JES-NETZWERK
Selbsthilfe und
Interessenvertretung von DrogengebraucherInnen, Ehemaligen und Substituierten
JES (Junkies, Ehemalige, Substituierte) - das bundesweite Drogenselbsthilfenetzwerk begeht in diesem Jahr sein 20-jähriges Jubiläum. Grund genug um die Ideen, Haltungen, Ziele und Strukturen dieses einzigartigen Zusammenschlusses von aktiven Drogengebrauchern, Substituierten und ehemaligen Konsumenten näher zu betrachten.
DIE ANFÄNGE
Poster als Teil einer Kampagne zur Werbung neuer Mitglieder
Als sich in der zweiten Hälfte der 80ger Jahre abzeichnete, dass sich HIV nicht nur unter schwulen Männern verbreitete, sondern auch in den Szenen intravenös Drogen gebrauchender Menschen vorkam, galt es für die Deutsche AIDS-Hilfe, ihre Präventionsarbeit auf der Basis von Lebensstilakzeptanz und Unterstützung zur Selbsthilfe für diese Zielgruppe zu erweitern.
Im Rahmen eines Seminars der Deutschen AIDS-Hilfe im Jahr 1989 in Hamburg gründete sich schließlich ein Bündnis von Junkies, Ehemaligen und Substituierten - kurz JES.
Fortan sprachen DrogengebraucherInnen, die von HIV/AIDS bedroht oder betroffen waren, mit eigener Stimme und beteiligten sich am Prozess der Erarbeitung eines neuen akzeptierenden und niedrigschwelligen Ansatzes in der Drogen- und Aids-Arbeit.
Die Leitidee des Netzwerks zielt darauf ab, gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, in denen Menschen auch mit Drogen menschenwürdig, d.h. ohne die Bedrohung durch Strafverfolgung, Ausgrenzung und Stigmatisierung leben können.
Mit seiner Arbeit unterstützt JES DrogenkonsumentInnen, indem es auf entsprechende Rahmenbedingungen hinwirkt, Wissen vermittelt, dazu motiviert Fähigkeiten und Kompetenzen zu entwickeln, um fremd- und selbstzerstörerischen Drogengebrauch zu vermeiden (Safer Use). JES akzeptiert nicht nur jene Menschen, die selbstbestimmt darüber entscheiden wollen, welche Drogen sie konsumieren, sondern unterstützt selbstverständlich auch DrogenkonsumentInnen auf dem Weg zur Abstinenz.
DIE ENTWICKLUNG ZU EINEM BUNDESWEITEN NETZWERK
Mit der Gründung von immer mehr JES-Gruppen und Junkiebünden im gesamten Bundesgebiet kam die Funktion der JES-Gruppen als soziales Netzwerk in ihren Regionen immer stärker zum Tragen.
SAFER USE-Broschüre in Zusammenarbeit mit der Deutschen AIDS-Hilfe
In JES-Gruppen finden sich Menschen, die gleiche Erfahrungen gesammelt und ähnliche Schicksale erlebt haben. Deshalb ist JES die Gruppe als soziale Gemeinschaft wichtig, in der sich der/die Einzelne verstanden, sicher und wohl fühlen kann. Dort werden Kontakte aufgebaut, Erfahrungsaustausch entwickelt und neue soziale Beziehungen gepflegt. In JES-Gruppen lassen sich Zuwendung und Anerkennung und damit die oft fehlende soziale Unterstützung bei der Bewältigung von Lebensaufgaben und -krisen erschließen, die andere soziale Zusammenhänge vielfach vorenthalten.
Das Engagement in den regionalen JES-Gruppen vermittelt zugleich wesentliche Impulse für die Arbeit für die Verwirklichung persönlicher Werte. Dazu gehören u.a. die Entwicklung von Selbstwertgefühl, das Erfahren von Lebensfreude und Emanzipation.
DROGEN- UND GESUNDHEITSPOLITIK - IM MITTELPUNKT DER JES-ARBEIT
Die Arbeit im JES-Netzwerk wollte sich nicht allein darauf beschränken, dem/der Einzelnen Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Als KonsumentInnen illegalisierter Drogen sind die Mitglieder täglich damit konfrontiert, dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen ein menschenwürdiges Leben mit Drogen verhindern oder erschweren. Mit der Arbeit im JES-Netzwerk streben sie daher auch gesellschaftliche Veränderungen an.
Dies betrifft vor allem Veränderungen in den gegenwärtigen Gesetzen. Durch diese sind DrogengebraucherInnen einem steigenden Verfolgungsdruck ausgesetzt: Geprägt vom Schwarzmarkt mit schlechter und unklarer Stoffqualität, unsicherer Versorgung, Überteuerung und seinem kriminellen Gefüge werden Haftaufenthalte zu einer prägenden Lebenserfahrung für viele DrogenkonsumentInnen. Als von diesen drogenpolitischen Missständen unmittelbar Betroffene haben sie das Recht, sich konsequent für eine Neuordnung der Drogenpolitik einzusetzen.
