Deutsche Leitlinie Diabetes mellitus Typ 2
Der Typ-2-Diabetes kann sich erstrecken von einer vorwiegenden Insulinresistenz mit relativem Insulinmangel bis zu einem vorwiegend sekretorischen Defekt mit Insulinresistenz. Er ist häufig assoziiert mit den anderen Problemen des sogenannten metabolischen Syndroms, d.h. Übergewicht, Hypertonie und Fettstoffwechselstörung.
Diagnose
Die Diagnose wird gestellt bei:
- klassischen Symptomen und einem Gelegenheits-Blutglukosewert von ≥200 mg/dl im venösen Plasma oder kapillärem Vollblut oder
- wiederholter Bestätigung einer Gelegenheits-Blutglukose ≥200 mg/dl oder besser Bestätigung durch eine Nüchternblutglukose ≥110 mg/dl im kapillären Vollblut bzw. ≥126 mg/dl im venösen Plasma oder
- OGTT-2-h-Wert im venösen Plasma oder kapillären Vollblut ≥200 mg/dl.
- Eine gestörte Glukosetoleranz ist definiert als:
- Blutglukose beim 2-h-Wert in der OGTT ≥140 mg/dl im venösen Plasma oder kapillären Vollblut bei Glukosewerten unterhalb der diagnostischen Kriterien für einen Diabetes mellitus.
- Von abnormer Nüchternglukose spricht man bei:
- Nüchternglukose von ≥100 mg/dl und <126 mg/dl im venösen Plasma oder
- ≥90 mg/dl und <110 mg/dl im kapillären Vollblut.
Bei allen neu diagnostizierten Diabetikern sollte das makrovaskuläre Gesamtrisiko, Nieren, Augen und Füße auf Begleiterkrankungen/Komplikationen untersucht sowie eine Depression ausgeschlossen werden (Tab. 1).
Makrovaskuläres Gesamtrisiko |
Blutdruck, Mikroalbuminurie-Screening, EKG, Gefäßstatus, Dopplersono- grafie, Untersuchung auf Hypertonie, Lipidstatus. |
Nierenkomplikationen |
Bei allen Diabetikern sollen bei Erstdiagnose und dann jährlich die
Urin-Albumin-Ausscheidung und das Serum-Kreatinin gemessen werden. |
Augen- komplikationen |
Alle Diabetiker sollen systematisch auf diabetische Retinopathie
untersucht werden, bei Typ-2-Diabetes ab dem Zeitpunkt der Erstdiagnose mindestens 1× pro Jahr. Im Rahmen von unsystematischen Screening-Untersuchungen soll die direkte Augenspiegel-Untersuchung nach medikamentöser Dilatation der Pupillen benutzt werden. |
Fußkomplikationen |
Untersuchung durch den Arzt und Anleitungen zur Selbstbeobachtung und
Fußpflege. |
Depression |
Alle Diabetiker sollen auf das Vorliegen einer Depression untersucht
werden und ggf. eine entsprechende Therapie erhalten. |
Tab. 1: Diagnostik auf Begleiterkrankungen/Komplikationen
Behandlung
Zu den nicht-pharmakologischen Interventionen gehören Schulung, Lebensstiländerung, Ernährungsumstellung und Bewegung. Bei der medikamentösen Therapie liegen klinische Endpunkt-Studien für Metformin, Glibenclamid, Insulin, Pioglitazon, Rosiglitazon und Gliclazid vor. Die Therapie mit oralen Antidiabetika führt im Mittel zu einer Senkung des HbA1c um 1%. Um den HbA1c-Zielwert zu erreichen, ist die frühe Kombination von zwei oralen Antidiabetika sinnvoll ebenso die Kombination von Insulin plus Metformin. Drei orale Antidiabetika sollten dagegen nur in besonderen Situationen eingesetzt. Falls das HbA1c -Ziel nicht erreicht ist, sollte die Therapie spätestens nach drei bis sechs Monaten angepasst werden (Abb. 1).
Abb. 1: Medikamentöse antihyperglykämische Therapie des Typ-2-Diabetes
Metformin
Als Mittel der Wahl gilt heute Metformin, was die hepatische Glukoneogenese hemmt und die Glukoseaufnahme in Fettgewebe und Muskulatur steigert. Vorteile der Substanz sind die geringe Hypoglykämiegefahr und der günstige Einfluss auf das Körpergewicht. Nebenwirkungen sind bei bis zu 20% der Patienten gastrointestinale Beschwerden. Dosierung: Start mit 1x 500 mg/d. Nach einer Woche 2x 500 mg/d. Nach weiteren sieben Tagen 2x 1.000 mg/d.
