S3-Leitlinie Methamphetamin

Die weltweit erste Behandlungsleitlinie für Patienten mit Methamphetamin-bezogenen Störungen berücksichtigt auch den Konsum im sexuellen Kontext. In Deutschland ist die weltweit erste Behandlungsleitlinie für Patienten mit Methamphetamin-bezogenen Störungen erschienen. Sie berücksichtigt auch den Sonderfall: Konsum im sexuellen Kontext.

Party Scene
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Seit 2009 wächst der Missbrauch von Methamphetamin in den deutschen Grenzregionen zu Tschechien. Ein wesentlicher Grund dafür ist die illegale Produktion von Methamphetamin in der Tschechischen Republik und die direkte Einfuhr in die angrenzenden Regionen Deutschlands. Längst begrenzt sich der Konsum der Droge aber nicht mehr nur auf die grenznahen Regionen. Jährlich werden ca. 3.000 Personen wegen ihres Crystal-Konsums auffällig. Konsumiert wird nicht nur in „herkömmlichen“ Drogenszenen, sondern auch im sexuellen Kontext.

Effekte

Methamphetamin (Methamphetaminhydrochlorid) ist ein hochpotentes, synthetisches Stimulans auf Amphetaminbasis. Es wird aus Vorläufersubstanzen, z.B. Ephedrin oder Pseudoephedrin gewonnen und weist meist einen hohen Reinheitsgrad auf, wobei dieser je nach Streck- oder Verschnittstoffen variieren kann. Methamphetamin stimuliert das Zentrale Nervensystem, indem es die Ausschüttung von Dopamin und Noradrenalin anregt. Die Wirkung von Methamphetamin hält mit einer Dauer von 8-24 Stunden deutlich länger an als bei anderen illegalen Drogen.

Unmittelbare Wirkung

Sex-zentrierte „Szenen“

Crystal Meth
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Studien konnten aufzeigen, dass in einzelnen „Subkulturen“ von Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), eine besondere Affinität zu Methamphetamin besteht. Derzeit liegen keine Hinweise vor, dass Methamphetamin von MSM abseits von großstädtischen „Szenen“ genutzt wird. Eine homosexuelle Orientierung ist nicht das Kriterium dieser Risikogruppe, es können auch bisexuelle, heterosexuelle oder unklare Sexualpräferenzen vorliegen. Typisch ist, dass der Konsum vorrangig oder ausschließlich im sexuellen Kontext bzw. aus sexuellen Motiven heraus stattfindet. MSM-„Szenen“ mit einem erhöhten Risiko für den Methamphetamin-Konsum zeichnen sich durch eine starke Tendenz zur sexuellen Erlebnissuche und Risikomotivation (sexual sensation seeking) aus. Weiterhin wurden Vorlieben für öffentliche oder private Sexpartys, promisken und anonymen Sex sowie für spezielle Verhaltensweisen berichtet, etwa den bewussten Verzicht auf Schutzmaßnahmen gegen sexuell übertragbare Krankheiten (bare backing). Es finden sich zudem Hinweise darauf, dass Methamphetamin-Konsum in der männlichen Prostitution in einzelnen Großstädten verbreitet ist. Konsumierende im Hilfesystem berichten teilweise, zwar nicht abhängig zu sein, jedoch Sexualität ohne Methamphetamin-Konsum nicht mehr lustvoll erleben zu können sowie unter massiven Beeinträchtigungen ihrer psychischen Befindlichkeit zu leiden. Eine Besonderheit im MSM-Bereich stellt die Präferenz des intravenösen Konsums dar.

Die Wirkungen sind individuell abhängig von der Dosis und vom Ausmaß einer Toleranzentwicklung. Konsumierende erleben sich nach Konsum des kristallinen Methamphetamins typischerweise als hellwach und unternehmungslustig. Bei selbstbewusst gehobener Stimmung kommt es häufig zu einer gesteigerten Geselligkeit mit Distanzminderung, reduziertem Urteilsvermögen, Kritikminderung, riskanterem Verhalten und sexueller Enthemmung. Die Euphorie kann plötzlich umschlagen in Anspannung, Reizbarkeit, Aggressivität, ungerichtete Impulsivität, aber auch in diffuse Ängste. Die psychischen und verhaltensbezogenen Störungen stellen ein nicht zu unterschätzendes Risiko dar für Unfälle, Totschlagsdelikte und Suizide.

