihn kein signifikantes Übertragungsrisiko darstellen würde und zudem ohnehin kein Hinweis auf ein Vorliegen einer HIV-Infektion bei der (anonym gebliebenen) Prostituierten vorgelegen hatte. Nachfragen nach anderweitigem ungeschützten Kontakt wurde verneint. Eine Kontaktaufnahme zur erstberatenden Klinik führte ebenfalls nicht weiter. In den folgenden Tagen suchte der recht verständig wirkende junge Mann noch zwei weitere ausführliche Beratungsgespräche. Fazit: Der Beratungsaufwand einer PEP verhält sich umgekehrt proportional zur Zufriedenheit von Beratern und Klienten.
Arbeit ist Risiko
Selbst eine klar indizierte PEP kann auf der Ziellinie noch zum Fiasko werden, wenn Experten Maßnahmen ergreifen, die über den Standard der Evidenzbasierten Medizin hinausgehen, wie das zweite Beispiel zeigt: Ein Arzt an einem kleinen Krankenhaus erlitt bei der nächtlichen Notfallversorgung eines unbehandelten AIDS-Patienten eine tiefe Stichverletzung. Da er von seinen Vorgesetzten – als einziger Diensthabender in der Nacht und unersetzbar – daran gehindert wurde, die Versorgung seiner Verletzung während seines Diensts in die Wege zu leiten, erfolgten Beratung und Einleitung der PEP erst nach fast 24 Stunden. Entsprechend hoch waren die Sorgen und Emotionen. Auf Wunsch des Exponierten erfolgte nach 30 Tagen nicht nur ein HIV-Antikörpertest (negativ) sondern auch eine HIV-PCR (negativ). Dieses Anforderungsprofil nahm der Laborarzt zum Anlass, neben dem HIV-ELISA parallel auch einen Western-Blot (fraglich positiv) durchzuführen. Um es vorweg zu nehmen: Es erfolgte im Verlauf keine HIV-Serokonversion. Ohne den nicht indizierten und nicht angeforderten Blot wären allerdings folgende Konsequenzen unterblieben: Zahllose weitere Serokontrollen, teilweise parallel in verschiedenen Labors, insgesamt vier Wochen Arbeitsunfähigkeit und eine psychologische Unterstützung des exponierten Kollegen bei der Verarbeitung seines Psychotraumas einer vermeintlichen HIV Serokonversion. Fazit: Ein steigender diagnostischer Aufwand im Zusammenhang mit einer PEP bringt potenziell eher Verwirrung als Erkenntnis.
Angst macht krank
Bleibt noch der Aspekt der manchmal skurrilen Begründungen für eine PEP-Nachfrage. Diese sind zugleich wichtige Zeugnisse über bestehende Leistungserwartungen an unser solidarisch finanziertes Gesundheitssystem. Nicht nur deshalb sollte ein PEP-Fallregister solche individuellen Fälle sammeln. Hier als Anregung schon eine Hitliste beeindruckender Fälle aus der eigenen Beratungspraxis:
Platz 3: Ein Mann verlangt nach einer PEP, weil er im Stadtpark mit dem Fahrrad dicht an einem „verschwitzten Jogger mit langen Haaren“ vorbeifuhr und dabei kleine Schweißtropfen auf seinen unbedeckten Unterarm und ins Gesicht gekommen seien.
Platz 2: Ein Apotheker aus ländlicher Region fragt nach einer PEP, weil er das direkt vom Patienten an ihn übergebene Rezept über eine antiretrovirale Therapie – ohne Handschuhe (!) – entgegen genommen hatte.
Platz 1: Eine Ehefrau kommt in Begleitung ihres Ehemanns in die Notfallaufnahme und verlangt für diesen in resoluter Weise eine PEP, weil er mit dem Au-pair-Mädchen der Familie nach Abschluss des einjährigen Aufenthalts und direkt vor deren Rückflug ins Heimatland intim geworden war. Der HIV-Serostatus von Ehemann, Au-Pair und Ehefrau war unbekannt. Der Ehemann selbst blieb einsilbig und mochte sich auch nicht dazu äußern, ob er für sich selbst denn auch eine PEP wünschte.