Alpha-Glukosidasehemmer
Alpha-Glukosidasehemmer inhibieren die Alpha-Glukosidasen im Dünndarm und damit die Spaltung von Disacchariden. Acarbose und Miglitol kann allein oder in Kombination mit einem anderen Antidiabetikum angewandt werden. Häufige Nebenwirkungen sind Blähungen und Diarrhoe. Dosierung: Initial 1x 50 mg/d. Steigerung auf 3x 50 mg/d, maximal 3x 100 mg/d.
Anfangsdosis | empfohlene Höchstdosis | |
---|---|---|
Glibenclamid | 1,75–3,5 mg | 10,5 mg |
Glibornurid | 12,5 mg | 75 mg |
Gliclazid | 40 mg | 240 mg |
Glimepirid | 1 mg | 6 mg |
Gliquidon | 15 mg | 120 mg |
Glisoxepid | 2-4 mg | 16 mg |
Tolbutamid | 0,5–1 g | 2 g |
Tab. 2: Empfohlene Tagesdosen für eine Therapie mit Sulfonylharnstoffpräparaten
Sulfonylharnstoffe
Diese Substanzen steigern die endogene Insulinsekretion. Häufige Nebenwirkungen sind Gewichtszunahme und Hypoglykämien, insbesondere bei langwirksamen Substanzen wie Glibenclamid und bei eingeschränkter Nierenfunktion. Bei Sekundärversagen einer Therapie mit einem Sulfonylharnstoff oder -analogon sollte diese Substanzgruppe nicht mehr zur Anwendung kommen. Dosierung siehe Tabelle 2.
Glinide
Im Gegensatz zu den Sulfonylharnstoffen führen Glinide zu einer kurzzeitigen Stimulation der Insulinsekretion. Die Kombination von Gliniden mit Sulfonylharnstoffen ist nicht sinnvoll. Nateglinide und Repaglinide sind zur Kombination mit Metformin zugelassen. Nebenwirkungen sind gastrointestinale Störungen und Hypoglykämien. Dosierung: Nateglinide 3x 60 bis 3x 120 mg, Repaglinide 3x 0,5 bis 3x 2 mg jeweils zu den Hauptmahlzeiten.
Glitazone
Die Thiazolidindione vermindern die Insulinresistenz in Fettgewebe, Muskulatur und Leber. Unerwünschte Wirkungen sind insbesondere Gewichtszunahme sowie Ödeme. Glitazone können eingesetzt werden in Kombination mit Metformin, wenn das Therapieziel nicht erreicht wird. Als Monotherapie sowie in Kombination mit Sulfonylharnstoffen oder in Kombination mit Insulin sind sie nur bei Unverträglichkeit/Kontraindikation von/für Metformin indiziert. Eine weitere Einsatzmöglichkeit besteht bei Patienten, bei denen Metformin plus Sulfonylharnstoff nicht zum Ziel führt, eine Insulintherapie aber aus beruflichen Gründen nicht möglich ist. Dosierung: Rosiglitazon initial 4 mg morgens, Steigerung nach acht Wochen auf 8 mg/d. Pioglitazon: Initial 15 mg/d. Steigerung nach acht Wochen auf 30 mg bzw. 45 mg/d.
DPP-4 Inhibitoren
Diese Substanzgruppe hemmt das Enzym Dipeptidyl-Peptidase 4 (DPP-4), ein Schlüsselenzym u.a. für den Abbau der Inkretinhormone GLP-1 (Glucagon-like peptid-1) und GIP (Glucose-dependent insulinotropic peptide). GLP-1 senkt den Blutzuckerspiegel, indem es glukoseabhängig und zwar nur unter Hyperglykämiebedingungen die Insulinsekretion stimuliert und die Glukagonsekretion im Pankreas vermindert. Aus diesem Grund besitzen die DPP-4 Inhibitoren kein intrinsisches Hypoglykämierisiko und verhalten sich im Hinblick auf das Körpergewicht neutral. Die Verträglichkeit ist gut.
