Kompetenznetz
HIV/AIDS
Für und Wider einer Therapie "nach Gefühl"
Unter dem Motto "Den Dialog ermöglichen - den Mut haben, ihn zu führen!" realisierten das Kompetenznetz HIV/AIDS, die AIDS-Hilfe NRW und die Deutsche AIDS-Gesellschaft am 11. Oktober in Bochum ein neues Tagungskonzept mit acht thematischen Kontroversen. Eine davon behandelte die Frage, ob evidenzbasierte und individualisierte Therapie im Widerspruch zueinander stehen.
Zu manchen Aspekten der HIV-Infektion gibt es keine wissenschaftliche Evidenz für ein diagnostisches Vorgehen oder eine bestimmte Therapie, weil sich kein Geldgeber findet, der die entsprechenden Studien finanzieren würde. Da der überwiegende Teil der klinischen Forschung in Deutschland von der Pharmaindustrie - und nicht über öffentliche Gelder - finanziert wird, steuern die Unternehmen die medizinischen Fragestellungen. Zeigt die Industrie kein Interesse, fehlt also klinische Evidenz. So gibt es im Bereich der HIV-Infektion große Graubereiche bis hin zu "blinden Flecken", zum Beispiel auf dem Gebiet der Langzeiteffekte der HIV-Infektion und der antiretroviralen Medikamente auf das Gehirn.
Wie lassen sich Studien auf dem Gebiet der HIV-Infektion realisieren, die für die Versorgung von Patienten große Relevanz haben, für die derzeitigen Geldgeber aber nicht von Interesse sind? Reichen Plausibilitäten und Erfahrungen an wenigen Patienten als Begründung für eine bestimmte Verordnung im Einzelfall? Für Prof. Dr. med. Gabriele Arendt, Oberärztin an der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Düsseldorf lässt sich die letzte Frage eindeutig mit "ja" beantworten und sie machte dies am Beispiel ihres Fachgebietes deutlich.
KEIN INTERESSE AN ZNS-FORSCHUNG?
Vor der Ära der hochaktiven antiretroviralen Therapie (HAART) entwickelte die Hälfte der HIV-Infizierten milde oder deutliche Einschränkungen bei Steuerung von Bewegungen, der intellektuellen Leistungsfähigkeit bis hin zur Demenz. Mit Einführung der HAART wurde das Krankheitsbild deutlich seltener; seit einigen Jahren aber steigen die Zahlen weltweit wieder an. "An der Universitätsklinik Düsseldorf beobachten wir seit dem Jahr 2002 eine starke Zunahme der Häufigkeit leichter bis mittelschwerer neurokognitiver Defizite bei Patienten", berichtete Gabriele Arendt: von etwa fünf Prozent im Jahr 2002 sei der Anteil auf circa 35 Prozent im Jahr 2007 gestiegen. Betroffen vom Gestaltwandel der Symptome seien dabei häufig auch Patienten, die medikamentös gut behandelt würden.
Für entsprechende Studien habe sie etliche Anträge auf staatliche Förderung gestellt, von denen letztlich keiner bewilligt worden sei, sagte Arendt. "Wenn wir unsere Aufgabe der individualisierten Therapie ernst nehmen, also für jeden Patienten das optimale Therapieregime zu wählen, benötigen wir eine individualisierte Diagnostik." Auch müsse untersucht werden, welche Medikamente die Entwicklung von Hirnerkrankungen verhindern oder aufhalten könnten. Bislang bleibe Ärzten nur die Möglichkeit, die HIV-Therapie "nach Gefühl" anzupassen.
EVIDENZ UNABDINGBAR
Mit einer Therapie "nach Gefühl" habe er ein Problem, konterte Prof. Dr. med. Peter Sawicki, seit September 2004 Leiter des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln. Er könne das Bedürfnis zwar verstehen, aber nicht gutheißen. Verschiedene Ärzte könnten unterschiedliche Gefühle haben. Es bedürfe einer externen Evidenz. Zugleich bestätigte Sawicki, dass es einen erheblichen Mangel gebe an Forschungsgeldern für klinische Fragestellungen, wie sie Arendt beschreibe. Eine Lösung des Problems könne darin bestehen, dass künftig ein Prozent des Geldes aus dem Gesundheitsfonds in die klinische Forschung fließe, das seien circa 1,6 Milliarden Euro.
FÜR PHARMA-UNABHÄNGIGE FORSCHUNG
In der Diskussion wurde Einigkeit deutlich, dass bestimmte Formen der Forschungsförderung im Bereich HIV Auftrag des öffentlichen Gesundheitsversorgungssystems sei. Es könne aber als ungerecht empfunden werden, dazu nur auf die gesetzlich Krankenversicherten zurückzugreifen, weil die Ergebnisse allen Kranken, auch den privat Versicherten, zugute kämen. Einen moralischen Anspruch an Pharmaunternehmen, Forschung ohne Erwartung eines Gewinns zu fördern, könne es nicht geben, weil dies dem primären Auftrag eines Unternehmens widerspreche.
Die Pharmaunternehmen könnten sekundär eingebunden werden, indem sie verpflichtet würden, in einen Forschungsfonds einzuzahlen. Eine pharmaunabhängige Forschung biete auch große Chancen, weil sie zwar ergebnisgetrieben, aber nicht von Unternehmensinteressen geleitet sei.
Das Kompetenznetz HIV/AIDS sei auch künftig ein wichtiger Ansprechpartner für Studien.