Konsumierende fallen typischerweise auf durch Hyperaktivität (Zappeligkeit), Logorrhoe, Grimassieren, Bruxismus oder Appetitlosigkeit. Eigentlich langweilige, redundante mechanische Tätigkeiten werden manchmal ermüdungsfrei stundenlang ausgeführt. Die ausgelösten Stereotypien können auch den eigenen Körper betreffen: Nach stundenlanger „Pickeljagd“ entstehen sichtbare offene Hautwunden, die später vernarben („Speedpickel“). Da die Schmerzempfindung unter Methamphetamin reduziert ist, kann die subjektive Leistungsfähigkeit bei muskulär anstrengenden körperlichen Tätigkeiten kurzfristig erhöht sein. Auch ein gestörtes Zeitempfinden und eine positive (grandiose) Selbsteinschätzung führen zu einer Leistungssteigerung. Beide Faktoren tragen dazu bei, dass die Fähigkeit, adäquat auf Situationen zu reagieren und Absprachen zu treffen, häufig erheblich eingeschränkt ist.

Körperliche Symptome

Körperlich kommt es nach dem Konsum von kristallinem Methamphetamin meist zu beschleunigtem Herzschlag mit erhöhtem Blutdruck, erhöhter Muskelanspannung, Schweißausbrüchen und Hitzewallungen sowie Kälteschauern. Anfangs weist auch eine Pupillenerweiterung auf einen Konsum hin.

Intoxikation

Symptome einer Überdosis (200-5.000 µg/l) zeigen sich in Pupillenerweiterung, Herzrasen, Bluthochdruck, schnelle Atmung sowie Zittern, Atemnot, Brustschmerzen, Fieber, Leber- und Niereninsuffizienz. Tödliche Dosen an Methamphetamin können akutes Herzversagen, Kammerflimmern, Durchblutungsstörungen, Lungenödeme, Lungenstauung, Gehirnblutungen, hohes Fieber, septische Infektionen sowie Erstickung an Erbrochenem zur Folge haben. Als tödliche Plasmakonzentration wird ein Wert von über 10.000 µg/l eingestuft, allerdings gibt es auch Überlebende bei 9.460 µg/l und Todesfälle bei 90 µg/l.

Die Versorgung einer Methamphetamin-intoxikierten Person sollte in einer möglichst ruhigen, reizabschirmenden Umgebung mit kontinuierlicher personeller Begleitung erfolgen. Ohne ausreichende Überwachungsmöglichkeit sollte bei unklarer Misch-Intoxikation – so weit wie möglich – auf die Gabe einer Medikation verzichtet werden. Bei einer Methamphetamin-Intoxikation mit starker Agitiertheit, Aggressivität oder psychotischen Symptomen und medikamentöser Behandlungsbedürftigkeit sollen als Mittel der ersten Wahl Benzodiazepine, falls nicht ausreichend Antipsychotika, eingesetzt werden.

Konsumfrequenz

Drogengeschirr©fotolia

Schlechte Zähne©Max Braun

Der Konsum kann gelegentlich (sporadisch), andauernd (täglich oder jeden 2. Tag) oder episodisch sein (Wechsel von massivem Konsum bis zur Erschöpfung mit kurzen oder längeren konsumfreien Perioden). Häufig wird in Therapiestudien ein leichter bis moderater Konsum als „seltener als an drei Tagen/Woche bzw. weniger als an 18 Tagen im letzten Monat“ definiert. Ein Konsum an mehr als 18 Tagen im Monat gilt bereits als schwerer Konsum.