JES ALS LEISTUNGSANBIETER UND TEIL DES HILFESYSTEMS
In seinem Selbstverständnis geht JES davon aus, dass Selbsthilfe und professionelle Dienstleistungserbringung sehr unterschiedliche Grundlagen haben und von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Die besondere Stärke von JES liegt im spezifischen Zugang zu den Hilfesuchenden und ihren Problemen. Über die Entwicklung und Stärkung informeller Netzwerke wurden neue und qualitativ andere als dem professionellen Hilfesystem zugängliche Potentiale erschlossen. JES schaffte es so zugleich, Betroffene auf andere Weise zu aktivieren und damit bisher kaum genutzte Kompetenzen und Ressourcen zu stärken und zu festigen.
JES-Arbeit zeichnet nicht zuletzt die Kombination von Selbsthilfeansätzen und erworbener fachlicher Beratung aus. Sie fördert auf besondere Weise innovative Impulse in der Entwicklung von Hilfe und Unterstützung. Folgerichtig fördert und verknüpft die Deutsche AIDS-Hilfe seit nunmehr 20 Jahren die Selbsthilfe von Betroffenen mit Angeboten von Aids- und Drogenhilfe zum gegenseitigen Vorteil.
DIE STRUKTUR DES JES-NETZWERKS
Die Arbeit bei JES wird im Rahmen eines bundesweiten Netzwerks geleistet, das verschiedene Ebenen hat. Jede dieser Ebenen weist eine spezifische Organisationsform mit schwerpunktmäßig anderen Aktivitäten und Angeboten auf:
Das Magazin des JES-Netzwerks: DROGENKURIER
- Gruppen, die sich vor Ort in den Städten und Gemeinden für die Interessen Drogen gebrauchender Menschen engagieren und zum Teil praktische Unterstützungs- und Überlebenshilfen anbieten;
- regionale Verbünde, zu denen sich die einzelnen Gruppen angesichts geografischer Nähe zusammengeschlossen haben, um gegenseitig Erfahrungen auszutauschen, sich solidarisch zu unterstützen und gemeinsam Mitsprache- und Mitentscheidungsansprüche gegenüber dem Hilfesystem und den politisch Verantwortlichen in ihren Regionen zu vertreten;
- die Bundesebene des Netzwerks; hier werden die Erfahrungen, Probleme und Forderungen aus den verschiedenen Regionen zusammengeführt, der bundesweite Meinungsbildungsprozess zu gesellschaftspolitischen Entwicklungen realisiert; hier werden bundesweite Aktionen, Veranstaltungen, Weiterbildungsangebote usw. organisiert und offensiv Partizipationsansprüche gegenüber den drogen- und sozialpolitischen Fachverbänden und den PolitikerInnen auf der Bundesebene vertreten.
Die Netzwerkstruktur ist so angelegt, dass die einzelnen JES-Gruppen, Vereine und regionalen Verbünde weitgehend autonom arbeiten können.
SCHNELLER, HÖHER, WEITER?
Bei allem Engagement der einzelnen Mitglieder wäre es nicht korrekt, die Arbeit von JES als ein kontinuierlich wachsendes bundesweites Netzwerk zu beschreiben. Vielmehr hat das Netzwerk in den letzten Jahren Wachstumssprünge, Phasen rasanter Entwicklung und Stabilisierung genauso erlebt wie Stagnation, Brüche und Instabilität. Das ansonsten in der Gesellschaft angestrebte Prinzip "weiter, höher, schneller" trifft für die Entwicklung des bundesweiten JES-Netzwerks nicht zu. Dies hat sehr unterschiedliche Gründe, die nicht nur in den Kräften und in der Motivation der einzelnen Mitglieder, sondern auch in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Arbeit zu suchen sind.
Spielend leicht - HIV/HEP Prävention
Erfahrungen aus der vor Ort Arbeit zeigen, dass es in der Arbeit mit Drogen gebrauchenden Menschen immer wieder neuer Anreize bedarf, um das Bewusstsein für das Thema Gesundheit, HIV und Hepatitis zu erhalten, respektive zu erhöhen.
Gefördert durch BzGA und in Zusammenarbeit mit dem JES-Netzwerk wurde ein Brettspiel für Drogen konsumierende Frauen und Männer realisiert, das der Kategorie "Gesellschaftsspiel" zugeordnet werden kann.
Mit dem Präventionsspiel "Asphaltdschungel" soll die Bereitschaft erhöht werden, eigenes Verhalten zu reflektieren. Ferner gilt es, Wissensdefizite z.B. in Bezug auf Substanzwirkung und Infektionsrisiken zu minimieren und soziale und gesundheitliche Folgen des Drogenkonsums in "spielerischer" Form zu erfassen.