DPP-4 Inhibitoren sind indiziert bei Patienten in Kombination mit Metformin, Sulfonylharnstoffen oder Glitazonen, wenn das Therapieziel nicht erreicht wird. Dosierung: Sitagliptin 1x 100 mg/d, Vildagliptin 2x 50 mg/d (1-0-1).
GLP-1-Rezeptor-agonisten
Die GLP-1-Agonisten aktivieren den Rezeptor des Glucagon-like Peptids und führen damit zur glukoseabhängigen Stimulation der Insulinsekretion, postprandialen Glukagonsuppression und einer Verlangsamung der Magenentleerung. Vorteil ist die Reduktion des Gewichts im Mittel um 3-4 kg innerhalb von mehreren Wochen. Von Nachteil ist die subkutane Applikation sowie häufig gastrointestinale Beschwerden zu Beginn der Therapie. Es kommt häufig zur Bildung von Antikörpern gegen GLP-1-Agonisten, ob die Wirksamkeit des Medikaments dadurch eingeschränkt wird, ist noch unklar. Dosierung: Exenatide: Beginn mit 2x 5 µg/d jeweils innerhalb 60 Minuten vor Frühstück/Abendessen. Nach vier Wochen bei unzureichender Wirkung und guter Verträglichkeit Steigerung auf 2x 10 µg/d. Liraglutid: Initial 0,6 mg/d. Nach mindestens einer Woche 1,2 mg/d. Einige Patienten können von einer weiteren Steigerung auf 1,8 mg/d profitieren.
Insulin
Insulin ist indiziert, wenn das Therapieziel mit oralen Antidiabetika nicht erreicht werden kann sowie perioperativ, bei akuten Entgleisungen, Ketonurie (außer Hungerketonurie) und akutem Myokardinfarkt bei Diabetikern. Die Therapie mit oralen Antidiabetika (insbesondere mit Metformin) kann bzw. sollte weitergeführt werden. Zum Einsatz kommen
- NPH-Insulin oder langwirksame Insulin Analoga (Insulin Glargin/Insulin Detemir) vor dem Schlafengehen,
- schnellwirksames Insulin zu den Hauptmahlzeiten (evtl. in Kombination mit Basalinsulin zur Nacht),
- 2x täglich Mischinsulin (NPH-Insulin + schnellwirksames Insulin).
Diabetische Nephropathie
Der Verlauf der diabetischen Nephropathie ist charakterisiert durch:
- Veränderungen der Albuminausscheidung im Urin
- Abnahme der glomerulären Filtrationsleistung
- Entwicklung oder Verstärkung von Hypertonie, Dyslipoproteinämie und weiteren diabetestypischen Komplikationen.
Die Stadien sind in Tabelle 3 aufgeführt.
Die Diagnose kann mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, wenn eine persistierende Albuminurie besteht, d.h. Urin-Albuminkonzentration >20 mg/l in zwei Proben in zwei- bis vierwöchigem Abstand gemessen werden. Die Untersuchung der Albuminkonzentration im Urin sollte einmal jährlich durchgeführt werden. Wünschenswert ist die jährliche Berechnung der Clearance, da Diabetiker auch ohne Albuminurie bereits eine eingeschränkte Nierenfunktion aufweisen können. Die Entwicklung und das Fortschreiten der diabetischen Nephropathie können durch unzureichende Blutdruckeinstellung, Hypertonie, Rauchen, Anämie und erhöhte Eiweißzufuhr beschleunigt werden.
