Islatravir – die Entwicklung geht weiter
Das NRTTI (nukleosidischer Reverse-Transkriptase-Translokations-Inhibitor) Islatravir (ISL) von MSD ist eine Substanz mit neuartigem Wirkmechanismus und fehlender Kreuzresistenz zu anderen NRTI. Sie wurde/wird untersucht als Tablette zur täglichen Gabe (allein und in Fixkombination mit Doravirin), als Tablette zur monatlichen Gabe, als langwirksame Injektion und als Implantat zur Behandlung und Prophylaxe einer HIV-Infektion.
ISL unterscheidet sich von anderen ART-Komponenten durch eine hohe antivirale Aktivität schon bei sehr niedrigen Dosierungen. Bei einer vorgeschlagenen Dosis von 0,25 mg pro Tag erreicht ISL höhere virologische IC50 gegen Wildtyp-HIV-1 als jeder derzeit zur Behandlung zugelassene NRTI. Darüber hinaus zeigt es auch eine starke Aktivität gegen die am weitesten verbreitete NRTI-Resistenzmutation M184V.
Rückblick
ISL wurde in der P-011 Studie in Dosierungen von 0,25, 0,75 und 2,25 mg bei Therapie-naiven Erwachsenen verabreicht. Die virologische Wirksamkeit war einem 3er-Schema von Doravirin/3TC/TDF vergleichbar (bis Woche 144). Kein Teilnehmer erfüllte bis Woche 144 die Kriterien für eine klinisch signifikante bestätigte Virämie (HIV-1-RNA ≥200 Kopien/ml). Für die verschiedenen ISL-Dosisgruppen wurden Unterschiede in den Veränderungen der Gesamtzahl der Lymphozyten und CD4+-T-Zellen gegenüber dem Ausgangswert beobachtet. Diese Beobachtung in Zusammenschau mit Beobachtungen von Lymphozyten-Reduktionen in PrEP-Studien führten zu den im Dezember 2021 verfügten Vorsichtsmaßnahmen.
Probanden, die Islatravir im Rahmen der PrEP-Studien erhielten, einschließlich oraler, injizierbarer und implantierbarer Formulierungen zur Behandlung und Prophylaxe, erhielten das Prüfpräparat nicht mehr. Probanden der DOR/ISL-Studien, die mit einer Behandlung begonnen hatten, erhielten weiterhin das Prüfpräparat, jedoch nun unter wesentlich genauerer Beobachtung der Lymphozytenzahlen und der CD4 Zellen.
Dosis-Problem?
Eine umfassende Sicherheitsbewertung von DOR und ISL als Monoeinheiten hatte keine besorgniserregenden Toxizitäten ergeben. Es ergaben sich keine klinisch relevanten Bedenken, die eine fortgesetzte Verabreichung von DOR/ISL an Teilnehmerinnen ausschließen würden. Der Sponsor der ISL-Studien hat eine umfassende Untersuchung der ISL-bedingten Abnahme der Lymphozytenzahl durchgeführt, um mögliche Wirkmechanismen zu identifizieren und den Zeitpunkt und das Ausmaß der Abnahme der Lymphozyten während der Behandlung mit ISL und die Erholung der Lymphozytenzahl nach Beendigung der Behandlung mit zu beurteilen ISL. Untersuchungen zu möglichen Mechanismen der Lymphozytenabnahme stützen wohl die Schlussfolgerung, dass die bevorzugte Akkumulation von ISL-Triphosphat in Lymphozyten zu einer Hemmung des Zellwachstums und zur Apoptose führen kann. Eine mitochondrialen Toxizität trägt jedoch wohl nicht zur Abnahme der Lymphozyten bei.
Bei Patienten, die DOR/ISL 100 mg/ 0,75 mg QD erhielten, nahmen die Gesamtlymphozytenzahlen bis maximal -10%, die CD4+-T-Zellen bis ca. -0,7% und die CD8 Zellen bis -8% ab und erreichten zwischen Wochen 48 und 72 den niedrigsten Wert. Dann trat eine Stabilisierung der Werte auf. Bei Patienten, die die Medikation wechselten oder beendeten wurde eine Reversibilität des Effekts berichtet.
Die Auswertung der Daten aus den bisherigen klinischen ISL-Programmen deuten darauf hin, dass die Abnahme der mittleren Gesamtlymphozytenzahl und der Anzahl der Lymphozytenuntergruppen von der ISL-Dosis abhängig ist, wobei niedrigere Dosen weniger wahrscheinlich zu Abnahmen führen. Es wird nun also eine neue Fixdosis von DOR/ISL mit 100 mg/0,25 mg vorgeschlagen. Dies wird aus der post-hoc Auswertung der Dosisfindungsstudie gestützt.
Kommentar Prof. Dr. med. Johannes Bogner, München
Prof. Dr. med. Johannes Bogner Klinik und Poliklinik IV Klinikum der Universität München
Unser Studienzentrum nimmt an zwei Studien teil, in denen Islatravir eingesetzt wird. Wir haben also seit etwa zwei Jahren Erfahrung mit der Substanz. Da es sich bei beiden Studien um doppelblinde randomisierte Studien handelt, wussten wir nicht, welche unserer Patienten mit Islatravir behandelt wurden. Bei einem Fall kam es zum Studienabbruch wegen eines Rückgangs der Lymphozytenzahl. Nach der Entblindung stellte sich jedoch heraus, dass es sich um das Vergleichspräparat handelte.
Angenommener Anstieg der CD4-Zellen unter Islatravir 0,25 mg/d im Vergleich zur Standard-ARTVargo R et al., Glasgow
Bislang liefen beide Studien aus meiner Sicht gut und erfolgreich. Die subjektive Verträglichkeit wie auch die Wirkung auf die Viruslast schätze ich als günstig ein. Das Therapieziel der nicht nachweisbaren Viruslast wurde erreicht.
Der lange Atem des Sponsors und die Gründlichkeit im Umgang mit der Warnmeldung ist bewundernswert und wurde nun belohnt: Das Entwicklungsprogramm von ISL kann mit einer niedrigeren Dosis fortgesetzt werden. Die ursprüngliche Angst, dass es zu einem vorzeitigen Ende der Entwicklung dieses wichtigen Medikaments kommen könnte, ist nun zunächst behoben.
Als
Quintessenz könnte man nun darauf hinweisen, dass der Atem bei der
Beurteilung der Dosisfindungs-Daten umso länger sein muss, je
stärker ein hoch effektives Nukleosid intrazellulär akkumulieren
kann. Im
Interesse aller Patient*innen, die zukünftig zu
therapieren sind, ist es sehr zu begrüßen, dass die ISL-Entwicklung
nun weitergeht.