Christian Hoffmann, Hamburg
HIV 2035 – eine Zeitreise

Alle reden vom demographischen Wandel. Dem SPIEGEL schwant schon jetzt: bereits in 15-20 Jahren wird alles ganz anders sein, vor allem natürlich: viel, viel schlimmer. Gletscher schmelzen, Landschaften verblühen. Fachkräftemangel, Ärztemangel. Wir Deutschen vergreisen, verblöden. Die Einwanderer reißen es auch nicht raus, wohin man schaut: demente Rentner. Aber was bedeutet dies alles für HIV-Patienten und ihre Behandler, wie wird die HIV-Landschaft in 20 Jahren wohl aussehen? Wagen auch wir einmal eine realistische Prognose!

…und tauchen wir ein, ins Jahr 2035: In München tagt seit Jahresbeginn „HIV100plus“, ein Senioren-Stammtisch der über 100jährigen Menschen die mit HIV leben. Das Durchschnittsalter der 102.000 HIV-Patienten in Deutschland liegt bei 66 Jahren. Obwohl die Lebenserwartung die der Allgemeinbevölkerung mittlerweile deutlich übersteigt, wird von einer absichtlichen Infektion mit HIV weiterhin eher abgeraten. Englbert Zankl von Projekt Information steht, wenngleich etwas runder geworden, noch immer für alle Fragen rund um HIV rund um die Uhr zur Verfügung. Dieter Hallervorden, der im September seinen 100. Geburtstag feiern wird, landet einen Coup an den Kinokassen: „Kristall-Honig im Kopf“ widmet sich den von der Altersdroge Crystal Meth ausgehenden Gefahren.

Wählen nur bis 80!

Selbst in der DAIGIDA, einem vor einigen Jahren erfolgten Zusammenschluss aus DAIG, DGI und DAGNAE, wird der demographische Wandel spürbar. Zur Erleichterung aller erklärt sich Präsident Professor Georg Behrens im Februar – nach kurzer Bedenkzeit – bereit, für eine 11. Amtszeit zu kandidieren. Gleichzeitig wird den zunehmenden kognitiven Defiziten älterer DAIGIDA-Mitglieder Rechnung getragen und das aktive Stimmrecht auf die Vollendung des 80. Lebensjahres beschränkt. Auch ‚HIV and More‘ erkennt die Zeichen der Zeit, die Umbenennung in ‚More and More Alzheimer‘ ist die notwendige Konsequenz.

MAST umbenannt

Impressionen von den letzten 30. Münchner AIDS- und Schanker-Tagen. Die Referenten im  Gespräch. Die Bänke werden 2035 allerdings entsprechend der neuen Gesetzgebung aufgrund des Freizeitcharakters nicht mehr zur Verfügung stehen. ©bilderbox
Impressionen von den letzten 30. Münchner AIDS- und Schanker-Tagen. Die Referenten im Gespräch. Die Bänke werden 2035 allerdings entsprechend der neuen Gesetzgebung aufgrund des Freizeitcharakters nicht mehr zur Verfügung stehen. ©bilderbox

Derweil haben es die Macher der „31. Münchner AIDS- und Schanker-Tage“ im März 2035 nicht leicht – aktuelle Entwicklungen (s.u.) erforderten hier ebenfalls eine Namensänderung. Workshops zu Nipah- und Hendraviren sind zu besetzen, nachdem erste autochthone Fälle in Deutschland bekannt wurden. Allerdings gelingt es kaum noch, fähige Referenten für medizinische Vorträge zu gewinnen – vor allem seit die Transparenz-Richtlinien im letzten Jahr noch einmal drastisch verschärft wurden.

Gesetze verschärft

Die „3. Lauterbachschen Gesetze“ der Rot-Rot-Blau-Grünen Regierung (Dezember 2033 bis Januar 2034) haben es in sich. Referenten stehen nun unter strengster Beobachtung. Sie müssen von Krankenkassen-Mitarbeitern an jedem Ort der Welt rund um die Uhr angetroffen werden können. Die Veröffentlichung sämtlicher Kontakte jedweder Art mit Mitarbeitern der Pharmazeutischen Industrie ist eine Selbstverständlichkeit. Private Interessenskonflikte inklusive
sexueller Beziehungen oder sexueller Handlungen jedweder Art sind von den Referenten innerhalb von 24 Stunden offen zu legen. Vergehen gegen die Lauterbachschen Gesetze werden konsequent bestraft. Nachsalzen in der Öffentlichkeit gilt als Ordnungswidrigkeit, ebenso Grillen ohne Alufolie. Vortragshonorare erfüllen den Tatbestand der Bestechung, auf die Annahme von Kugelschreibern steht Gefängnis.