Abhängigkeit

Bei der oralen Einnahme eines Methamphetamin-Medikaments wie z. B. Pervitin® (3-5 mg bis 30 mg Tagesmaximaldosis) wäre akut nur mit einer erhöhten Wachheit und Appetitzügelung als Wirkung zu rechnen. Das heutzutage in der Straßenszene erhältliche kristalline Methamphetaminhydrochlorid wird bei nasalen Konsum („line sneefen“) meist bereits beim Erstkonsum in einer Dosierung von ca. 80-100 mg eingenommen. Abhängig Konsumierende benötigen 0,5-1,5 g täglich. Da die hoch dosierte Droge bei dieser Konsumform schneller resorbiert wird und die Verstoffwechselung in der Leber erst verzögert einsetzt, kommt es zu einem raschen „Anfluten“. Das Methamphetamin reichert sich entsprechend früh in Maximaldosis im Gehirn an. Dies bedingt die starke Rauschwirkung. Die kurze Zeit zwischen der Selbstverabreichung und dem hohen Lustgewinn ist Ursache für den Wunsch, die Substanz wieder nehmen zu wollen. Bei intravenöse Anwendung setzt die Wirkung noch schneller ein und führt entsprechend rasch zur Entwicklung einer Abhängigkeit.

Entzug

Das so genannte Postkonsumsyndrom („Crash“) nach gelegentlichem Methamphetamin-Gebrauch ist der ursprünglichen Wirkung entgegengesetzt. Einer extremen Erschöpfung mit langem Tiefschlaf folgt eine depressive Verstimmung mit Anhedonie (Freudlosigkeit), Müdigkeit, Motivationslosigkeit, allgemeiner Schwäche und Gereiztheit.

Die Symptome normalisieren sich in der Regel anfangs innerhalb von 2–3 Tagen. Chronisch Konsumierende entwickeln häufig ein Wochen bis Monate anhaltendes Entzugssyndrom. Häufig werden depressive Symptome mit Anhedonie und Suizidalität berichtet.

Die Antriebsstörung wird als Müdigkeit erlebt. Dass die Betroffenen häufig gereizt und gleichzeitig emotional labil sind, wirkt sich belastend auf Sozialkontakte aus. Es entsteht ein starkes Verlangen nach der Droge („Craving“), somatisch werden eine Bradykardie und eine Gewichtszunahme beobachtet. Der Schlaf ist nach einer „Crashphase“ mit erhöhtem Schlafbedürfnis meist subjektiv unerholsam, typischerweise mit Drogenträumen durchsetzt. Die kognitiven Fähigkeiten sind zu Beginn des Entzugs subjektiv deutlich reduziert.

Viele Betroffenen versuchen die Entzugssymptome mit anderen (illegalen) Drogen zu lindern. Infolgedessen kann sich ein polyvalentes Konsummuster entwickeln.

Diagnose

Neben einer ausführlichen Suchtmittelanamnese sollte man auch auf Konsummotive, negative Konsumfolgen, abstinente Phasen und Erwartungen des Patienten eingehen. Besonderes Augenmerk gilt psychotischen und depressiven Symptomen. Ein geeignetes Drogenscreening sollte ggf. durchgeführt werden.

Therapie

Bei aktivem Nachsuchen um Hilfe sollten Betroffene in das Suchthilfesystem vermittelt werden. Das Angebot dort reicht von Selbsthilfe über den stationären qualifizierten Entzug bis hin zur ambulanten Betreuung.

Gefahren von Methamphetamin

Wichtiger Bestandteil eines Gesprächs über Methamphetamin-Konsum ist die Aufklärung über die besonderen Gefahren des kristallinen Methamphetamins:

  • starke Überdosierung durch hohen Reinheitsgrad der kristallinen Droge, besonders bei den nasalen, intravenösen und inhalativen Konsumformen
  • schnellere Abhängigkeitsentwicklung als bei Kokain
  • schnellere Entwicklung von psychischen Störungen als bei Kokain-Konsumierenden
  • Antriebsstörungen, Depressivität und Suizidgedanken im Entzug
  • erhöhte Gefahr für aggressives Verhalten im intoxikierten Zustand
  • erhöhte Gefahr für die Auslösung von Psychosen
  • erhöhtes Risiko für bleibende Schäden wie Gedächtnisstörungen und M. Parkinson
  • erhöhte Gefahr für sexuell riskantes Verhalten mit dem Risiko ungewollter Schwangerschaft, Missbrauchserleben und der Infektion mit Hepatitis B, C und HIV