Stadium/Beschreibung | Albuminaus- scheidung (mg/L) |
Kreatinin-Clearance (ml/min) |
Bemerkungen |
---|---|---|---|
Nierenschädigung mit normaler Nierenfunktion | |
S-Kreatinin im Normbereich Blutdruck im Normbereich steigend oder Hypertonie Dyslipidämie, raschere Progression von KHK, AVK, Retinopathie und Neuropathie | |
1a Mikroalbuminurie | 20-200 | >90 | |
1b Makroalbuminurie | >200 | ||
Nierenschädigung mit Niereninsuffizienz (NI) |
S-Kreatinin grenzwertig oder erhöht, Hypertonie Dyslipidämie, Hypoglykämie-Neigung | ||
2 leichtgradige NI 3 mäßiggradige NI 4 hochgradige NI 5 terminale NI |
>200 abnehmend | 60-89 30-59 >15-29 <15 |
rasche Progression von KHK, AVK, Retinopathie und Neuropathie. Anämie-Entwicklung, Störung des Knochenstoffwechsels |
Tab. 3: Nephropathie-Stadien (neue Klassifikation) und assoziierte Begleiterkrankungen
Behandlung
Wichtig ist die normnahe Zuckereinstellung. Dabei sind folgende Besonderheiten zu beachten:
- Metformin: kontraindiziert bei eingeschränkter Nierenfunktion
- Glukosidasehemmer: keine Empfehlung wegen fehlender Studien
- Sulfonylharnstoffe: in der Regel Dosisreduktion, Ausnahme Gliquidon-Kontraindikation bei Kreatinin-Clearance <30 ml/min
- Meglinide: Dosisreduktion bei Kreatinin-Clearance <30 ml/min
- Glitazone: möglich
- DPP-4 Inhibitoren: bei Kreatinin-Clearance <60 ml/min kontraindiziert
- Exenatide: Dosisreduktion bei Kreatinin-Clearance <50-30 ml/min, Kontraindikation bei Kreatinin-Clearance <30 ml/min
- Insulin: im Verlauf meist Dosisreduktion
Zudem sollte bei hypertensiven Patienten der Blutdruck (soweit tolerabel) in den normotensiven Bereich (120-139/70-89) gesenkt werden. Mittel der Wahl sind hier ACE-Hemmer/AT1-Blocker. Weitere Therapiemaßnahmen sind die Gabe von Thrombozyten-Aggregationshemmer (z.B. ASS 100 mg/d), die Reduktion des LDL-Cholesterins <100 mg/dl, Nikotinkarenz, die Normalisierung einer erhöhten Eiweißaufnahme auf 0,8-1,0 k/kg Körpergewicht, die Behandlung einer Anämie und der Ausgleich eines gestörten Phosphat-Kalziumstoffwechsels durch Phosphatsenker bzw. Vitamin D oder entsprechende Analoga. RP
ACCORD und ADVANCE:
Es kommt auf die Art der Intensivierung an!
Die Studien ACCORD (Action to Control Cardiovascular Risk in Diabetes) und ADVANCE (Action in Diabetes und
Vascular disease: Preterax and Diamicron-MR Controlled Evaluation) mit jeweils über 10.000 Patienten untersuchten den
Effekt einer normnahen Glucose-Stoffwechseleinstellung auf makro- und mikrovaskuläre Komplikationen des Typ-2-Diabetes.
Die Ergebnisse der fünfjährigen Studien, die im Sommer 2009 publiziert wurden, waren teilweise widersprüchlich. In
ADVANCE führte eine intensivierte antihyperglykämische Therapie, die unter Vermeidung von Nebenwirkungen wie
Hypoglylämien und Gewichtszunahme, einen HbA1c-Wert von <6,5% anstrebte, im Vergleich zu 7,0% zu einer
signifikanten Reduktion der Nephropathie um relativ 21% (NNT 91 für 5 Jahre). Makrovaskuläre Endpunkte wurden nicht
beeinflusst. In ACCORD dagegen führte die Absenkung des HbA1c zu einer erhöhten Myokardinfarkt-Mortalität.
Dies deutet
darauf hin, dass die Art und Weise der Intensivierung der antihyperglykämischen Therapie von
entscheidender Bedeutung ist. Das bedeutet, dass die Absenkung des HbA1c auf 6,5% gegenüber 7,0% vorteilhaft
sein kann, aber nur angestrebt werden sollte, wenn:
- Hypoglykämien (insbesondere schwere) weitgehend vermieden werden,
- der therapeutische Effekt nicht mit einer wesentlichen Gewichtszunahme einher geht,
- wenig untersuchte Mehrfachkombinationen von oralen Antidiabetika (d.h. in der Regel mehr als zwei), und insbesondere die Beibehaltung solcher Mehrfachkombinationen bei zusätzlicher Gabe von Insulin vermieden werden.
Das in ACCORD praktizierte polypharmakotherapeutische Vorgehen wird nicht empfohlen. Besser ist der Einsatz einer nicht-hypoglykämisierenden Substanz (Metformin) als Mittel der ersten Wahl sowie von Insulin, falls der HbA1c-Zielwert unter einer maximal 2fachen Kombination von oralen Antidiabetika nicht erreicht wird.