Michaela M. Müller und Cluse Krings, München
Trauma und Flucht

Überlegungen zur Behandlung traumatisierter Migranten

Allen populistischen Reden von einer Begrenzung der Flüchtlingszahlen zum Trotz: Auf die medizinischen Berufe kommt die Behandlung Hunderttausender Neubürger zu. Neubürger aus fremden Kulturen, die aus ihrer Heimat oder von der Flucht zum Teil schreckliche Erlebnisse mitbringen. Dieser Herausforderung werden wir uns stellen müssen.

Trauma und FluchtNehmen wir den knapp 30-jährigen Malinesen Pierre.* (Genaue Geburtsdaten sind in vielen Fällen übrigens nicht zu eruieren.) Seine äußere Erscheinung ist ein Albtraum für jeden Behandler: Untersetzt, schwer übergewichtig, niedriger Muskeltonus, zusammengesunken, in der Nase und zwischen den Zähnen popelnd, ungewaschen und übel riechend, interessen- und antriebslos hängt er auf der Behandlungscouch.

Die betreuenden Sozialarbeiter wissen nichts mit ihm anzufangen. Die Mediziner hangeln sich an den wenigen Informationen entlang, die der Patient liefert – Schmerzen im Lendenwirbelbereich, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, gelegentlich die Wehwehchen, die in kälteren Regionen auftreten, wie Husten und Heiserkeit. Die diagnostische Hilflosigkeit kulminiert im Verdacht auf geistige Behinderung.

Schwierige Diagnostik

Ein Patient wie Pierre hat gute Aussichten, in der Praxis eines Allgemeinarztes zu landen und diesen vor die
beschriebenen Probleme zu stellen. Wir wollen nicht vorenthalten, über lange Strecken diesem Phänomen ebenfalls hilflos gegenübergestanden zu haben. Monat für Monat drohte an immer demselben Wochentag Pierres Therapiestunde im Kalender. Stoisch nahm er jede Sitzung wahr. Etwa eineinhalb Jahre lang saß er mehr oder weniger schweigend da – ein Gespräch in Gang zu bringen war so gut wie unmöglich. Die Wende zum Besseren kam nicht schlag-artig, sondern schlich sich gewissermaßen in die Therapiestunden ein: Mal berichtete er zaghaft von alltäglichen Problemen, mal von schlechten Träumen.

Unsere Geduld wurde schließlich belohnt. Es kristallisierte sich heraus, dass der Patient im Anschluss an Erlebnisse frühkindlicher Gewalt Zeuge ein oder mehrerer Morde wurde. Seit Beginn der Therapie waren schon drei Jahre verflossen, als Pierre endlich seinen wahren Fluchtgrund nach Europa zu nennen in der Lage war. Die Morde waren von einem engen Familienmitglied begangen worden, und Pierre als Zeuge und Mitwisser des Verbrechens musste nun um sein eigenes Leben bangen.

Komplextraumatisierung

Psychodynamisch sprechen wir in einem solchen Fall von einer komplexen Traumatisierung, bei der sich ein Trauma gewissermassen auf ein schon vorhandenes setzt und der Patient sich aus der Vielzahl und dem Gewirr seiner Ängste und des Albdrucks nicht mehr befreien kann. Daher also Pierres Apathie, Interessenlosigkeit, Unansprechbarkeit.

Resümierend kann gesagt werden, dass Pierre, nachdem er endlich Vertrauen gefasst und sich allen Ursachen seines schlechten Allgemeinzustands gestellt hatte, befähigt war eine Arbeit aufzunehmen und seinen Tagesablauf in Eigenregie zu strukturieren. Er hat abgespeckt, wirkt sogar mitunter athletisch. Mit Anerkennung seines Asylstatus hat er nun mit Fleiß begonnen, die deutsche Sprache zu erlernen. Im Moment ist das nächste – und für uns letzte – Therapieziel, dass er einen deutschen Schulabschluss erlangt.

Wie an diesem Fall deutlich wird, steht der Diagnostiker vor einem schier unlösbaren Rätsel, wenn er nicht das Vorliegen einer traumatischen Erkrankung wenigstens in Erwägung zieht.

Das große Schweigen

Diese Schwierigkeit wird aggraviert durch den immer wieder zu beobachtenden Umstand, dass ein traumatisierter Mensch von sich aus nur äußerst ungern und in der Regel überhaupt nicht über die Ursachen für seine Traumatisierung spricht – abgesehen davon, dass dieses psychologische Konzept in großen Teilen der Welt völlig unbekannt ist.

Ein anderer Fall: Abd Allah*, ein junger Mann aus Pakistan. Er verschwieg selbst in der Therapie beharrlich die aus-
lösenden Faktoren für seine traumatische Erkrankung. Aus dem islamischen Kulturkreis stammend, betrachtete er die vielfachen Vergewaltigungen durch andere Männer auf der Flucht als seine ureigene persönliche Schande, über die zu reden sich ihm aufs Strengste verbot. In seinem Fall kam der Hinweis schließlich über die Proktologie.

