Dr. Thomas Sternfeld, Landshut
Infektionserkrankungen bei Flüchtlingen
Abb. 1 Zusammensetzung der Erstantragsteller in Baden Württemberg im 4. Quartal 2015 nach Alter und Geschlecht
Quelle: Ministerium für Integration Baden Württemberg 2016
Die medizinische Behandlung und Betreuung von Flüchtlingen und Asylbewerbern gehört inzwischen zu unserem Alltag. Zu Beginn der aktuellen Flüchtlingsbewegung wurde das Auftreten von Infektionskrankheiten bzw. Epidemien importierter Infektionserreger befürchtet. Das Spektrum von Infektionen, mit dem der einzelne Arzt/die einzelne Ärztin derzeit tatsächlich konfrontiert wird, hängt in erster Linie vom Ort der Tätigkeit bzw. der Institution (z.B. Erstaufnahmeeinrichtung, Gesundheitsamt, spezialisierte Infektionsabteilung, hausärztliche Praxis, HIV-Schwerpunktpraxis) ab. Im Folgenden wird nicht streng nach Definition zwischen Asylsuchenden, Flüchtlingen, Migranten oder ähnlichen Kategorien unterschieden, da dies infektiologisch keine Relevanz besitzt.
Epidemiologie
Bisher stellen die Flüchtlinge eine Auswahl von überwiegend jungen und gesunden Menschen dar. Die jungen Männer sind hierbei deutlich in der Mehrheit (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - BAMF).
Prävalenzen in den Herkunftsländer
Die wichtigsten Herkunftsländer waren im Jahr 2015 Syrien, Albanien, Kosovo, Afghanistan, Irak, Serbien, Eritrea, Mazedonien, Pakistan (BAMF). Die Subsahara-Staaten, die nicht unter den zehn häufigsten Ländern aufgeführt sind, behalten aber ihre Bedeutung bei der Frage nach importierten Infektionskrankheiten (z.B. HIV; HBV, Malaria, TBC). Eine relative Häufung von komplizierten Infektionserkrankungen wurde 2015 bei Flüchtlingen vom „Horn von Afrika“ (Eritrea, Somalia, Äthiopien) beobachtet.
Abb. 2 Burden of Disease in Disability-adjusted life years (DALYs) Syrien (oben) / Eritrea (unten)
Die Herkunftsländer unterscheiden sich zum Teil erheblich in der Häufigkeit relevanter Infektionserkrankungen. Damit variiert auch die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung beim einzelnen Flüchtling bzw. der weiteren Verbreitung der Infektion auf dem Fluchtweg.
Hohe Inzidenzen für die Tuberkulose sind beispielsweise in Afghanistan (189/100.000), Eritrea (40-499/100.000) und Somalia (285/100.000) bekannt, relativ niedrig sind diese in Syrien (17/100.000) und dem Irak (25/100.000). Im Vergleich hierzu wird in Deutschland die Inzidenz mit 6.2/100.000 angegeben (WHO, ECDC 2015).
Während
Syrien und der Irak Malaria-frei
sind, zählen Afghanistan (P. vivax > P. falciparum), Eritrea (P.
falciparum > P. vivax) und Somalia (P. falciparum) zu den
potentiellen Malarialänder (WHO, ECDC 2015).
Das Läuserückfallfieber, eine sehr seltene Erkrankung mit hoher Mortalität unter den Flüchtlingen, ist endemisch in Ostafrika, und tatsächlich betrafen die bisher registrierten Fälle in Deutschland Flüchtlinge vom Horn von Afrika.
Eine Masernepidemie in Berlin ging 2015 von Asylbewerbern aus Bosnien und Serbien aus. In Bosnien war zu diesem Zeitpunkt bereits eine Masernepidemie bekannt, verursacht durch unzureichende Immunität infolge fehlender Impfungen während der Jugoslawienkriege.
Die Mehrheit der Flüchtlinge stammt aus Regionen (inklusive der Balkanstaaten) mit mittlerer bis hohen Hepatitis B-Prävalenz. Das Screening der Flüchtlinge zum Ausschluss einer chronischen HBV-Infektion bzw. deren Behandlung gehört derzeit zu den Routineaufgaben in der Praxis.
Die derzeitigen Herkunftsländer zählen überwiegend zu den Regionen mit niedriger HIV-Prävalenz; HIV spielt daher quantitativ keine relevante Rolle. Zwischen 2013 und 2015 waren nur 0,75-1% der Asylbewerber in Bayern HIV positiv getestet worden (Bayerisches Ärzteblatt 9/2015). Es ist anzunehmen, dass dieser Anteil bei der aktuellen Herkunftsstatistik noch geringer ist. Das selektionierte Flüchtlingskollektiv einer HIV-Schwerpunktpraxis in Deutschland ist daher nicht repräsentativ für die Gesamtheit der Flüchtlinge.
