Bärbel Knorr und Holger Sweers
Drogen,
Haft und Menschenrechte
Justizvollzug und Drogenkonsum
Logo zur Online-Unterschriftensammlung „Menschenrechte inhaftierter Drogengebraucher achten – Gesundheit und Leben schützen“
In Deutschland gibt es insgesamt 185 Justizvollzugsanstalten1 – die meisten in Nordrhein-Westfalen (37) und Bayern (36) – mit insgesamt 77.995 Haftplätzen. Am Stichtag 31.08.2010 befanden sich 70.103 Menschen in Haft. Die niedrigste Belegungsquote der Bundesländer hat dabei Hamburg mit 68%, die höchste Bayern mit 98%. Und während in Hamburg 88% der Gefangenen eine Einzelzelle haben, sind dies in Thüringen nur 47% (gefolgt von Baden-Württemberg mit 53% sowie Nordrhein-Westfalen und Bayern mit jeweils 62%2). Große Unterschiede gibt es auch bei den Kosten für die Gefangenen (einschließlich Betreuungs- und Sachaufwand): 2007 zahlte Hamburg 45.700 € für einen Inhaftierten, Bayern dagegen 25.500 € im Jahr.3
Zum Anteil Drogen gebrauchender Gefangener im deutschen Justizvollzug dagegen gibt es keine gesicherten Daten. Expert(inn)en gehen davon aus, dass ungefähr ein Drittel aller Inhaftierten zu dieser Gruppe gehört. Gestützt wird diese Annahme etwa durch die 2008 vom Wissenschaftlichen Institut der Ärzte Deutschlands (WIAD) und dem Robert Koch-Institut (RKI) veröffentlichte Studie „Infektionskrankheiten unter Gefangenen in Deutschland: Kenntnisse, Einstellungen und Risikoverhalten“4: Rund ein Drittel der 1.582 Befragten war wegen eines Drogendelikts inhaftiert – bei den Frauen waren es sogar knapp 50%5 –, und rund ein Viertel der Befragten gab an, auch in Haft Heroin zu konsumieren (22,7% innerhalb und außerhalb des Gefängnisses, 2,5% nur im Gefängnis, 12,5% nur in Freiheit).6
HIV und Hepatitiden in Haft
Marker | Getestete Gefangene insgesamt (n = 1.515) | Gefangene mit intravenösem Drogenkonsum (n = 464) |
Anti-HBc8 | 10,4% | 19,8% |
HBsAg9 | 2,5% | 18,0% |
Anti-HCV10 | 17,6% | 50,6% |
Anti-HiV | 0,8% | 1,9% |
Tab. 1 Seroprävalenz von HBV, HCV und HIV in deutschen Haftanstalten7
Daten zur Verbreitung von HIV- und Hepatitis-Infektionen in Haft stammen meist aus Untersuchungen zu einzelnen Haftanstalten. Die bereits erwähnte WIAD/RKI-Studie hingegen ist für den deutschen Strafvollzug repräsentativ. Die in dieser Studie ermittelten Prävalenzen von Hepatitis B und C sowie HIV zeigt die Tabelle 1.
HIV und Hepatitiden sind also in Haft weit stärker verbreitet als „draußen“ – und Drogen gebrauchende Gefangene sind besonders betroffen.
Infektionswege
Infektionsrisiken im Hinblick auf HIV und Hepatitiden ergeben sich in Haft vor allem durch
- den gemeinsamen Gebrauch von Spritzbestecken („Needle-Sharing“) sowie Löffeln, Filtern und Wasser („Work-Sharing“)
- ungeschützte Sexualkontakte unter Inhaftierten oder zwischen Gefangenen und Besuchern oder Personal
- Tätowieren und Piercen mit nichtsterilem Gerät.
Zugang zu sterilen Spritzbestecken
Während außerhalb der Gefängnismauern der Zugang zu sterilen Spritzen und Nadeln über Spritzenautomaten, Drogenhilfeprojekte oder auch Apotheken gesichert ist, bietet derzeit nur noch eine einzige der 185 Haftanstalten in Deutschland sterile Einwegspritzen an (JVA für Frauen in Berlin-Lichtenberg). In Niedersachsen hat man die erfolgreiche Spritzenvergabe 2003 und in Hamburg 2002 jeweils nach einem Regierungswechsel eingestellt, das Modellprojekt in der Berliner JVA Lehrter Straße wurde 2004 gestoppt. Die Folge: 16,3% der in der WIAD/RKI-Studie befragten Gefangenen gaben an, in Haft manchmal Nadeln gemeinsam zu benutzen, 4,6 % berichteten, dies in Haft immer zu tun.
Zugang zu Kondomen
Sexuelle Kontakte gibt es auch in Haft – auch zwischen heterosexuellen Männern. Kondome aber sind hinter Gittern oft gar nicht oder nicht anonym zugänglich (d.h., man bekommt sie über den Medizinischen/Sozialen Dienst oder beim Einkauf). Nur in Nordrhein-Westfalen gibt es einen „Kondomerlass“, wonach die Vollzugsanstalten den anonymen Zugang zu Kondomen und Gleitmitteln gewährleisten und begleitende Informationen anbieten müssen.