Rockstroh im Visier

DAIGIDA-Alterspräsident Professor i.R. Jürgen Rockstroh entgeht im April nach einem vom ehemaligen Dienstherren nicht genehmigten Verzehr eines Mettbrötchens nur knapp einer Anklage. Auf Antrag der Organisation MEZIS, die den „Skandal“ (Krautreporter.de) während eines Industrie-Symposiums filmte, muss er allerdings sein im November 2034
verliehenes Bundesverdienstkreuz zurückgeben.

Generika Firstline

Die antiretrovirale Therapie hat sich stark verändert. TAF, der letzte NRTI, wurde in 2028 vom Markt genommen, als NNRTIs bzw. PIs stehen nur noch einige Generika von Doravirin und Darunavir/c zur Verfügung. Bundesweit gibt es mittlerweile 14 HIV-Dialyse-Zentren, die sich auf kumulative Tenofovir-Nierenschäden spezialisiert haben; die Zahl dialysepflichtiger HIV-Patienten liegt bei 930.

Ohne QM droht Regress

Seit 2030 ist eine primäre INI-Monotherapie mit einem der zahllosen Cabotegravir-Generika EOD („Every Other Day“) obligat. Viertgenerations-INIs, aber auch MATIs und ATTIs (Maturations- und Attachment-Inhibitoren)
werden nur bei Versagen sequentiell verwendet, andernfalls drohen Regresse. Aufgrund der enormen Risiken weigern sich Regressversicherungen seit Jahren, HIV-Behandler zu versichern.

Nur noch 11 von der DAIGIDA zertifizierte QM-Exzellenz-Zentren (DAIGIDAZQMEZ) dürfen überhaupt antiretrovirale Therapien verordnen, dabei ist das Drittmeinungsverfahren uner-lässlich. Auf Intervention der neuen
Gesundheitsjustiz-Ministerin Marina Weisband (Piraten 2.0) werden DAIGIDAZQMEZ-Ärzte, sofern sie die Teilnahme an mindestens 10 QM-Stunden pro Woche nicht unterschreiten, ab Mai 2035 von Regressforderungen ausgenommen.

Geld zurück bei SVR20

Harald R. aus Berlin hat es trotz 60 Jahre HIV mit Unterstützung der AbbVie-Aktion „Alte gegen Stigma“ auf das aktuelle Titelbild von „Gay Senior“ geschafft.  ©bilderbox
Harald R. aus Berlin hat es trotz 60 Jahre HIV mit Unterstützung der AbbVie-Aktion „Alte gegen Stigma“ auf das aktuelle Titelbild von „Gay Senior“ geschafft. ©bilderbox

Als Therapieindikation gilt nun nach der weltweiten SALAT-Studie eine Viruslast über 1 Kopie/ml, unabhängig von der CD4-Zellzahl. Folgemessungen von quantitativer HIV-RNA und CD4-Zellen sind keine Kassenleistungen mehr. Die Viruslast wird zuhause mittels semiquantitativer Heimtests von den Patienten selber kontrolliert, es genügt ein Tropfen Speichel, das Ergebnis wird über eine App an das zuständige HIV-Zentrum übermittelt. Ärzte greifen nur bei positivem Test ein, den Rest erledigt geschultes HIV-Personal. Patienten mit SVR10 (= 10 Jahre Virussuppression ohne Blip) werden von der Zuzahlungspflicht befreit, bei SVR20 werden einige, bei SVR50 sogar sämtliche Kassenbeiträge erstattet.

Neu: HIV-Greis.de

Neue Resistenzen kommen angesichts der hohen Resistenzbarriere aller verfügbaren Präparate nicht mehr vor. Das
Projekt „HIV-Grade“ wurde bereits 2029 mangels Nachfrage aufgelöst. Einige emeritierte Experten um Rolf Kaiser und Eva Wolf können im Juli 2035 gewonnen werden, ehrenamtlich jungen Kollegen bei der Interpretation alter Resistenztests zur Seite zu stehen; die Service-Seite www.HIV-Greis.de geht online.

Long Acting-Präparate (LAP) haben die Tabletten-ART weitgehend abgelöst. Sie werden inzwischen von gut zwei Dritteln der Patienten bevorzugt. „Stabilovir“, das Cabotegravir-LAP von HEXAL, gibt es als Dreimonatsspritze in drei gewichts-adaptierten Dosen. Es wird in häuslicher Umgebung von geschulten LAP-Assistenten verabreicht, die sich auf tiefe intramuskuläre Injektionen spezialisiert haben. Für noch sexuell aktive HIV-Patienten ist eine LAP-Koformulierung aus Cabotegravir und Doxycyclin verfügbar, der Schutz vor Lues und LGV liegt bei 96%. Den Doxycyclin-PrEP-Anteil müssen Patienten trotz aller Proteste selber zahlen.

DAAH protestiert

Auch die von der „Deutschen AIDS- und Altenhilfe“ (Umbenennung in 2032) eingeforderte HIV-PrEP mit „Attavir“, dem neuen ATTI von MSD, wird von der Vereinten Einheitskasse (VEK) nicht übernommen – obwohl die dreifachblind randomisierte Supergay-Studie aus Frankreich im August einen 103%igen Schutz gezeigt hat.