Die Häufigkeitsangaben stammen aus WHO-Veröffentlichungen, die einige Jahre zurückliegen. Aufgrund z.B. der kriegerischen Konflikte und dem Gesundheitszustand der Bevölkerung können diese möglicherweise von der aktuellen Situation abweichen.
Infektion auf der Flucht
Abb. 3 Hauptfluchtrouten
Quelle: www.tagesschau.de
Neben dem Herkunftsland sind die Stationen auf dem Fluchtweg von großer Bedeutung: eine Vielzahl der Infektionskrankheiten wird erst auf dem Fluchtweg oder am Zielort, begünstigt durch den Kontakt der großen Zahl von Flüchtlingen untereinander bei räumlicher Enge, schlechten hygienischen Verhältnissen sowie körperlicher und psychischer Erschöpfung, erworben. Armut, fehlende Bildung, fehlende Informationen und Präventionsarbeit sowie ein unzureichender bzw. restriktiver Zugang zum Gesundheitssystem sind weitere Faktoren, die Flüchtlinge besonders vulnerabel z.B. für sexuell übertragbare Erkrankungen machen.
Bei den derzeitigen Screening-Untersuchungen oder Impfempfehlungen werden die unterschiedlichen Prävalenzen der Herkunftsstaaten nicht berücksichtigt. Der praktisch tätige Arzt sollte dieses Wissen aber für seine differentialdiagnostischen Überlegungen und das geplante Vorgehen nutzen. Liegen keine dokumentierten Untersuchungsergebnisse vor, kann in der aktuellen Situation nicht davon ausgegangen werden, dass entsprechende Infektionen zuvor durch andere Institutionen ausgeschlossen wurden. Eine routinemäßige HIV-Testung erfolgt z.B. nur noch in Bayern. Latente Infektionen zum Zeitpunkt der Ankunft können sich erst später manifestieren. Als Beispiel sei hier die Reaktivierung von Tuberkuloseinfektionen im Verlauf bei Flüchtlingen mit negativen TBC-Aufnahmescreening erwähnt.
Beobachtete Erkrankungen
Die bisherigen Daten bzw. Veröffentlichungen über das Auftreten von Infektionserkrankung bei den Flüchtlingen in Deutschland sind noch begrenzt. Neben den Meldedaten des Robert Koch-Instituts (RKI) für Deutschland stehen die Veröffentlichungen des European Centre of Disease Prevention and Control (ECDC) auf europäischer Ebene zur Verfügung. Beide Institutionen aktualisieren ihre Veröffentlichungen laufend und sind frei zugänglich. Hier können Übersichten zu den Infektionsspektren der Herkunftsländer und Symptom-Differentialdiagnosen-Tabellen eingesehen werden. Erste retrospektive Analysen klinischer Einrichtungen in Deutschland sind Anfang 2016 veröffentlicht worden.
Die gemeldeten Daten ermöglichen einen Überblick über bisher in Deutschland bzw. Europa aufgetretene Infektionserkrankungen. Die angegebenen absoluten Zahlen sind mit Vorsicht zu interpretieren, da Erkrankungsfälle in der klinischen Realität möglicherweise als solche überhaupt nicht erkannt werden. Bei einer raschen dezentralen Verteilung der Flüchtlinge liegt bei Auftreten von Infektionssymptomen die Aufgabe der Diagnostik bei den Einrichtungen vor Ort. Hierbei handelt es sich in erster Linie um Hausärzte und kleinere regionale Kliniken, die keine speziellen Erfahrungen im Umgang mit importierten oder chronischen Infektionserkrankungen haben. Als seit langem bekanntes Beispiel sei das Thema HIV/AIDS erwähnt. Hierzu werden keine regelmäßigen Fortbildungen für kleinere Kliniken und deren Weiterbildungsassistenten abseits der großstädtischen Zentren durchgeführt. In der HIV-Schwerpunktpraxis wird man gelegentlich mit den unzureichenden Kenntnissen selbst über die Möglichkeiten der beruflichen Postexpositionsprophylaxe konfrontiert.
