Siegfried Schwarze, München
Das Kompetenznetz HIV/AIDS und die Politik Die Hoffnung stirbt zuletzt
In der Medizin sind Kohorten, also die Sammlung von Behandlungsdaten zu einer bestimmten Erkrankung über längere Zeit, ein unverzichtbares Mittel um Forschungshypothesen für klinische Studien aufzustellen. Im HIV-Bereich gibt es mehrere große Kohorten, darunter vor allem die schweizerische „Swiss Cohort“ mit mehr als 15.000 Patienten, aus der immer wieder hochrangige wissenschaftliche Veröffentlichungen gewonnen werden.
Bis vor einigen Jahren war Deutschland, was HIV-Kohorten anbelangte, Entwicklungsland. Zwar erfasste jedes größere Behandlungszentrum die Daten seiner Patienten mehr oder weniger systematisch, aber eine Zusammenarbeit oder gemeinsame Auswertung der Daten gab es immer nur kurzfristig und projektbezogen.
Industrieunabhängige Forschung
Unser Blut für Eure Forschung?
Dann kam die „Kompetenznetzinitiative“ der Bundesregierung. 2002 waren Kompetenznetze auf einmal die tollste Erfindung seit dem Plastikstrohhalm. Im Bereich HIV wurde das Kompetenznetz HIV/AIDS aus dem Boden gestampft und mit ihm eine Kohortendatenbank. Ein Grundgedanke beim Aufbau des Netzwerks war es, in Deutschland die industrieunabhängige Forschung zu fördern. Heraus kam eine weltweit ziemlich einmalige Struktur, in der sich die gesamte „HIV-Community“ aus niedergelassenen Ärzten, Klinikärzten, Grundlagenforschern, Sozialwissenschaftlern und Patientenvertretern wiederfindet. Damit schien auch eine erfolgreiche Eingliederung in internationale Projekte machbar.
Problem: Schnittstellen
Allerdings hatte Deutschland aufgrund der dezentralen Struktur seines Gesundheitswesens einen entscheidenden Wettbewerbsnachteil: Jede Praxis bzw. jede Klinik kann aus einem breiten Angebot verschiedener Software-Systeme auswählen, die praktisch alle zueinander inkompatibel sind. Nun gibt es zwar die Möglichkeit, entsprechende Datenschnittstellen zu schaffen, aber diese Programme sind sehr komplex und müssen zudem ständig angepasst werden – ging also nicht, da zu teuer. Einzige Alternative: Die Ärzte müssen alle Daten doppelt erfassen. Einmal für sich selbst, einmal für’s Kompetenznetz. Wie man sich leicht vorstellen kann, ist die Eingabe von Datensätzen mit über 100 Einzeldaten pro Patient schon bei wenigen Patienten ein solcher Aufwand, dass der Arzt diese Aufgabe an (zusätzliches) Personal delegieren muss. Und das kostet Geld. Im Jahr 2007 wurde die Kohorte dann von ihrem eigenen Erfolg eingeholt: Bei mehr als 16.000 Patienten war absehbar, dass das Geld, das vom Staat von Förderperiode zu Förderperiode spärlicher floss, nicht mehr ausreichen würde. Nicht zuletzt auf massiven Druck der fördernden Ministerien wurde die Kohorte schließlich auf etwa 8.000 Patienten verkleinert.
Ende der Förderung
Doch damit war das Problem der Finanzierung nicht gelöst, denn von Anfang an war klar, dass die Förderung durch den Staat am 31.08.2010 endgültig auslaufen würde. Dieser Zeitpunkt rückt immer näher und bis jetzt ist kein tragfähiges Konzept für die weitere Finanzierung des Kompetenznetz HIV/AIDS in Sicht. Vielfache Anstrengungen sind für die finanzielle Sicherstellung des Kompetenznetz HIV/AIDS unternommen worden, doch bisher trägt davon keine. So ist auch die Option, die Finanzierung durch eine Stiftung sicherzustellen, nur dann umzusetzen, wenn der Wille von allen Beteiligten und potentiell von den Daten und der Forschung des Kompetenznetzes Profitierenden besteht, dieses zu erhalten. Bisher besteht wenig Hoffnung, trotz vieler Gespräche die finanzielle Einlage von 50 Millionen Euro (auch befristet, wenn das Kompetenznetz nicht erfolgreich arbeitet), die als Stiftungskapital gebraucht würden, um mit den Kapitalerträgen die Kohorte am Laufen zu halten, zu realisieren. Momentan braucht der Staat jeden Cent um marode Banken zu sanieren und Wahlgeschenke zu finanzieren.
