Deutsche AIDS-Hilfe
„Letztlich empfahl der Anstaltsarzt meinem Bruder, sich im Hof Drogen zu besorgen“
Claudia Jaworski möchte zum öffentlichen Bewusstsein von Suchterkrankun-gen beitragen. @poto privat
Claudia Jaworski hat ihrem heroinabhängigen Bruder Substitutionsmittel ins Gefängnis gebracht, weil ihm in Haft die Therapie verwehrt wurde. Nun steht sie selbst vor Gericht. Aus einer besorgten Schwester wurde eine Aktivistin.
Es ist ein Teufelskreis. Sucht, Straffälligkeit, Inhaftierung – und wieder von vorne. Jahrelang hat Claudia Jaworski ihrem Bruder dabei zusehen müssen. Sie verstand: Substitution kann der Ausweg sein. Doch während des letzten Gefängnisaufenthalts in der JVA Bernau in Bayern wurde ihrem Bruder diese Standard-Therapie verweigert.
Zu wenig Substitution in Haft
Übermittlungspflicht abschaffen!
Aus Angst vor Abschiebung vermeiden viele Menschen, sich ärztlich behandeln zu lassen. Der Grund: Paragraf87 des Aufenthaltsgesetzes verpflichtet das Sozialamt, Personen ohne gültigen Aufenthaltstitel umgehend an die Ausländerbehörde zu melden, wenn sie eine Kostenübernahme für medizinische Leistungen beantragen.
Die Folgen: Schwere Erkrankungen bleiben unbehandelt – teils mit tödlichen Folgen. Infektionserkrankungen bleiben übertragbar. Schwangere können nicht zur Vorsorgeuntersuchung gehen, Kinder erhalten keine medizinische Grundversorgung.
Während bei Notfallbehandlungen noch der „verlängerte Geheimnisschutz“ gilt, greift bei der dauerhaften Behandlung chronischer Erkrankungen wie HIV die Übermittlungspflicht.
Ein Bündnis aus über 60 zivilgesellschaftlichen Organisationen fordert mit der Kampagne „GleichBeHandeln“ jetzt eine Gesetzesänderung. Zu den Unterzeichner*innen gehören die Deutsche Aidshilfe (DAH), die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), Ärzte der Welt, Amnesty, Diakonie, Pro Asyl und die Arbeiterwohlfahrt (AWO).
Petition und weitere Informationen: www.gleichbehandeln.de
Das
ist kein Einzelfall. Obwohl die medizinische Versorgung in Haft laut
Gesetz nicht schlechter sein darf als
in Freiheit, erhält nur
ein Viertel der etwa 20.000 Opioidabhängigen in deutschen
Gefängnissen eine Substitutionstherapie – halb so viel wie
draußen. Im Maßregelvollzug sind es nur 10% der in Frage kommenden
Patient*innen. Viele Haftanstalten bieten keine Substitution
an. Darauf hat im Mai der Suchtforscher Professor Dr. Heino Stöver
von der Frankfurt University of Applied Sciences hingewiesen.
Kampf für das Recht AUF BEHANDLUNG
Claudia Jaworski nahm die Sache schließlich selbst in die Hand. Bei einem Besuch brachte sie ihrem Bruder das Substitutionsmittel Subutex® mit, mit dem er auch schon vorher behandelt worden war. Jetzt steht sie deswegen vor Gericht – und kämpft für das Recht Inhaftierter auf eine angemessene medizinische Behandlung.
Frau Jaworski, bitte erzählen Sie von Ihrem Bruder.
CJ: Mein Bruder ist jetzt 36 und seit 17 Jahren heroinabhängig. Ich habe viel Gelegenheit gehabt zu begreifen, dass Sucht eine schwere chronische Erkrankung ist. Ich muss zugeben, dass auch ich mich lange vom Abstinenzgedanken habe leiten lassen: Richtig macht man es demnach nur, wenn man vollkommen clean ist – am besten sofort. Diese Vorstellung ist immer noch vorherrschend. Dementsprechend habe ich seine Sucht moralisch betrachtet und ihm mangelnden Willen und Charakterschwäche unterstellt. Das ist fatal, weil es die medizinischen Aspekte völlig außer Acht lässt. Einem suchtkranken Menschen ist nicht geholfen, wenn man ihm Vorwürfe macht.
Wie kam es dazu, dass Sie schließlich Substitutionsmittel ins Gefängnis gebracht haben?
CJ: Zunächst mal: Alle seine Inhaftierungen beruhten auf konsumnahmen Delikten, also auf genau solchen Schwierigkeiten, die sich mit einer fachgerechten Substitutionsbehandlung vermeiden ließen. 2018 landete er in der JVA Bernau. Er hatte zu seiner Substitutionspraxis häufig pendeln müssen, hatte aber kein Geld dafür. Also fuhr er entweder schwarz oder finanzierte sich die Tickets auf fragwürdige Weise. Erneut landete er in der Illegalität – und wieder im Gefängnis.