An der Spitze der meldepflichtigen Infektionen bei Flüchtlingen standen laut RKI in Deutschland Windpocken, Tuberkulose, Hepatitis B, Rota- und Norovirus-Gastroenteritiden, Influenza, Hepatitis A, Hepatitis C, Giardiasis, Shigellose, Campylobacter-Enteritis. Die am häufigsten gemeldete Altersgruppe war hierbei mit großen Abstand die der 0-4 jährigen Kinder (RKI, Stand: 17. Februar 2016). Das ECDC meldete bei Flüchtlingen Fälle von akuten respiratorischen Infektionen, Läuserückfallfieber, kutaner Diphterie, Skabies, Masern, Meningokokkenmeningitis, Shigellose, Typhus, Hepatitis A, TBC und Malaria (ECDC Communicable disease threats report, 21-27 February 2016, week 8). Aufgrund der großen Zahl von Flüchtlingen ist anzunehmen, dass die deutschen RKI-Zahlen repräsentativ für die gesamte europäische Flüchtlingsbewegung sind.
In einer retrospektiven Analyse der Infektiologie des Klinikums Schwabing München für den Zeitraum Juni 2014 bis Februar 2015 waren die häufigsten Diagnosen bei einem Aufenthalt auf der Infektionsstation die pulmonale und extrapulmonale TBC, die Malaria tertiana und tropica, die impetiginisierte Skabies, die Schistosomiasis, Pneumonien und febrile Virusinfektionen. Die häufigsten Herkunftsländer waren für die Tuberkulose Eritrea, Somalia und Syrien, für die Malaria tertiana Eritrea und Somalia und für die Malaria tropica Eritrea, Mali und Niger. Bei Flüchtlingen, die ambulant behandelt wurden, dominierten die typischen Beschwerdebilder wie man sie aus der hausärztlichen Praxis kennt (Dtsch med Wochenschr 2016; 141(1): e8-e15).
Tuberkulose
Die TBC steht an der Spitze der meldepflichtigen Infektionskrankheiten bei Flüchtlingen. Bereits seit 2014 wurde erstmalig wieder ein Anstieg der TBC-Zahlen in Deutschland registriert (Epidemiologisches Bulletin Nr. 43, RKI). Tatsächlich sind die wenigen spezialisierten Stationen vor allem in Süddeutschland derzeit massiv mit der Behandlung von TBC-Fällen beschäftigt. Es ist also anzunehmen, dass der Trend der steigenden Zahlen auch 2015/2016 anhalten wird. Neben den pulmonalen traten auch extrapulmonale Fälle, inklusive hierzulande bisher seltener abdomineller Manifestationen, auf. Multiresistente TBC-Fälle scheinen bisher noch keine relevante Rolle zu spielen. Das TBC-Screening erfolgt insgesamt relativ zuverlässig. In den nächsten Jahren ist an die Möglichkeit einer Reaktivierung einer zum Zeitpunkt des Screenings latenten Infektion zu denken.
Läuserückfallfieber
Das Läuserückfallfieber war bisher in Deutschland den meisten Internisten und Hausärzten nicht geläufig. Es handelt sich um eine durch Borrelia recurrentis verursachte bakterielle Erkrankung, die unbehandelt eine sehr hohe Letalität (20-40%) aufweist. Nach einer Inkubationszeit von 2-15 Tagen treten hohes Fieber, Husten, Exantheme und Hämorrhagien auf. Komplikationen können Myokarditis, Milzruptur und Multiorganversagen sein. Die Borrelien werden durch die Kleiderlaus übertragen, die zum Zeitpunkt der Erkrankung nicht mehr nachweisbar sein muss und nicht mit der Kopf- und der Filzlaus verwechselt werden darf. Die Diagnose wird mittels Blutausstrich, Dickem Tropfen und PCR gestellt. Die Therapie mit Tetrazyklinen, Penicillinen oder Makroliden muss aufgrund einer charakteristischen und sehr häufigen Herxheimerreaktion mit einer Letalität von 5% immer unter stationären Überwachungsbedingungen erfolgen. Die Infektion ist endemisch in Ostafrika. Bisher wurden in Deutschland 38 Fälle gemeldet. 15 Fälle in Bayern zwischen Juli und Oktober 2015 wurden detailliert untersucht und veröffentlicht (Euro Surveill. 2015 Oct 22;20(42).doi:10.2807/1560-7917.ES.2015.20.42.30046). Von den 15 jungen Männern, die alle aus Ostafrika stammten und stationär behandelt wurden, verstarb ein Patient trotz der eingeleiteten Therapie. Die Hauptfluchtrouten der Männer umfassten Stationen im Sudan, Libyen und Italien. Aufgrund der Inkubationszeit und der Anamnesen nimmt man an, dass die Infektionen erst während der Flucht in Libyen oder Italien erworben wurden. Hinweise auf eine Übertragung in Deutschland ergaben sich nicht.