Briefaktion
Der Patientenbeirat und die Deutsche AIDS-Hilfe haben sich in einer Briefaktion an zahlreiche deutsche Politiker und Entscheidungsträger gewandt, mit der Bitte, das Kompetenznetz nicht einfach so sterben zu lassen. Immerhin hat es dem Steuerzahler bereits etwa 17 Millionen Euro gekostet. Und die Daten in der Datenbank sowie die eingefrorenen Blut- und Gewebeproben sind für die Forschung von unschätzbarem Wert. Anders als in anderen Studiendesigns muss eine Kohorte über eine Vielzahl von Jahren fortgeführt werden, um aussagekräftige Daten zu erhalten und diese sinnvoll analysieren und publizieren zu können. Das Kompetenznetz hat gerade aufwendig die Kohortendaten in ihrer Qualität aufgewertet. Erste Publikationen der Daten auf Kongressen und in Artikeln finden gerade statt, die Kohorte wird nach vergleichsweise kurzer Zeit sichtbar. Jetzt, wo die Kohorte anfängt, Früchte zu tragen, wäre es der unsinnigste Zeitpunkt, ihre Fortführung einzustellen.
Unter dem Dach des Robert Koch-Instituts?
In den Antwortschreiben (so denn überhaupt eine Antwort kam…) wurde angedeutet, dass die Kohorte unter der Aufsicht des Robert Koch-Instituts (RKI) fortgeführt werden könnte. Dies kann und darf aber keine Lösung sein, denn zum einen ist damit die Frage der Finanzierung immer noch offen (wenn man das nötige Geld dem RKI gibt, könnte man es auch gleich dem Kompetenznetz geben), zum anderen ist der Transfer hochsensibler Daten von 8.000 Patienten an die Bundesseuchenbehörde (nichts anderes ist das RKI) aus Datenschutzgründen nicht akzeptabel. Sollte dieses schlimmstmögliche Szenario eintreffen, würde der Patientenbeirat alle Patienten in der Kohorte dazu aufrufen, ihre Einwilligungserklärung zu widerrufen. Dann müssten die Daten gelöscht und die Blut- und Gewebeproben vernichtet werden.
Es gibt Alternativen
Doch glücklicherweise werden noch andere Alternativen erwogen. So könnte die Kohortendatenbank auch bei wissenschaftlichen Gesellschaften wie der Helmholtz-Gesellschaft oder bei den Fraunhofer-Instituten eine neue Heimat finden. Da in Deutschland Großforschungseinrichtungen im Rahmen der diversen „Eliteförderungen“ und „Exzellenzinitiativen“ immer noch vergleichsweise großzügig unterstützt werden, sind diese Gesellschaften finanziell recht komfortabel ausgestattet und könnten den Erhalt der Kohorte langfristig sicherstellen. Denkbar und aus Sicht des Patientenbeirats das „kleinste Übel“ wäre die Angliederung der Kohorte an eine solche oder eine vergleichbare Struktur, die es auch im Umfeld von Universitäten gibt. Die einfachste und billigste Lösung wäre es sicherlich, die aufgebauten Strukturen des Kompetenznetzes weiter zu nutzen.
Eines ist klar: Wenn wir das Kompetenznetz einfach so gegen die Wand fahren, verliert Deutschland auf lange Zeit die Chance, in der HIV-Forschung mit vorne dabei zu sein. Der Einsatz der Ärzte und Forscher und nicht zuletzt auch der Patienten wäre umsonst gewesen und HIV-Forschung wäre nur noch mit Mitteln der Pharmaindustrie möglich.
Soweit darf es nicht kommen!
Aktuelle Ergebnisse der nationalen HIV-Patientenkohorte
Das Durchschnittsalter in der Kohorte beträgt 45 Jahre, 28,1% der Patienten sind 50 Jahre oder älter. Damit stehen umfangreiche Daten auch zum Therapieverlauf älterer Patienten zur Verfügung, einem Forschungsfeld, das immer größere Bedeutung erlangt. Haupttherapieregime sind mit weitem Abstand vor allen anderen 1 PI + 2 NRTI (39,1%) sowie 1 NNRTI + 2 NRTI (36,2%).
