Sonderausgabe WeltAIDS-Tag 2007
PROF. DR. MARTIN DANNECKER, BERLIN
HIV-Prävention in der Krise?
Seit geraumer Zeit wird landauf, landab eine Krise der einst so erfolgreichen HIV-Prävention beschworen. Grund dafür ist die zunehmende Zahl von Neuinfektionen und der bewusste Verzicht auf das Kondom bei homosexuellen Männern. Diese Phänomene müssen vorurteilsfrei analysiert und diskutiert werden. Eine Prävention, die zur Diktatur der Gesundheit und normativer Vorstellungen der sexuellen Lebensführung wird, ist inhuman.
Immer dann, wenn das RKI (Robert Koch-Institut) den Halbjahresbericht mit den Daten zu den neu diagnostizierten HIV-Infektionen vorlegt, wird eine zunehmende Sorglosigkeit vor allem der homosexuellen Männer behauptet. Homosexuelle Männer sind nämlich deutlich häufiger betroffen als andere Gruppen. Die Neuinfektionen sind aber keineswegs identisch mit "frischen" Infektionen, das heißt mit Infektionen, die während des Berichtszeitraums neu erworben wurden. Ein nicht unerheblicher Teil der gemeldeten Neuinfektionen wurde bereits lange vor der Meldung erworben. Infektionszeitpunkt und Diagnose der HIV-Infektion können zeitlich weit auseinander liegen.
MEHR TESTS = MEHR DIAGNOSEN
Beeinflusst wird die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen auch vom Testverhalten. Lässt sich ein höherer Anteil von homo- sexuellen Männern testen, unter denen die HIV-Prävalenz je nach Region zwischen 4 und 16% liegt, steigt die Zahl der diagnostizierten Neuinfektionen. Eine kürzlich publizierte Analyse von Daten in Großbritannien konnte dann auch zeigen, dass der Anstieg der Neuinfektionen bei MSM eher auf einen Anstieg der HIV-Testung zurückgeht als auf eine steigende Inzidenz (Dougan et al. 2007).
Solche Differenzierungen werden in den epidemiologischen Bulletins des RKI zwar regelmäßig gemacht, zur Kenntnis genommen werden sie aber nicht. Stattdessen werden die Meldungen des RKI dramatisiert und es wird der Eindruck erweckt, als ob homosexuellen Männern der Erhalt ihrer Gesundheit gleichgültig wäre.
MEIST MIT KONDOM
Schon ein flüchtiger Blick auf die Studien zum Präventionsverhalten belegt, dass von einer tiefgehenden Krise der Prävention nicht die Rede sein kann. Auch gegenwärtig benutzt die große Mehrzahl der homosexuellen Männer bei infektionsrelevanten sexuellen Kontakten ein Kondom, obzwar sie sich schon lange eine Sexualität wünschen, in der das Kondom nicht ins Spiel gebracht werden muss (Schmidt at al. 2007). Das heißt freilich nicht, dass homosexuelle Männer durchgängig ein Kondom benutzen. Sie tun das nicht einmal durchgängig bei dem als hoch riskant geltenden Analverkehr. Der Analverkehr gilt aus gutem Grund als hoch riskant, dennoch ist nicht jeder ungeschützte sexuelle Kontakt dieser Art infektionsrelevant. Infizieren kann man sich nämlich nur, wenn man nicht infiziert ist und ungeschützten sexuellen Kontakt mit jemandem hat, der HIV-positiv ist. Das ist zwar trivial, doch sollte man daran denken, wenn ein rückläufiger Kondomgebrauch beim Analverkehr umstandslos als ein Zeichen der Krise der HIV-Prävention gewertet wird.