Malaria
Nach den RKI Zahlen stieg die Zahl der gemeldeten Malaria-Fälle 2014 signifikant an (RKI, Statistisches Jahrbuch 2014). Die häufigsten gemeldeten Infektionsländer waren Eritrea, Nigeria, Ghana, Kamerun, Togo und Kenia. Auffällig hierbei war insbesondere ein Anstieg der Infektionen mit Plasmodium vivax (Malaria tertiana) von 7% (2013) auf 30% (2014), was auf die Bedeutung der aktuellen Flüchtlingsströme hinweist. Autochthone Infektionen durch lokal vorhandene Überträgermoskitos wurden aus Griechenland 2009-2013 und 2015 berichtet, spielen aber bisher bei den diagnostizierten Malariafällen bei Flüchtlingen noch keine Rolle (ECDC, Rapid Risk Assessment, 21.October 2015).
HIV
Obwohl HIV zahlenmäßig für die Gesamtheit der Flüchtlinge keine relevante Rolle spielt, stellen HIV-infizierte Migranten für den HIV-Schwerpunktmediziner eine besondere Herausforderung dar. Die RKI-Zahlen zeigen seit 2013 einen deutlichen Anstieg des Anteils der HIV-infizierten Patienten aus Subsahara-Staaten (RKI, Epidemiologisches Bulletin 27/2015) bei einem aber bekanntermaßen nicht wesentlichen Anstieg der Gesamtzahl der Neudiagnosen in Deutschland. Die HIV-Schwerpunktmediziner sind hierauf gut vorbereitet, da die Behandlung von Migranten aus afrikanischen Staaten schon immer zu ihren Aufgaben gehörten. Zu den Besonderheiten gehört der im Vergleich zu Deutschland hohe Anteil von Frauen und heterosexuellen Personen sowie häufige Schwangerschaften bzw. Kinderwunsch schon in relativ jungem Alter. Die Angst vor einer Entdeckung des positiven Status, inbesondere innerhalb der Herkunftsgruppe, ist bekannt.
Zu den neueren Entwicklungen zählt die zunehmende antiretrovirale Erstbehandlung bereits in den Herkunftsländern oder bei längeren Aufenthalten an anderen Stationen der Flucht. Die WHO gibt hier z.B. Behandlungsraten von 20-50% der HIV-Infizierten für west- und zentralafrikanische Staaten an. Häufig wird eine Vorbehandlung aus unterschiedlichen Gründen zu Beginn der Behandlung vom Patienten nicht ohne Nachfrage angegeben. Sie sollte auf Grund der möglichen Konsequenzen für die weitere Therapie und die Einschätzung des aktuell erhobenen Immunstatus explizit erfragt werden. Welche Bedeutung die in den Herkunftsländern evtl. zur Verfügung stehende Therapie für das Asylverfahren in Zukunft haben werden, ist bisher unklar. Nicht selten stellt sich anamnestisch und durch die vorliegenden Laborergebnisse heraus, dass bei Flüchtlingen aus Hochprävalenzgebieten die Infektion erst in Deutschland oder auf der Flucht erworben wurde. So weisen z.B. die WHO (WHO & ECDC 26.11.2015) und der National AIDS Trust (April 2008) darauf hin, dass Flüchtlinge aufgrund des sozioökonomischen Status, der Bildung und des restriktiven Zugangs zum Gesundheitssystem eine besonders vulnerable Gruppe für den Erwerb sexuell übertragbarer Erkrankungen in Europa sind. 29% der neu mit HIV diagnostizierten Personen nicht-deutscher Herkunft haben sich in Deutschland infiziert (RKI 2014). Ein weiteres Indiz für das Risikoverhalten sind die Schwangerschaften vor Einleitung einer ART bei Paaren mit bekannt diskordantem HIV-Status.
Abb. 4 HIV-Neudiagnosen 2001-2014: Angaben zur Herkunftsregion (n=9.640)
Quelle: RKI
Prävention
Die bisherige Präventionsarbeit im Bereich der Flüchtlinge ist unzureichend. Daher sollten diese Themen in der Praxis frühzeitig angesprochen werden und Berücksichtigung bei der Indikationsstellung und Auswahl einer HIV-Therapie finden. Nur in Bayern werden Asylbewerber noch routinemäßig beim Aufnahmescreening auf HIV untersucht. Aber auch in Bayern wurde aus unterschiedlichen Gründen bei einzelnen Personen der HIV-Test nicht durchgeführt und die Diagnose erst auf Umwegen bei symptomatischer Erkrankung gestellt. Bei Angst vor Stigmatisierung und Abschiebung, fehlender Beratung, Aufklärung und Präventionsarbeit veranlassen Flüchtlinge aus Hochprävalenzgebieten eher selten von sich aus einen HIV-Test.