Natürlich hat der Behandler, ob Psychotherapeut, Neurologe oder Allgemeinmediziner, keine Chance, solange der Patient sich ihm nicht anvertraut. Als einzige Hilfe bietet sich ihm, die Möglichkeit einer Traumatisierung, auch einer kulturell mit viel Scham besetzten, vage im Hinterkopf zu halten. Ist erst einmal ein ausreichend tragfähiges Vertrauensverhältnis etabliert, kann der Vorstoß gewagt werden, das intuierte Thema direkt anzusprechen.

Vorsichtige Annäherung

Hier empfehlen sich Formulierungen wie „Man hört ja immer wieder, dass in Ihrem Land ...“ oder „Ich hatte letztlich einen Patienten, der berichtete davon, dass...“. Diese allgemeinen Aussagen begegnen der häufig anzutreffenden Scham, die von der Annahme herrührt, dass nur dieser einen Person dieser spezifische Schicksalsschlag widerfuhr. Auch lässt sich über eine allgemeine Thematisierung leichter auf den speziellen Fall abzielen.

Dennoch sei gewarnt: Der Patient könnte im Moment der Offenbarung unerwartet heftige seelische Reaktionen zeigen, die der Arzt dringend abzufedern angeraten ist, bevor er den Patienten auf die Straße entlässt. Eine 15-Minuten-Taktung lässt sich in diesem Fall nicht einhalten.

Welche Erscheinungen hat der Behandler in einem solchen Fall zu gewärtigen? Häufig sind es Weinkrämpfe oder so genannte Dissoziationen, bei denen der Patient innerlich aus Raum und Zeit fällt, so dass er womöglich für eine Weile nicht weiß, wo er sich befindet, wie und warum er dort hingekommen ist, ihm Uhrzeit und Wochentag entfallen. In einem solchen Fall besteht außerhalb der Praxis die akute Gefahr eines Verkehrsunfalls oder auch die, dass der Dissoziierte sich in der Stadt völlig verläuft und den Weg nach Hause aus eigenen Kräften nicht mehr findet. Es gehört zur ärztlichen Sorgfalt, dafür Sorge zu tragen, den Patienten erst dann wieder zu entlassen, wenn keine Gefahr der Selbst- oder Fremdgefährdung mehr besteht.

Trigger

Dieselbe Vorsicht sollte walten bei Untersuchungsmethoden, die möglicherweise angetan sind, bestehende Traumatisierungen zu reaktualisieren. Im Verlaufe der Folter wird in vielen Ländern Elektrizität angewendet. Elektroden, wie sie bei EKG oder EEG aufgeklebt werden, können in einem solchen Fall schier unkontrollierbare Ängste auslösen. Ähnliches gilt aus leicht ersichtlichen Gründen für die ärztliche Untersuchung der Genitalien. Oftmals ist für einen Europäer überhaupt nicht ersichtlich, welche medizinisch indizierte Handlung einen Trigger darstellt, der dann die unkontrollierbare psychische Reaktion hervorbringt.

Ein Beispiel: Bei einem Patienten aus Sierra Leone ergab sich in der Praxis die Notwendigkeit einer Hand-OP. Gottseidank offenbarte der Patient seine Ängste vor dem angesetzten Arzt-Termin, so dass wir seine Befürchtungen im Gespräch zerstreuen konnten. Aus Rebellen-Überfällen in seinem Heimatland kannte der Mann die zynische Frage: „Long sleeves or short sleeves?“, was die Attackierten vor die Wahl stellte „nur“ ihre Hände oder den gesamten Unterarm mit Macheten abhacken zu lassen. Auch einfache Blutabnahmen oder kleinere Operationen können die Dekompensation eines solchen Patienten hervorrufen.

Trauma und Somatik

Ärzte sollten aber nicht die Vorteile übersehen, die eine solche spontane Offenbarung von Trauma-Ursachen bieten. In einer großen Anzahl von Fällen lässt sich über eine dann mögliche Trauma-Behandlung auch das somatische Leiden des Patienten angehen. Mehr noch als bei deutschen Patienten ist bei Menschen nach einer Flucht angeraten, die jeweils nötigen Eingriffe in der Praxis genau zu erklären, wenn nötig unter zur Hilfenahme von Bildmaterial.

Arbeit mit Dolmetscher

An dieser Stelle stellt sich unweigerlich die Frage nach der sprachlichen Verständigung. Daher sei noch auf die Arbeit mit Dolmetschern verwiesen: Wenn irgend möglich sollte ein Sprachmittler hinzugezogen werden. Dieser sollte

  1. kein enges Familienmitglied sein (da sich intime Dinge wie Krankheiten vor Fremden leichter besprechen lassen
  2. möglichst aus dem Kulturkreis des Patienten stammen, aber schon etliche Jahre in Europa gelebt haben (da er nur auf diese Art spezifisch zwischen den beiden Kulturen vermitteln kann) und
  3. neutral die Worte des einen und des anderen übersetzen und sich eigener Kommentare enthalten.

Dem Behandler sei in dieser komplizierten Situation zu kurzen und prägnanten Sätzen geraten, die dem Dolmetscher Gelegenheit geben Aussage für Aussage in die andere Sprache zu übertragen. Die oftmals lebhaft diskutierte Frage, ob der Sprachmittler die zu übersetzenden Personen anschauen solle oder besser ins Leere blicke, halten wir für rein akademisch und unerheblich.


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