Christian Hoffmann, Hamburg
Proteasehemmer ohne Booster – braucht das jemand?
@fotalia
Viele Studien zu Saquinavir, Indinavir oder auch Nelfinavir haben eindrucksvoll gezeigt, dass ungeboosterte Proteasehemmer (PI)-Regime schwächer sind. Für Lopinavir und Darunavir, zwei der drei heute noch gängigen Proteasehemmer, gilt das Gleiche. Lopinavir gibt es bekanntlich ohnehin nur in einer Koformulierung, die Spiegel wären ohne Ritonavir wahrscheinlich um mehr als das 50-fache niedriger (Sham 1998). Bei Darunavir erhöhte sich die Exposition in frühen Studien durch die Boosterung mit Ritonavir immerhin noch um den Faktor 11 (Vermeir 2009). Also: ohne Ritonavir oder neuerdings auch Cobicistat geht es nicht, basta. Oder doch?
Zumindest bei Atazanavir, dem dritten der drei noch verwendeten PIs, zeigt sich jetzt, dass auf einen Pharmakoenhancer unter Umständen doch verzichtet werden kann. Die Herstellerfirma macht jedenfalls aktuell eine Menge Wind um diese Geschichte und kaum ein HIV-Behandler hierzulande dürfte dieser Tage wegen dieser Sache nicht von Mitarbeitern der Firma Bristol-Myers Squibb kontaktiert worden sein.
Weniger ist mehr
Sicher, die Boosterung von Medikamenten ist gewissermaßen ein Notbehelf. Die zusätzliche Gabe einer Substanz, die einzig gegeben wird, um die Plasmaspiegel einer anderen Substanz zu erhöhen, bleibt eine Art Provisorium. Wenn man ohne Pharmakoenhancer auskommen kann, umso besser. Angesichts einer immer älter werdenden HIV-Population wird sich dieses Gefühl weiter verstärken. Gerade im Hinblick auf die stetig wachsende Begleitmedikation kann man heutzutage froh sein, wenn man keinen interaktionsverdächtigen Booster an Bord haben muss: man denke nur an problematische Medikamentengruppen wie Statine, Calciumantagonisten und Antidepressiva.
In Europa zugelassen,
in vielen EU-Ländern auf
dem Markt – aber
nicht in Deutschland
Dass der Trend weg vom Booster geht, zeigt übrigens auch der Fall Gilead Sciences. Dort versucht man zwar einerseits, dem nur moderat erfolgreichen Integrasehemmer Elvitegravir/c noch einmal auf die Beine zu helfen – nicht von ungefähr wird diesem einzigen zu boosternden Präparat seiner Klasse als erstes die Kombination aus dem neuen, weniger toxischen TAF/FTC (statt TDF/FTC) beigefügt – andererseits wird bei Gilead gleichzeitig mit Hochdruck an einem neuen Integrasehemmer gearbeitet, bei dem auf den erst gerade selbst entwickelten Pharmakoenhancer Cobicistat verzichtet werden kann.
Europa zieht nach
Aber
zurück zu Atazanavir: In anderen Ländern war man immer schon etwas
mutiger. In den USA ist ungeboostertes Atazanavir (400 mg!) seit
vielen Jahren zugelassen. Den Europäischen Behörden war die
Datenlage stets zu dünn, erst jetzt hat man sich zu einer
Zulassungserweiterung durchringen können. Gleich
mehrere Studien
gaben dafür den Ausschlag. In ARIES waren 369 antiretroviral naïve
Patienten zunächst für 36 Wochen mit Atazanavir/r und
Abacavir+Lamivudin behandelt worden, um dann randomisiert eben mit
oder ohne Ritonavir fortzufahren. Über insgesamt 144 Wochen war das
Lipidprofil ohne Boosterung etwas günstiger, wenngleich Biomarker
und das kardiovaskuläre Risiko in beiden Armen keinerlei
Unterschiede zeigten. Dafür war die für
Atazanavir so typische
Hyperbilirubinämie ohne Boosterung weniger stark ausgeprägt
(Squires 2012). Auch einer Metaanalyse zufolge ist ungeboostertes
Atazanavir insgesamt nicht schlechter wirksam als andere geboosterte
Proteasehemmer (Baril 2014).