FEHLERQUOTE STEIGT MIT DER ZEIT
Sicherheit ist Illusion
Das Stichwort für den Wunsch, Sex ohne Kondom und ohne ein relevantes Risiko zu haben, lautet Sero-Sorting. Verstanden wird darunter das Ausloten des Serostatus der jeweiligen Sexualpartner. Diese Technik zum Vermeiden einer HIV-Infektion ohne Kondom hat sich unter homosexuellen Männern in den vergangenen Jahren immer weiter ausgebreitet. Fraglos hat diese Technik ihre Schwächen, weil man über den Serostatus getäuscht werden kann oder sich täuschen lässt. Täuschungen dieser Art ereignen sich wohl besonders häufig mit jenen, die noch nie einen HIV-Test gemacht haben oder deren letzter negativer Test lange zurückliegt und die gleichwohl von sich glauben, nicht HIV-positiv zu sein. Dem Sero-Sorting und allen Techniken zum Vermeiden einer HIV-Infektion, die unter dem Label "Negotiated Safety" firmieren, worunter eine kommunikativ ausgehandelte Sicherheit verstanden wird, ist mit einem Risiko behaftet, das durch die Häufigkeit und den Zeitraum ihrer Praktizierung kumuliert. Selbst wenn die Übertragungswahrscheinlichkeit einer HIV-Infektion bei einem einzelnen sexuellen Kontakt, bei dem man über den Serostatus eines Sexualpartners getäuscht wurde, nicht sehr hoch ist, wiederholte Täuschungen erhöhen das Infektionsrisiko beträchtlich.
Das Infektionsrisiko kumuliert allerdings auch bei anderen Präventionstechniken, z.B. dem Kondom, mit der Dauer der Anwendung. Das ist unter anderem deswegen so, weil die Wahrscheinlichkeit von "Anwendungsfehlern" mit der Zeit zunimmt.
BAREBACKING UND SPERMA
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In einem Kollektiv mit einer relativ hohen HIV-Prävalenz wird es somit trotz aller Versuche, eine HIV- Infektion zu vermeiden, nolens volens ungewollt zu Neuinfektionen kommen. Unterstellt wird häufig freilich das Gegenteil. Das hat mit dem Phänomen "Barebacking" zu tun, das zum Skandalon schwuler Sexualität geworden ist und Wasser auf die Mühlen jener liefert, die Schwule mit repressiven Maßnahmen zur präventiven Räson bringen möchten. Worum handelt es sich denn bei der Sexualität, die unter den Ausdruck Barebacking subsumiert wird? Barebacking wird mittlerweile vielfach als Synonym für "ungeschützter Analverkehr" gebraucht. Es gibt allerdings zwischen dem ungeschützten Analverkehr im Kontext des organisierten Barebacking und Barebacking in anderen Zusammenhängen für die Prävention bedeutsame Differenzen. Barebacking ist vor allem durch die hohe psychische Besetzung von im Körper deponiertem Sperma charakterisiert. Es sind nicht bloße Widerstände gegen das Kondom, die bei diesem Phänomen ihre Dynamik entfalten, sondern es ist, wie die entsprechenden Internetseiten zeigen, die von der Prävention zu Recht als gefährlich eingestufte Körperflüssigkeit, die beim Barebacking triumphierend in Szene gesetzt wird. Unter Barebackern hat Sperma eine ähnliche Bedeutung wie im Pornofilm, wo das sichtbar auf dem Körper hinterlassene Sperma dafür steht, dass der dargestellte Sex auch real war. Real scheint die Sexualität für Barebacker nur dann zu sein, wenn das Sperma eben dort deponiert wird, wo es nach den Regeln der Prävention nicht deponiert werden sollte: im Anus und im Mund.
PERVERSION DURCH TABU?