Zur Behandlung einer depressiv-ängstliche Symptomatik, Erschöpfung und/oder Hypersomnie im Rahmen eines Methamphetamin-Entzuges können Bupropion oder ein antriebssteigerndes trizyklisches Antidepressivum wie Desipramin, bei Schlafstörungen und/oder Unruhe ein sedierendes Antidepressivum eingesetzt werden. Hochpotente Antipsychotika sind nur bei Psychosen, nicht zur Linderung von Entzugsbeschwerden empfehlenswert. Dexamphetamin ret. kann im begründeten Einzelfall in der stationären Entzugsbehandlung (nicht ambulant!) zur Linderung von Entzugssymptomen bei Methamphetamin-abhängigen Konsumierenden eingesetzt werden, wenn andere Entzugsversuche gescheitert sind. Wenn starkes Craving im Entzug vorherrscht, kann versuchsweise Acetylcystein (600-1.200 mg/d) gegeben werden.

Zur Unterstützung der Abstinenz kann bei Patienten mit moderatem, nicht täglichem Methamphetamin-Konsum ein Therapieversuch mit Bupropion unternommen werden. Nicht empfehlenswert sind Sertralin und andere SSRI (cave serotonerges Syndrom) sowie Modafinil.

Empfehlungen für MSM

Es besteht das Risiko, durch häufigen Sex unter Methamphetamin-Einfluss eine Abhängigkeit zu entwickeln, zu verstärken oder vom Sex bei gleichzeitiger Drogeneinnahme abhängig zu werden. Nicht wenige Konsumierende, die häufig Sex unter Methamphetamin haben, berichten, dass sie mit der Zeit das Vergnügen an Sex in nüchternem Zustand verloren haben und später nur schwer lernen konnten, Sex ohne Methamphetamin wieder zu genießen und zu schätzen. Das kann sehr frustrierend und belastend sein und dazu führen, erneut zu konsumieren. Aufgrund der engen Verschränkung zwischen Methamphetamin-Konsum, sexueller Aktivität und Risikoverhalten in der Gruppe der MSM soll die Behandlung zielgruppenspezifisch und an der sexuellen Lebenswelt der Männer orientiert sein. MSM, die Methamphetamin im sexuellen Kontext konsumieren, kann Mirtazapin angeboten werden.

Als nicht-medikamentöse Intervention ist Kontingenzmanagement (positive Verstärker für erwünschtes Verhalten) in der Behandlung von MSM nicht die Methode der ersten Wahl. Peergroup-basierte Ansätze und innovative onlinebasierte Interventionen zeigen erste positive Ergebnisse, es fehlen allerdings randomisiert-kontrollierte Studien. Ein weiterer Ansatz sind Selbsthilfe-Angebote, z.B. regionale Gruppen oder Online-Portale.

Harm Reduction

In jedem Fall empfehlenswert ist Schadensminimierung: Methamphetamin auf keinen Fall mit Antidepressiva und MAO-Hemmern kombinieren. Vorsicht bei Kombination mit anderen Medikamenten. Vorsicht bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Leber- und Nierenschäden sowie psychischen Vorbelastungen. Viel Trinken, Kaugummi kauen. Bei Konsum eigenes Instrument (Nasenröhrchen, Spritze usw.). Sex mit wasserlöslichen Gleitmittel und Kondom. Regelmäßige Testung auf HIV und STI. (Anm. der Redaktion: Bei HIV-negativen PräExpositionsprophylaxe erwägen).

Weiterführende Informationen zum Thema Schadensminimierung

www.drugscouts.de und www.mindzone.info.


* Die Leitlinie wurde vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) zusammen mit einem interdisziplinär besetzten Expertenpanel erarbeitet. Federführende Fachgesellschaft war die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN). Bei der Erstellung hat das Bundesministerium für Gesundheit die Bundesärztekammer unterstützt. Quelle: S3-Leitlinie. Methamphetamin-bezogene Störungen. 1. Auflage 2016. http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/038-024m_S3-Methamphetamin-bezogene-Stoerungen-2016-11.pdf.

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