Einschränkungen
Allerdings gelten für die jetzige Zulassungserweiterung für Atazanavir zahlreiche Einschränkungen: So sollte ungeboostertes Atazanavir nicht angewendet werden bei Patienten mit vorherigem virologischen Versagen und Resistenzmutationen. In mindestens einer randomisierten Studie bei solchen Patienten war ungeboostertes Atazanavir schlechter als Lopinavir/r (Cohen 2005). Bei erwarteten Compliance-Schwierigkeiten ist somit ebenfalls abzuraten. Die Viruslast soll vor einer Umstellung mindestens sechs Monate unter der Nachweisgrenze sein. Protonenpumpen-Inhibitoren und H2-Rezeptorantagonisten sowie Schwangerschaft sind weitere Limitierungen. Eine Mahlzeit ist erforderlich, um eine ausreichende Resorption zu erreichen. Und, last but not least: Auch von der gleichzeitigen Anwendung von Tenofovir wird abgeraten! Obwohl der Mechanismus der Interaktion unklar bleibt, erreichen wahrscheinlich zu wenige Patienten bei gleichzeitiger Gabe von Tenofovir ausreichende Spiegel (Fournier 2013). In dualen Therapien wie zum Beispiel mit Raltegravir ist Atazanavir ungeboostert ebenfalls nicht zu empfehlen. Die SPARTAN-Studie, in der diese Kombination an therapienaiven Patienten untersucht wurde, ging vor einigen Jahren ziemlich schief, es kam zu einer ganzen Reihe von Raltegravir-Resistenzen (Kozal 2012). Der wichtigste Vorteil der PIs, ihre hohe Resistenzbarriere, ist also ohne Boosterung vermutlich dahin.
Fazit
Es bleiben wahrscheinlich einige wenige Dutzend handverlesene Patienten in Deutschland übrig, für die eine solche Strategie wirklich in Frage kommt. Bei diesen Patienten, die langjährig und zufrieden auf Atazanavir/r plus ABC+3TC laufen und all die oben genannten Einschränkungen nicht aufweisen, kann man nun also drüber nachdenken, statt einer Tablette Atazanavir 300 mg und einer Tablette Ritonavir 100 mg nunmehr zwei Tabletten Atazanavir 200 mg zu geben. Eine 400 mg Tablette ist leider nicht in Sicht. Es bleibt die Frage, was wirklich damit gewonnen ist. Wenn erhöhte Lipide die Ursache für derartige Switch-Überlegungen sind, gibt es heute viele andere und womöglich bessere Möglichkeiten.
Bedauerlich
bleibt auch der Umstand, dass die Firma Bristol-Myers Squibb
Atazanavir/c (Evotaz©),
die fixe Kombination mit Cobicistat, in Deutschland nicht auf den
Markt bringt. Evotaz©
ist seit Juli 2015 von der EMA zugelassen. Die Datenlage ist gut, es
liegen überzeugende 144-Wochen-Daten vor (Gallant 2015). In
Großbritannien wurde Evotaz©
bereits eingeführt.
Hierzulande wird diese Fixkombination wohl auch in
Zukunft nur
über Umwege, als Import erhältlich sein. Grund: Vermutlich das
deutsche AMNOG. Die Nutzenbewertung dürfte nicht günstig ausfallen,
der erzielbare Preis wäre vermutlich noch niedriger als für
Atazanavir alleine. HIV&more berichtete über diese Problematik
bereits letztes Jahr (http://www.hivandmore.de/archiv/2015-1/)
.
Baril J, Conway B, Giguère P, et al. A meta-analysis of the efficacy and safety of unboosted atazanavir compared with ritonavir-boosted protease inhibitor maintenance therapy in HIV-infected adults with established virological suppression after induction. HIV Med 2014; 15:301-10.
Cohen C, Nieto-Cisneros L, Zala C, et al. Comparison of atazanavir with lopinavir/ritonavir in patients with prior protease inhibitor failure: a randomized multinational trial. Curr Med Res Opin 2005; 21:1683-92.
Fournier C, Higgins N, Thomas R, et al. Negligible effect of tenofovir on atazanavir trough concentrations and genotypic inhibitory quotients in the presence and absence of ritonavir. Ther Drug Monit 2013; 35:264-9.
Gallant JE, Koenig E, Andrade-Villanueva JF, et al. Cobicistat Compared With Ritonavir as a Pharmacoenhancer for Atazanavir in Combination With Emtricitabine/Tenofovir Disoproxil Fumarate: Week 144 Results. J Acquir Immune Defic Syndr 2015, 69:338-40.
Kozal MJ, Lupo S, DeJesus E, et al. A nucleoside- and ritonavir-sparing regimen containing atazanavir plus raltegravir in antiretroviral treatment-naïve HIV-infected patients: SPARTAN study results. HIV Clin Trials 2012, 13:119-30.
Sham HL, Kempf DJ, Molla A, et al. ABT-378, a highly potent inhibitor of the human immunodeficiency virus protease. Antimicrob Agents Chemother 1998, 42:3218-24.
Squires KE, Young B, DeJesus E, et al. ARIES 144 week results: durable virologic suppression in HIV-infected patients simplified to unboosted atazanavir/abacavir/lamivudine. HIV Clin Trials 2012, 13:233-44.
Vermeir M, Lachau-Durand S, Mannens G, et al. Absorption, metabolism, and excretion of darunavir, a new protease inhibitor, administered alone and with low-dose ritonavir in healthy subjects. Drug Metab Dispos 2009, 37:809-20.