Viele HIV-positive Flüchtlinge weisen zum Zeitpunkt der Erstdiagnose bereits einen fortgeschrittenen Immundefekt auf. Die Frage, auf welchem Weg diese Menschen unter den aktuellen Bedingungen bei Ablehnung einer Zwangstestung frühzeitig diagnostiziert werden können, wurde bisher in Deutschland nicht beantwortet.
Screening
Das primäre Aufnahmescreening der Flüchtlinge umfasst eine körperliche Untersuchung zum allgemeinen Gesundheitszustand und auf Anzeichen einer übertragbaren Krankheit, eine Untersuchung zum Ausschluss einer Tuberkulose der Atmungsorgane (Röntgenbild oder gegebenenfalls Interferon-gamma release assay – IGRA), Stuhluntersuchungen auf Bakterien der TPER-Gruppe (bakterielle Typhus-, Paratyphus-, Enteritis- und Ruhrerreger) sowie risikobasiert nach Herkunftsregion auf Darmparasiten und nur in Bayern eine serologische Untersuchung auf das Vorliegen einer HIV- oder Hepatitis-B-Infektion.
Diese Untersuchungen sollen innerhalb von drei Tagen nach Registrierung in einer Erstaufnahmeeinrichtung erfolgen. Es ist möglich, dass Flüchtlinge aus organisatorischen Gründen nicht komplett in oben genannter Weise untersucht werden. Ergebnisse dieser Untersuchungen liegen dem weiterbehandelnden Arzt, wenn überhaupt, meist nur im pathologischen Fall vor. Mitgeführte Dokumente über bereits erfolgte Impfungen sind bisher noch eine Ausnahme. Im Zweifel hat der weiterbehandelnde Arzt die entsprechenden Untersuchungen zu wiederholen bzw. zu komplettieren. Gleiches gilt auch für nicht dokumentierte, aber nach STIKO indizierte Impfungen. Da die gesunde Mehrheit der Flüchtlinge in der Regel keinen Arzt aufsucht, wird die Aufgabe der Überprüfung des Impfstatus auch längerfristig bestehen bleiben.
Management in der Praxis
Die Herausforderungen bei der Behandlung von Flüchtlingen mit Infektionskrankheiten liegen derzeit weniger in der medizinischen Differentialdiagnostik als im Management der Therapie unter für den Arzt und den Patienten ungewohnten Bedingungen. Hierzu zählen die Sprache und Kommunikation, die Unterbringung und ungeplante Verlegung, der soziökonomische und Bildungsstatus, das Asylverfahren, der Zugang zum Gesundheitswesen, der unzureichende Befundaustausch zwischen den Institutionen und die notwendige Kooperation des Arztes mit für ihn ungewohnten Einrichtungen und Personen. Im Einzelfall können diese Faktoren den Erfolg der Behandlung entscheidend beeinflussen.
Sprache
Die erste Hürde bei der Behandlung stellt die Sprache dar. Eine Kommunikation in Deutsch, Englisch oder Französisch ist bei Flüchtlingen aus dem Nahen Osten oder aus Nord-Ost-Afrika häufig nicht möglich. Nicht selten ist auch ein Arabisch sprechender Dolmetscher nicht ausreichend. Neben der gesprochenen Sprache sind der Analphabetismus und eine fehlende Vorstellung von medizinischen Sachverhalten („Blutwerte“), die wir bei der uns gewohnten Kommunikation voraussetzen, weitere Hindernisse.
Häufig organisieren die Flüchtlinge selbst einen Übersetzer aus der Flüchtlingsunterkunft, der Familie oder im Freundes- und Bekanntenkreis. Diese begleiten den Patienten, was gelegentlich zu einem Platzproblem im Wartezimmer führt, oder stehen am Telefon während des Praxisbesuches zur Verfügung. Aufgrund der Ausnahmesituation ist es in der Regel nicht möglich, eine formale schriftliche und übersetzte Einverständniserklärung zur Entbindung von der Schweigepflicht zu erhalten. Eine entsprechende mündliche Einwilligung sollte aber zumindest explizit erfragt werden. Der zeitliche Mehraufwand in der Praxis ist gerade am Anfang des Behandlungsverlaufes erheblich. Für Erkrankungen, bei denen die Schweigepflicht für den Patienten eine besondere Bedeutung hat, z.B. HIV, sind die Übersetzer aus der Umgebung des Flüchtlings in der Regel nicht geeignet. Der Arzt hat hier eine Reihe von Möglichkeiten, einen Dolmetscher zu organisieren. Da es hier regionale Unterschiede gibt, muss die Praxis selbst Informationen zu den lokalen Angeboten einholen.