Der Charakter des Präventionsspiels wird dadurch bestimmt, dass während des Spielverlaufs Fragen z.B. zu den Themen "Übertragungswege von HIV und Hepatitis", "Safer Sex" und "Hygiene" beantwortet werden müssen, um schneller zum Ziel vorzurücken.
Ziel des Spiels ist es also, Informationen rund um die Themen Drogen, HIV und Hepatitis zu erhalten und Impulse zu setzen den eigenen Lebenshintergrund (z.B. Arztbesuche, Behördengänge) zu strukturieren.
Auf die Einbindung taktischer Fähigkeiten der Mitspieler in den Spielverlauf wird verzichtet, um die Konzentration auf inhaltliche Fragen zu lenken.
Neben der Vermittlung von Wissen hat diese neue Methode der Prävention zudem eine nicht zu unterschätzende soziale Komponente. Drogenkonsumenten nutzen einen Teil ihrer Zeit im Kontaktladen, um miteinander zu spielen und ins Gespräch zu kommen.
Mehr zum Spiel "Asphaltdschungel", das vorrangig in Kontakt- und Cafébereichen niedrigschwelliger Einrichtungen zum Einsatz kommt, erhalten Sie bei der Deutschen AIDS-Hilfe.
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Unterbewertung der JES-Arbeit durch weite Teile der Gesellschaft
Trotz der Leistungen, die das JES-Netzwerk in den letzten Jahren in die Prävention und Gesundheitsförderung für DrogenkonsumentInnen eingebracht hat, wird das selbstbewusste Engagement für ein "menschenwürdiges Leben mit Drogen" in der Gesellschaft nach wie vor falsch verstanden. JES-Mitglieder wurden und werden als "Unbelehrbare" und "maßlose Ansprüche Stellende" stigmatisiert. In einem solchen Klima entstehen kaum hilfreiche Impulse, die für die Mitarbeit bei JES motivieren. Vielmehr braucht es bereits ein gehöriges Maß an Selbstbewusstsein, wenn sich einzelne für die Mitarbeit bei JES entscheiden.
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Kosten der JES-Arbeit müssen immer noch privat getragen werden
Die Benachteiligung von JES bei der Vergabe öffentlicher Gelder birgt die Gefahr in sich, dass für eine solide Tätigkeit der JES-Gruppen und des JES- Netzwerks - zusätzlich zur eingebrachten unbezahlten Arbeit - auch die anfallenden Kosten (z.B. für Kopien, Telefonate, Korrespondenz) privat finanziert werden müssen. In der Konsequenz bedeutet die reservierte Haltung gegenüber der Drogenselbsthilfearbeit, dass die Kosten gesellschaftlich notwendiger und nützlicher JES-Arbeit privat zu tragen sind - insofern steht die Arbeit der JES-Gruppen vielerorts auf wackeligen Beinen.
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Der schwierige Prozess der Entwicklung und Stabilisierung der Gruppenarbeit vor Ort
Das JES-Netzwerk ist mit einer großen Kluft zwischen der Bereitschaft illegalisierter DrogenkonsumentInnen und ihrem tatsächlichen Engagement in der JES-Arbeit konfrontiert. Die Gründe dafür sind sehr vielfältig:
Die Hürden, das Interesse an der JES-Arbeit in tatsächliches Engagement umzusetzen, ergeben sich auch aus den Schwierigkeiten der Frauen und Männer in ihren jeweiligen Lebensbezügen. Das Leben als aktiver Drogenkonsument lässt kaum Zeit und Kraft für zuverlässige und kontinuierliche Mitarbeit. Begründete Ängste, sich durch das JES-Engagement der Stigmatisierung auszusetzen, lassen manche DrogenkonsumentInnen sich gegen eine Mitarbeit entscheiden. Schließlich stehen dem Engagement bei JES auch die Bemühungen einzelner DrogenkonsumentInnen entgegen, sich von szeneorientierten Lebensbezügen und/oder dem drogenbezogenen Teil ihrer Biographie zu trennen und abzugrenzen.
Heute zählt das JES-Netzwerk dennoch etwa 25 Gruppen. Mit seinen gewählten Netzwerkstrukturen, der Zusammenarbeit von aktiven Konsumenten, Substituierten und Ehemaligen sowie der kontinuierlichen Arbeit über 20 Jahre, kommt dem bundesweiten JES-Netzwerk auch im europäischen Kontext eine Ausnahmestellung zu.
Trotz der hier beschriebenen schwierigen Rahmenbedingungen für ein Selbsthilfenetzwerk von DrogengebraucherInnen mit akzeptierender Ausrichtung, hat JES in den letzten 20 Jahren seine vielfältigen Potentiale vor allem in der HIV Prävention und Gesundheitsförderung immer wieder unter Beweis gestellt. JES ist so zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Drogen- und Aids-Arbeit in Deutschland geworden.
Wir gratulieren zum 20. Geburtstag!