Entsprechende Analysen zeigen, dass die Kohorte bezüglich zentraler Parameter als repräsentativ für in Deutschland behandelte Patienten angesehen werden kann. Sie deckt etwa ein Viertel der in Deutschland therapierten Patienten ab. Das Kompetenznetz hat in Zusammenarbeit mit seinen Mitgliedern als auch mit Pharmafirmen zahlreiche medizinische Fragestellungen formuliert, die mit Hilfe der Patientenkohorte beantwortet werden konnten, wie die folgenden Beispiele zeigen.
Late Presenters
Eine weitere Auswertung von Patientendaten aus dem Kompetenznetz beschäftigte sich mit der Frage, warum einige Menschen mit einer HIV-Infektion erst deutlich später mit einer Therapie beginnen als andere. In der Datenauswertung ging es darum festzustellen, ob Alter, Geschlecht, Herkunft und Infektionsrisiko einen Einfluss darauf haben, wie schnell eine HIV-Infektion diagnostiziert wird und wie schnell Menschen nach einer HIV-Diagnose mit einer Therapie beginnen. Für die Untersuchung wurden die Daten von 990 geeigneten Patienten ausgewertet. Je nachdem, in welchem Stadium der HIV-Infektion diese diagnostiziert wurde und wie schnell sie nach der Diagnose der HIV Infektion mit einer Therapie begonnen hatten, wurden sie in die Kategorien „late”, „medium” und „early” presenters („spät-”, „mittelfristig-” und „früh-Therapierte”) eingeteilt.
Zu den „early presenters” konnten annähernd drei viertel aller Teilnehmer gezählt werden, nahezu jeder fünfte begann mittelfristig mit der Therapie. Als Kriterium galt hier, wie hoch die Anzahl CD4-Zellen (T-Helferzellen) zum Zeitpunkt der HIV-Diagnose bzw. des Therapiebeginns war. Bei jedem zehnten Teilnehmer verminderte sich die Konzentration der T-Helferzellen auf einen Wert unter 200 Zellen pro Mikroliter, sie galten damit definitionsmäßig als „late presenter”. Alter, Geschlecht und Wohnort der Teilnehmer haben keinen signifikanten Einfluss darauf, wie schnell HIV-Infizierte mit einer Therapie beginnen. Ebenso spielten Einkommen, Bildungsniveau und die geografische Herkunft bei der Erhebung keine bedeutende Rolle – mit einer Ausnahme: Patienten aus Subsahara-Afrika beginnen tendenziell später mit der Therapie.
Eine weitere Fragestellung dieser Studie war, ob die Zugehörigkeit zu einer der Risikogruppen einen Einfluss darauf hat, wie schnell HIV-Infizierte zu einem Arzt gehen. Die Daten der Patientenkohorte zeigen, dass homosexuelle Männer in der Regel früher mit einer Therapie beginnen, Menschen aus Ländern mit einer hohen Infektionsrate gehen dagegen tendenziell erst später zum Arzt. Wenn Menschen erst spät von ihrer HIV-Infektion erfahren, beginnen sie dann jedenfalls schnell mit einer Therapie? Die Studie des Kompetenznetzes HIV/AIDS zeigt, dass dies nicht immer der Fall ist. Knapp ein Drittel aller „spät Diagnostizierter” („late-presenter“) begannen erst mehr als ein Jahr nach Bekanntwerden der HIV-Infektion mit der Behandlung. Vor allem drogen- und alkoholabhängige Menschen zögern den Beginn einer HIV-Therapie heraus: Je größer der Alkoholkonsum, desto größer ist statistisch gesehen der zeitliche Abstand zwischen HIV-Diagnose und Therapiebeginn. Zudem zeigten die Daten einen Zusammenhang zwischen Erwerbslosigkeit und verzögertem Behandlungsstart. Dieser tritt bei arbeitslosen Menschen tendenziell häufiger auf.