Transient Cure möglich

Bei der Heilung hat es zweifellos große Fortschritte gegeben. HLA*B35/07 positive Patienten (Prävalenz 0,02%) können mittels einer Kombination aus CMV-Vektor-basierten Vakzinen und neutralisierenden Antikörpern jetzt für mindestens 12 Monate geheilt werden („transient cure“). Als prädiktiv gelten die frühe ART (innerhalb der ersten 7 Tage), eine wenigstens 30jährige Virussuppression und der fehlende Gebrauch von Tenofovir. Auch für alle anderen Patienten steht die „Heilungsforschung“ aktuellen Berichten zufolge unmittelbar vor dem Durchbruch: In Frankreich ergibt eine multizentrische Telefonumfrage (VISCONTI-VIII), dass es schon wieder zu mehreren Heilungserscheinungen gekommen ist (ca. 4%).

Spülmittel heilt!

Dem Heinrich-Pette-Institut in Hamburg gelingt es erneut, Viren aus Zellen herauszuschneiden. Eine über Nacht
heruntergefallene Petrischale ist von einer Reinigungskraft irrtümlicherweise mit Spülmittel behandelt worden. Durch die nichtionischen Tenside werden sämtliche Viren herausgeschnitten, gleichzeitig pluripotente NK-Zellen aktiviert. Professor Marcus Altfeld wird für diese Beobachtung im Dezember 2035 den Nobelpreis erhalten, die ersten pan-antiviralen Tenside stehen kurz vor der Marktreife.

Carini rehabilitiert

AIDS ist in diesem Jahr 2035 eine Rarität, mit einer Ausnahme: der Tuberkulose. Seit dem 2. Krimkrieg (2027-2029) hat sich die Zahl der ukrainischen Flüchtlinge mit TB verzehnfacht. Erste Fälle von XL-XDR-TB, besonders aggressiven Erregern mit Resistenzen auch gegen Bedaquiline und Moxifloxazin, bereiten der WHO Sorge. Die letzte Pneumocystis-carinii-Pneumonie wurde in Deutschland dagegen 2031 beobachtet. Ein Jahr zuvor war Antonio Carini posthum rehabilitiert worden: Seine Ratten, mit denen der Italiener 1910 experimentiert hatte, waren nach neuen DNA-Analysen nun doch mit humanen Pneumocysten infiziert.

Die Rückbenennung in PCP bleibt allerdings vorläufig, eine Klage der Nachkommen Otto Jirovecs ist anhängig. Unter der Schirmherrschaft von Professor Johannes Bogner hat sich in München ein Arbeitskreis zur Aufarbeitung der AIDS-Geschichte während der Kohl-Merkel-Zeit gegründet.

RKI warnt: STD im Altenheim

Was ist mit den STDs? Der breite Einsatz von Doxycyclin hat Lues und Gonorrhoe zurückgedrängt. Stattdessen greift eine neue Epidemie unter MSM in den Großstädten um sich: Der Weiche Schanker. Cefixim/Telavancin-resistente Stämme von Haemophilus ducreyi nehmen laut RKI dramatisch zu, vor allem seit dem Frexit 2025, dem EU-Ausstieg Frankreichs, der eine enorme Einwanderung afrikanischer Migranten aus den ehemaligen französischen Kolonien nach sich zog. Laut DÖSTIG-Präsident Professor Norbert Brockmeyer, seit 25 Jahren im Amt und soeben vorab für weitere 25 Jahre bestätigt, besteht Anlass zur Sorge. Der aktuelle Titel von ‚More and More Alzheimer‘ spricht Bände: „STDs in Pflegeheimen – hohe Dunkelziffer?“.

HCV ausgerottet

Die Hepatitis C ist dagegen gottlob kein Thema mehr! Auch der 2. Krimkrieg mit 240.000 Flüchtlingen aus Osteuropa hat daran nichts geändert. Flächendeckendes GPT-Screening in den Auffanglagern und der empirische Einsatz eines pangenotypisch hochwirksamen NS5ABC-Hemmers (Herstellungskosten 83 Cent, bei Patienten ohne Zirrhose reicht die Einmalgabe) haben dafür gesorgt, dass Deutschland im Jahr 2031 als letztes (inzwischen allerdings auch einziges) EU-Land von der WHO für HCV-frei erklärt wurde. Die deutsche Leberstiftung hat sich aufgelöst. Professor Heiner Wedemeyer betreibt mit einigen habilitierten „Ehemaligen“ aus der Hep-C-Szene eine florierende Hausarztpraxis mit geriatrischem Schwerpunkt in Wolfsburg-Detmerode.

PD Dr. Christian Hoffmann

PD Dr.
Christian
Hoffmann
Rosa Herbst
eV
· App 4/13
Seeblick 256
20465 Hamburg

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