Wenn das so ist, dann geht der besondere Kick, der angeblich mit dem Barebacking verbunden ist, auf die negative Akzentuierung des Spermas durch die Aids-Prävention zurück. Der scheinbar über die Infektionsrisiken triumphierende Barebacker ist von dem abgelieferten oder aufgenommenen Sperma und, vermittelt darüber, von der Infektionsgefahr freilich psychisch in höchstem Maße abhängig. Ob es beim Barebacking um bewusst in Kauf genommene reale Infektionsrisiken geht, ist zweifelhaft. Phantasien, sich infizieren zu lassen oder jemanden zu infizieren, spielen beim Barebacking sicherlich aber eine bedeutende Rolle. Insofern kann Barebacking in dieser Form auch als eine moderne Variante perverser Sexualität bezeichnet werden, in deren Zentrum Phantasien von Macht/Ohnmacht und Vernichtung stehen. Barebacking dürfte allerdings keinen herausragenden Einfluss auf die zunehmende Zahl der Neuinfektionen bei homosexuellen Männern haben. Wahrscheinlich sind viele der schwulen Männer, die in das organisierte Barebacking involviert sind, bereits positiv gewesen, bevor sie sich am Barebacking beteiligt haben.
BIOMEDIZINISCHE LÖSUNGEN
Moralisch bedenklich - Therapie zum Schutz von Anderen
Bis zur Einführung der medikamentösen Kombinationstherapie hatte der HIV-Test keine positive Wirkung auf die Prävention, selbst wenn der so häufig irrende "gesunde Menschenverstand" immer das Gegenteil behauptete. Positiv getestete HIV-Infizierte verhielten sich damals keineswegs "safer" als negativ oder nicht getestete homosexuelle Männer. Inzwischen deutet aber einiges darauf hin, dass das Übertragungsrisiko unter HAART deutlich sinkt. Dadurch erhält auch der HIV-Test eine potenziell präventive Bedeutung. Wenn sich die Auswirkung der HAART auf das Übertragungsrisiko bei homosexuellen Kontakten (die sexuell und damit auch physiologisch etwas anders gelagert sind als bei heterosexuellen Kontakten) bestätigt, dann tut sich eine neue Dimension des Sero-Sortings auf. So paradox es klingen mag: Ein behandelter HIV-Infizierter könnte für jene, die Schwierigkeiten mit dem Gebrauch des Kondoms haben, deshalb zu einem begehrenswerten Partner werden, weil man mit ihm ohne größere Bedenken ungeschützten Sex haben kann. Das käme einer Umschreibung von HIV-Positiven gleich, von denen sich die Negativen bislang mehr oder weniger verhohlen sexuell distanziert haben.
HUMANE PRÄVENTION IST GEFRAGT!
Der positive Effekt der erfolgreichen Behandlung mit Kombinationstherapien auf die Prävention wirft aber viel wichtigere Fragen auf. Ist es gerechtfertigt, wegen dieses Effekts früher mit der Behandlung zu beginnen als es für den Verlauf der HIV-Infektion notwendig wäre? Welche Nebenwirkungen werden in Kauf genommen, um auf ein Kondom verzichten zu können? Die Entscheidung darüber kann selbstverständlich nicht den Ärzten allein überlassen werden, sondern muss sich am Wunsch und am Leiden, aber auch an den Glücksvorstellungen der Patienten orientieren. Human ist Prävention dann, wenn sie sich als ein Mittel zum Zweck der Verhütung von Leiden begreift. Das gilt sowohl für die biomedizinische Prävention als auch für die zu Recht nach wie vor als Goldstandard geltende herkömmliche HIV-Prävention. Ihre humane Orientierung büßt die Prävention gleich welcher Art ein, wenn sie zu einer Diktatur der Gesundheit und normativer Vorstellungen der sexuellen Lebensführung wird. Das wäre bereits dann der Fall, wenn aus präventiven Überlegungen heraus gegen den ausdrücklichen Willen von Patienten mit einer frühzeitigen HAART begonnen würde.
Prof. Dr. Martin Dannecker
E-Mail: hansmart2@t-online.de
Literature
Dougan S., Elford J. et al.: Does the recent increase in HIV diagnoses among men who have sex with men in the United Kingdrom reflect a rise in HIV incidence or increased uptake of HIV testing? Sexually Transmitted Infections 2007, 83(2): 120-125
Schmidt, A J, Grote, St, Bochow, M: Results of a follow up survey on HIV risk reduction and risk taking among men who have sex with man in Germany. Poster EACS 2007