Im Internet steht Ärzten für die Behandlung von Flüchtlingen ein kostenloser Online- und Telefondolmetscherdienst zur Verfügung (https://arztkonsultation.de/fluechtlinge-verstehen). Nach Registrierung des Arztes mittel Approbationsurkunde kann dieser Dienst in der Praxis genutzt werden.
Eine weitere Möglichkeit sind beeidigte Dolmetscher. Auf diese greifen Einrichtungen wie Polizei und Gerichte zurück (http://www.justiz-dolmetscher.de). Diese Angebote sind kostenpflichtig; eine Übernahme der Kosten kann im Einzelfall evtl. beim Gesundheitsamt oder der AIDS-Beratungsstelle beantragt werden.
Gesundheitsmittler
Im ehrenamtlichen Bereich haben sich „Migranten für Migranten Projekte“ etabliert. Personen mit Sprachkenntnissen, in der Regel aufgrund eines eigenen Migrationshintergrundes, stellen sich für Dolmetscherdienste zur Verfügung. Inzwischen existieren spezielle Schulungsprogramme für diese Personengruppe zur Qualifizierung als sogenannte „Gesundheitsmittler“. Gesundheitsmittler helfen dem Migranten, sich im Gesundheitssystem zu orientieren. Die Angebote sind in der Regel kostenfrei. Da es sich um ehrenamtliche Kräfte handelt, müssen evtl. Termine außerhalb der Arbeitszeiten des Ehrenamtlers gefunden werden. Obwohl diese Personen der Schweigepflicht unterliegen, sollte man bei HIV-infizierten Patienten den Einsatz gut abwägen.
Es existieren eine Vielzahl von Verständigungshilfen in verschiedenen Sprachen, die kostenfrei ausgedruckt werden können. Zweisprachige (Deutsch und jeweilige Fremdsprache) Anamnese- und Erläuterungsbögen helfen mit Wörtern und Bildern bei der Verständigung zwischen Arzt und Patient (z.B. http://www.setzer-verlag.com/, http://www.zanzu.de). Informationsmaterialen zu verschiedenen Infektionskrankheiten sind jederzeit online verfügbar (z.B. http://www.aidsmap.com/translations, https://www.sante-sexuelle.ch/shop/de/hiv--sti). Hier besteht für die Praxis die Schwierigkeit, aus der Vielzahl die geeigneten auszuwählen. Es empfiehlt sich, eine kleine Auswahl jederzeit auf dem PC zum Ausdruck zur Verfügung zu haben. Einschränkungen der Verwendung bestehen bei Analphabetismus oder bei Angst vor Identifikation durch die Informationsmaterialien in der Gemeinschaftsunterkunft.
Unterkunft
Abb. 5 Unterbringung ©Bayerisches Ärzteblatt
Die Unterbringung in der Gemeinschaftsunterkunft ist für Patienten mit Infektionskrankheiten problematisch. Das Risiko für den Erwerb anderer Infektionen im Heim, insbesondere bei immunsupprimierten Patienten, ist erhöht. Patienten mit reduziertem Allgemein- oder Ernährungszustand finden in Mehrbettzimmern keine ausreichenden Ruhemöglichkeiten. Die hygienischen Bedingungen z.B. bei der Benutzung von Gemeinschaftstoiletten können unzureichend sein. Häufig besteht keine ausreichende Möglichkeit, unbeobachtet Medikamente einzunehmen oder diese aufzubewahren. Eine Entfernung der Etiketten bzw. neutrale Behältnisse für Medikamente sollten mit dem Patienten besprochen werden. Die Privatsphäre im Heim ist nicht ausreichend, um ungestört Telefonate zu führen. Häufig wünschen die Patienten keine medizinischen Unterlagen auf dem Postweg zu bekommen, da sie befürchten, dass Briefe von anderen Personen geöffnet werden. Die Hauptsorge der HIV-Infizierten ist die Entdeckung der Infektion durch andere Bewohner, z.B. über die Medikamente oder häufige Arzt- oder Apothekenbesuche. Heimleiter haben z.T. Informationen über den Krankheitszustand des Patienten, eine Verletzung der Schweigepflicht ist über diesen Weg nicht sicher auszuschließen. Die Beobachtung durch Mitbewohner und Erwartungen z.B. an das Sozialleben in der Einrichtung (Gruppenzwang) wird gelegentlich von den Patienten beklagt. Die Art der Unterbringung (Einzelzimmer, Toilettenbenutzung, Medikamenteneinnahme) sollte erfragt werden. Bei Vorliegen einer medizinischen Indikation hat der Arzt eine Vielzahl von Möglichkeiten, auf die Art der Unterbringung mit entsprechenden Anfragen bzw. Attesten Einfluss zunehmen.