Begleiterkrankungen
HIV-infizierte Patienten werden dank moderner Therapieregime älter, nehmen über die Jahre eine Vielzahl von antiretroviralen Arzneimitteln ein und erkranken früher als Nicht-Infizierte an altersbedingten Erkrankungen. So liegen z.B. kardiovaskuläre Risikofaktoren (infolge Fettstoffwechselstörungen oder Rauchen) häufiger vor. Gleichzeitig treten Nebenwirkungen der Therapie oder an Begleiterkrankungen auf. In der analysierten Population hatte die Depression und depressive Verstimmungen mit zusammen 21,7% die höchste Prävalenz. Die hohe Bedeutung dieser Diagnose war unabhängig von Alter, CD4-Zellzahl, Status der antiretroviralen Therapie und dem Rauchverhalten. Weitere häufigere Diagnosen waren das Lipodystrophie-Syndrom (12,1%), Zustand nach Hepatitis B (9,9%), Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems (9,8%), Bluthochdruck (9,4%) und Hypercholesterinämie (7,8%).
HIV-Patienten in höherem Alter litten häufiger am Lipodystrophie-Syndrom, an Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems sowie an Bluthochdruck. Mit Ausnahme der chronischen Bronchitis unterschieden sich Raucher und Nichtraucher kaum in den Erkrankungen mit hohen Prävalenzen. Candida-Infektionen, genitale Feigwarzen sowie Analkarzinom wurden bei Patienten mit niedriger CD4-Zellzahl (<200) deutlich häufiger festgestellt als in den anderen Gruppen. Die Daten der Patientenkohorte zeigen für Männer eine zum Teil deutlich erhöhte Prävalenz für Karzinome, Nierenfunktionsstörungen, Koronare Herzkrankheit sowie gastrointestinale Erkrankungen; eine erniedrigte Prävalenz für virale Hepatitis, neurologische/psychiatrische Erkrankungen sowie metabolische Störungen. Geschlechtsunterschiede bestanden für Nierenerkrankungen und KHK (bei Männern häufiger), nicht für Einschränkungen der Leberfunktion und kardiovaskuläre Risiken.
Vergleich Praxis und Klinik
Die HIV-Behandlung in Deutschland findet, anders als in den meisten anderen Ländern, sowohl in Krankenhausambulanzen als auch bei privaten HIV-Schwerpunktpraxen statt. Das Kompetenznetz ist der häufig gestellten Frage nachgegangen, ob und wie sich diese beiden Versorgungsformen unterscheiden. Dabei wurden mehrere signifikante (p<0,01) Unterschiede in der Zusammensetzung der Patienten deutlich: in den Klinikambulanzen wurden mehr Frauen behandelt (18,0% vs. 13,3%), es gab dort weniger MSM (56,4% vs. 70,1%), aber einen fast doppelt so hohen Anteil von Personen aus einem HPL (7,6% vs. 4,2%) sowie deutlich mehr Patienten in CDC-Stadium C (31,5% vs. 22,8%). Bezüglich der Therapiestandards (Vergleiche: Therapiestatus der Patienten, Zeitpunkt zwischen erstem positiven HIV-Test und Start der Therapie, Verteilung der Therapieregime, Anteil von Therapiepausen, CD4-Zellzahl beim Start der Therapie) sowie der Behandlungsergebnisse (mittlerer CD4-Wert der behandelten Personen, Anteil von Patienten mit Viruslast unter der Nachweisgrenze) wurden nur minimale Unterschiede festgestellt. Unterschiede in der Zusammensetzung der Patienten beruhen möglicherweise auf unterschiedlichen Zugangsbedingungen zwischen den beiden Versorgungstypen. Das Ergebnis, dass Therapiestandards und -ergebnisse nicht differieren, ist für die Beratung von Patienten und deren Wahl einer behandelnden Einrichtung von hoher Bedeutung.
In welchem Ausmaß HIV-Patienten der Kohorte mit finanziellen Engpässen leben müssen hat die Auswertung einer Subpopulation von 2.045 Patienten ergeben. Danach verfügen 49% der Frauen und 38% der Männer über ein Haushaltsnettoeinkommen von weniger als 1.000 Euro im Monat. Patienten in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium hatten eine etwa doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit, ein Einkommen unter 1.000 € zu erzielen, als gesündere Patienten.
1Eur J Med Res 2009;12:323-31 2Eur J Med Res 2009;14: in press