Wurde die Substitution dort nicht fortgesetzt?
CJ: Nein. Aber das habe ich leider erst spät erfahren. Mein Bruder erzählte uns, seiner Familie, vieles nicht mehr, weil wir diese Vorwurfshaltung hatten. Wer hat schon Lust, sich permanent Moralpredigten anzuhören und sich zu rechtfertigen? Aber wir haben ihn regelmäßig besucht, alle zwei Wochen. Dabei habe ich beobachten müssen, dass mein Bruder besorgniserregend abbaute. Sowohl psychisch als auch körperlich. Irgendwann habe ich ihm auf den Zahn gefühlt. Er erzählte mir, dass er ein Disziplinarverfahren nach dem anderen bekam.
Wofür wurde er bestraft?
CJ:
Sobald du in Haft eine positive
Urinkontrolle hast, wenn also der Konsum von Drogen – oder auch
Substitutionsmitteln! – nachgewiesen wird, werden alle
Register gezogen, vom Fernsehverbot, über den Verlust des Jobs bis
hin zum Bunker, das bedeutet Isolation. Dementsprechend war mein
Bruder depressiv und psychisch instabil. Sein Zustand war
alarmierend.
Substitution kann weiteren Konsum vermeiden. Hat Ihr Bruder denn nicht danach gefragt?
CJ:
Doch, gleich zu Beginn. Die
Behandlung wurde ihm so selbstverständlich verweigert, dass er die
Hoffnung verlor. Der Anstaltsarzt schlug ihm allen Ernstes vor, sich
„das Zeug“ auf dem Hof zu besorgen. Damit hat er seine
Fürsorgepflicht verletzt. Ich finde das unfassbar: Die Strafe ist
der Freiheitsentzug. Der darf nicht
zusätzlich zum Entzug von
Menschenrechten beziehungsweise medizinischer Versorgung führen. Das
ist ein Gesetzesverstoß durch die Justiz!
Was hat den Ausschlag gegeben, dass Sie die Sache selbst in die Hand genommen haben?
CJ: Zum einen habe ich schließlich verstanden, dass mein Bruder Substitution brauchte. Dann habe ich noch erfahren, dass in seiner JVA ein Häftling gewaltsam zu Tode gekommen war und dass Verdacht auf unterlassene Hilfeleistung bestand. Da beschloss ich einzugreifen, um meinem Bruder ein solches Schicksal zu ersparen. Immerhin sind gewaltvolle Auseinandersetzungen in Haft oft drogenbedingt.
War Ihnen klar, dass Sie sich strafbar machen?
CJ: Mir war vor allem klar, dass mein Bruder dringend Hilfe brauchte und dass es keine Chance auf eine baldige Substitutionsbehandlung in der JVA gab. Für mich war das eine „Notstandshandlung“, wie es juristisch heißt. Ich habe ihm zwei Tabletten unauffällig in die Hand gedrückt. Leider ist er bei der Routinekontrolle erwischt worden, als er zur Toilette musste.
Wurden Sie sofort verdächtigt?
CJ: Ja. Ich habe dann wegen des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz einen Strafbefehl über 90 Tagessätze à 80 € erhalten. Macht 7.200 €.
Wenn Sie gezahlt hätten, wäre die Geschichte erledigt gewesen. Warum lassen Sie es trotzdem auf eine Verhandlung ankommen?
CJ: Ich möchte, dass möglichst viele Menschen von den Zusammenhängen erfahren. Wenn jemand wie ich in einem Rechtsstaat bei einem legitimen Anliegen eine illegale Handlung als einzigen Ausweg sieht, dann liegt ein Problem vor. Ich möchte auch zu einer Sensibilisierung des öffentlichen Bewusstseins für Suchterkrankungen beitragen. Denn was wirklich geächtet gehört, ist eine andere Art von Abhängigkeit: die Pfadabhängigkeit.
Das bedeutet, dass immer wieder die gleichen Wege beschritten werden – auch wenn es bessere Alternativen gäbe. Was meinen Sie konkret?
CJ: Unsere Gefängnisse, gerade in Bayern, sind auf einem mittelalterlichen „Strafe muss sein“-Trip hängen geblieben. Einer permanent um sich selbst kreisenden Logik à la „Das Gefängnis ist ein Gefängnis ist ein Gefängnis. Was Recht ist, muss Recht bleiben.“ DAS ist ein wirklich fragwürdiges Abhängigkeitsmuster, das endlich durchbrochen werden muss.
Frau Jaworski, wie geht es Ihrem Bruder heute?
CJ: Inzwischen ist er wieder in Freiheit und bekommt die Behandlung, die ihm zusteht.