Problem: Verlegung
Abb. 6 Versorgung im ländlichen Raum Quelle: Sternfeld
Flüchtlinge werden insbesondere zu Beginn des Aufenthaltes häufig relativ spontan verlegt. Auf eine plötzliche Unterbrechung der Therapie sollte man vorbereitet sein. Hierzu zählt u.a. den Patienten stets kurzfristig über Untersuchungsergebnisse zu unterrichten, entsprechende schriftliche Unterlagen inkl. Impfpässe dem Patienten so früh wie möglich auszuhändigen und mit den eigenen Kontaktdaten zu ergänzen. Kurze handschriftliche Empfehlungen zur Therapie oder zur nächsten empfohlenen Kontrolluntersuchung reichen zunächst aus, damit der Patient an einem anderen Ort mit Hilfe eines dort ansässigen Kollegen die Behandlung meist unproblematisch fortführen kann. Dieser kann sich für Rückfragen dann an den erstbehandelnden Kollegen wenden. Bei Indikation zur medikamentösen Therapie ist auf die Verschreibung einer ausreichenden Medikamentenreserve für die Zeit der Verlegung zu achten. Eine mögliche Verlegung sollte aber kein Grund sein, die notwendigen Untersuchungen oder den Beginn einer Behandlung zu verzögern, wenn der Patient die Möglichkeit hat, sich im Zeitraum der Verlegung zumindest telefonisch an den Behandler zu wenden. Der erstbehandelnde Arzt sollte bei der Suche nach einem Spezialisten am neuen Unterbringungsort behilflich sein.
Dezentrale Unterbringung
Folge der Konzentration von spezialisierten Kliniken und Schwerpunktpraxen in den Großstädten und der dezentralen Unterbringung der Flüchtlinge können relativ weite Anfahrtswege sein. Bei akuten Krankheitszuständen kann dann aus zeitlichen und finanziellen (Fahrtkosten) Gründen nicht spontan die spezialisierte Klinik oder Praxis aufgesucht werden. Muss zuvor der Umweg über das Landrats- oder Sozialamt genommen werden, um einen „Behandlungsschein“ zu beantragen, verzögert sich die Anreise zusätzlich. Umgekehrt ist der Aufwand, den Patienten zu besuchen (z.B. ärztlicher Hausbesuch oder Besuch durch eine spezialisierte Beratungsstelle) relativ hoch. Die Kommunikation mit dem Patienten in der Entfernung wird erschwert durch Sprachbarrieren, wechselnde Telefonnummern und einen unzureichenden Internetzugang der Flüchtlinge. Häufig spielt der Ort der Unterkunft für den Arzt keine relevante Rolle, bis der Patient nicht zum Termin erscheint oder „unvorhergesehen“ dringend erreicht werden muss. Nicht selten werden aus Gründen der erschwerten Kommunikation Termine nicht eingehalten oder der Patient erscheint unangemeldet, was wiederum zu Mißstimmungen in der Praxis führen kann.
Der Patient sollte explizit bei jedem Besuch nach der Aktualität der Kontaktdaten gefragt werden. Patienten mit ernsthaften Erkrankungen, die weit von spezialisierten Einrichtungen untergebracht sind, sollten die Möglichkeit haben, auch außerhalb der Praxissprechstunden ihren Arzt zu erreichen (Notfallhandy). Fahrtkostenunterstützung erhalten Patienten ggf. von den zuständigen Ämtern oder karitativen Organisationen und Beratungsstellen. Frühzeitig sollte der Arzt Kontakt zu den Einrichtungen am Wohnort (Hausarzt, Hilfsorganisation, Gesundheitsamt) suchen. Hierdurch lässt sich die Zahl der Besuche mit langem Anfahrtsweg vermeiden, psychosoziale Hilfe organisieren und letztlich die Aufgaben auf mehreren Personen verteilen. Der Patient muss selbstverständlich mit diesem Vorgehen einverstanden sein. Eine häufig praktizierte Kommunikation von Arzt zu Arzt „über den Patienten hinweg“ ohne dessen Einverständnis ist auch bei Flüchtlingen nicht akzeptabel.