Es muss – auch im Zusammenhang mit der in der Süddeutscheni zitierten Schwärmerei unter Männern – abgewartet werden, ob und falls ja aus welchen Motiven, Eltern künftig ihren Kindern häufiger den Namen PEP geben werden.
I http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1484149 (zugegriffen am 26.8.2013)
Vitekta®1 als SST2-Konzept: Divide et cura bene!3
1993:
In meinem innovativen PKW war der Regler der Lichtmaschine defekt. Die vermeintliche Bagatellreparatur wurde mehr als 10-fach teurer als gedacht: Ausgetauscht werden mussten nämlich Regler und Lichtmaschine, die vom forschenden Automotive-Unternehmen erstmals zu einem untrennbaren Monoprodukt kombiniert worden waren.
2003:
Nevirapin, Lamivudin und Stavudin wurden als Triomune® zur ersten Komplettkombinationspille in der antiretroviralen Behandlung. Das Konzept eines Generikaherstellers sollte in der kommenden Dekade von der forschenden Arzneimittelindustrie noch weiter verfeinert werden.
2013:
Stribild® kommt („Tröröö, … Sensation!“) als erstes Vierfach-Fixkombinations-Single-Tablet-Regime auf den deutschen Markt und buhlt – mit nachhaltigen ´Informations`-Kampagnen – um HIV-positive Patienten mit „besser als normaler“ Nierenfunktion. Im Falle einer Unverträglichkeit gegen einen der vier Inhaltsstoffe muss jedoch leider auch gleich das gesamte Regime ausgetauscht werden. Zwei der vier darin enthaltenen Substanzen – Elvitegravir und Cobicistat – gibt es nur im neuen Vierfachverbund-Fixprodukt. Der wünschenswerte Einsatz von Elvitegravir als Einzelsubstanz – beispielsweise in fortgeschrittenen Therapielinien mit geboosterten PI/r – blieb hingegen ein unerfüllter Wunsch. Man müsse da wohl eher auf Dolutegravir warten, heißt es, den nächsten Mitbewerber in der Klasse der Integrasehemmer.
Doch stets findet Überraschung da statt, wo man‘s nicht erwartet hat: Die EMA lässt Elvitegravir als Monosubstanz-Tablette im November 2013 zu – nachdem in den USA die FDA deren Zulassung im April 2013 zunächst zurückgewiesen hatte. Vitekta®: der künftige Handelsname der Elvitegravir-Monosubstanz kommt ebenso überraschend wie wohltuenderweise bisher vollständig werbefrei daher. Falls die Markteinführung nicht noch am mangelnden Willen scheitern sollte, wird es gleich zwei Dosierungen geben: 85 mg für die Kombination mit geboostertem Atazanavir oder Lopinavir und 150 mg für die Kombination mit geboostertem Darunavir oder Fosamprenavir.
Dies ist eine gute Nachricht für Patienten und deren Ärzte: Zurück zu den Wurzeln! Es darf wieder individualisiert behandelt und kombiniert werden! Gleichsam allen Modediktaten der trendsetzenden Designerstudios zum Trotz: Wem die „One fits all“ Anzugskombination mit eingenähter Unterwäsche von KiK-Chic nicht zusagt oder passt, der darf künftig auch Sakko, Hose, Hemd und Socken von Hilfiger, C&A, YSL und Boss frei zusammen stellen.
Vive l`Europe libre! – Merci, EMA!
1 Vitekta®: Tabletten mit 85mg oder 150mg Elvitegravir
2 SST: Single-Substance-Tablet;
3 lateinisch sinngemäß: Teile und Heile!