Hepatitis-B-Impfung
Die Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut empfiehlt eine Hepatitis-B-Impfung unter anderem bei Drogenabhängigkeit oder längerem Gefängnisaufenthalt.11 Angesichts der hohen Hepatitis-B-Prävalenz in Haft – laut der WIAD/RKI-Studie sind 2,5% aller Gefangenen und 18% der Drogen gebrauchenden Häftlinge potenzielle HBV-Überträger – erscheint diese Präventionsmaßnahme auch äußerst sinnvoll. Voraussetzung aber wäre, dass die Haftanstalten die Gefangenen über das Impfangebot informieren, was meist nicht der Fall zu sein scheint. Zudem erhalten Gefangene in einigen Bundesländern, etwa in Bayern, nur in Ausnahmefällen eine Hepatitis-B-Impfung.
Substitution in Haft
Die DAH fordert: Das Recht auf Gesundheit muss auch hinter Gittern geachtet werden!
In Deutschland wurden am Stichtag 1. Juli 2009 rund 74.600 Menschen substituiert.12 Grundsätzlich ist eine Substitutionsbehandlung auch in Haft möglich. In vielen Haftanstalten verbirgt sich hinter dem Begriff „Substitution“ aber lediglich ein medikamentengestützter Entzug oder ein Angebot zur Vorbereitung der Haftentlassung – und nicht die draußen angebotene längerfristige Behandlung mit den Zielen Sicherung des Überlebens, Reduktion des Gebrauchs anderer Suchtmittel, gesundheitliche Stabilisierung und Behandlung von Begleiterkrankungen, Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und am Arbeitsleben sowie Opiatfreiheit. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel wird weniger als ein Prozent der Gefangenen längerfristig substituiert – bei geschätzten 30 Prozent Drogengebrauchern im Strafvollzug.
Begründet wird der Abbruch einer draußen begonnenen Substitutionsbehandlung häufig mit positiven Urinkontrollen (UK) im Rahmen der Zugangsuntersuchung, die den Konsum anderer Drogen belegen. Die auch für Anstaltsärzte bindende Richtlinie der Bundesärztekammer zur Substitutionstherapie Opiatabhängiger besagt aber, dass auch bei „einem Wechsel in eine … Inhaftierung die Kontinuität der Behandlung durch die übernehmende Institution sicherzustellen“13 ist und dass vor der Beendigung einer Behandlung „alle anderen Interventionsmöglichkeiten ausgeschöpft worden sein“ sollten; hierzu gehörten insbesondere Optimierungen des Therapiekonzeptes, z.B. eine Dosisanpassung (Beigebrauch ist häufig die Folge einer zu niedrigen Dosierung des Substitutionsmittels).
Menschenrechte inhaftierter Drogengebraucher achten – Gesundheit und Leben schützen!
Um gegen diese Verletzungen des Menschenrechts auf Gesundheit zu protestieren, hat die Deutsche AIDS-Hilfe zum Gedenktag für verstorbene Drogengebraucher am 21. Juli eine Online-Unterschriftensammlung gestartet. Auf www.drogenundmenschenrechte.de fordern die Unterzeichner die Justizminister der Länder auf: „Sorgen Sie dafür, dass auch im Gefängnis sterile Spritzbestecke, Kondome und Gleitgel zugänglich sind und dass Drogenkonsumenten eine Substitutionsbehandlung mit dem für sie geeigneten Medikament erhalten können.“
1 Viele dieser Haftanstalten bestehen aus mehreren Häusern oder Teilanstalten; rechnet man diese mit, kommt man auf insgesamt 287 Haftanstalten.
2 Statistisches Bundesamt: Zahlen der Anstalten, Belegungsfähigkeit und Belegung am 31.08.2010
3 Statistisches Bundesamt: Justiz auf einen Blick, 2011
4 Eckert, J./Weilandt, C.: Infektionskrankheiten unter Gefangenen in Deutschland: Kenntnisse, Einstellungen und Risikoverhalten. Teilergebnisse des Projekts „Infectious Diseases in German Prisons – Epidemiological and Sociological Surveys among Inmates and Staff“ im Auftrag der Europäischen Kommission. Bonn, Berlin: WIAD/RKI 2008
5 a.a.O., S. 27
6 a.a.O., S. 38
7 Radun, D.: Seroprävalenz, Risikoverhalten, Wissen und Einstellungen in Bezug auf HIV, Hepatitis B und C bei erwachsenen Justizvollzugsinsassen, Deutschland. Vorstellung erster Ergebnisse, 4. Internationaler Fachtag Hepatitis C, Hamburg, 12.-13.09.2007
8 Anti-HBc = Antikörper gegen Eiweißbestandteile des Hepatitis-B-Virus (HBV)
9 HBsAG = HBs-Antigen, ein Bestandteil des Hepatitis-B-Virus
10 Anti-HCV = Antikörper gegen Hepatitis-C-Virus (HCV)
11 www.rki.de Infektionsschutz ® Impfen ® Impfungen A bis Z ® Hepatitis B
12 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) 2010
13 Siehe unter www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=1.117.1504.1575.8070 (letzter Zugriff: 08.08.2011).