Asylverfahren
Das „schwebende Asylverfahren“ hat für den Patienten mit einer chronischen Infektionskrankheit negative Auswirkungen, die die Therapie und das Wohl des Patienten beeinflussen können. Neben den praktischen Folgen wie die Unterbringung in der Gemeinschaftsunterkunft, die Arbeitserlaubnis, der Versicherungsstatus und der Gefahr einer Unterbrechung der Diagnostik und Therapie durch eine Abschiebung oder Verlegung, können die psychischen Folgen der Ungewissheit Einfluss auf die Behandlung nehmen. Der Arzt sollte diese Problematik ernst nehmen und ansprechen. Zu seinen Aufgaben kann hierbei das Verfassen von Attesten für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder die zuständigen lokalen Behörden, etwa zur Reisefähigkeit, für die Überlassung eines Einzelzimmers, für eine Verlegung in die Nähe der infektionsmedizinischen Einrichtung oder dem Auszug aus dem Asylbewerberheim gehören. Es ist von Nutzen, eine auf im Asylrecht spezialisierte Rechtsanwaltkanzlei in der Region zu kennen und ggf. den Flüchtling darauf hinzuweisen. Die Kosten für den Patienten liegen in der Regel zunächst bei ca. 150-600 €; in der Regel wird eine Ratenzahlung von z.B. 50 €/Monat vereinbart. Für HIV-infizierte Patienten können finanzielle Unterstützungen in relevanter Höhe bei der Deutschen AIDS-Stiftung beantragt werden.
Zusammenfassung
Angesichts der Gesamtzahl der Flüchtlingen ist die Zahl schwerer Infektionserkrankungen bisher überschaubar, auch wenn die wenigen stationären Einrichtungen mit einer infektiologischen Abteilung zum Teil sehr in Anspruch genommen wurden und werden. Infektionsepidemien oder eine relevante Ausbreitung von Infektionen außerhalb der Gruppe der Flüchtlinge wurde in Europa bisher nicht beobachtet. Auch weiterhin ist eine erhöhte Wachsamkeit bzgl. Infektionserkrankungen notwendig. Die tatsächlichen medizinischen Herausforderungen sind insgesamt bis jetzt geringer als befürchtet. Psychische Probleme, z.B. die Folgen einer Traumatisierung, manifestieren sich aber häufig erst später oder finden zunächst keine Berücksichtigung.
Aufgrund der organisatorischen Probleme, einer unzureichenden Dokumentation und Sprachbarrieren, wie sie für eine derartige Flüchtlingsbewegung charakteristisch sind, stellt die Behandlung von chronischen Infektionserkrankungen für den, in der Regel niedergelassenen, Infektiologen bzw. Internisten, eine besondere Herausforderung dar. Um die Therapie erfolgreich im Sinne des Patienten durchführen zu können, muss der Behandler aktiv versuchen, eine erfolgversprechende Behandlungssituation herbeizuführen. Hierzu zählt die umgehende, auch provisorische, Dokumentation der Untersuchungsergebnisse oder von Impfungen. Diese können zusammen mit Kontaktdaten der Praxis dem Patienten ausgehändigt werden, um eine Fortführung der Behandlung z.B. bei einer Verlegung an andere Stelle zu gewährleisten. Die lokalen und überregionalen Dolmetscherdienste und mögliche Finanzierung müssen eruiert werden, fremdsprachige Informationsmaterialien stehen über das Internet zum Ausdruck jederzeit zur Verfügung. Der Stand des Asylverfahrens sollte erfragt werden und evtl. Hilfe bei der Suche nach einem Fachanwalt und einer finanziellen Unterstützung angeboten werden. Wird die Behandlung durch solche Probleme kompliziert oder ist der Patient in großer räumlicher Distanz zur Praxis untergebracht, ist nach Einverständnis des Patienten die frühzeitige Kooperation des Arztes mit anderen Einrichtungen (Hausarzt vor Ort, Gesundheitsamt, Beratungsstellen, Ehrenamtler) dringend anzuraten. Die Kooperation erhöht die Erfolgschancen der geplanten Therapie, erleichtert die Arbeit und erhöht die Zufriedenheit aller Beteiligten. Für den infektiologisch tätigen Arzt kann die Behandlung von Flüchtlingen eine wichtige, interessante und befriedigende Erweiterung seines Behandlungsspektrums sein.