„positive stimmen“:
Einzigartiges Interviewprojekt gegen Diskriminierung und
Stigmatisierung
Menschen mit HIV/Aids in Deutschland erleben auch heute noch Stigmatisierung und Diskriminierung. Viele haben das Gefühl, dass ihnen anders begegnet wird oder sie anders wahrgenommen werden, wenn Kenntnis von der Infektion besteht. Einige erzählen aus diesem Grund nur wenigen von ihrem HIV-Status – andere wiederum gehen offensiv damit um. Unklar bleibt trotz vieler Studien bisher: Wie genau zeigt sich für HIV-Positive Stigmatisierung und Diskriminierung im Alltag? Und wie häufig werden sie überhaupt damit konfrontiert? Was macht die Infektion mit dem Selbstverständnis und dem Selbstwert?
positive stimmen weltweit
Um diesen und anderen Fragen nachzugehen, haben internationale Organisationen eine systematische Auseinandersetzung und Dokumentation gestartet und den HIV-Stigma Index ins Leben gerufen. Vor sechs Jahren begann das Projekt und wurde zu Beginn hauptsächlich in Asien und Afrika umgesetzt. Mittlerweile sind an dem Projekt mehr als 30 Länder beteiligt, darunter auch immer mehr in Europa. Koordiniert und ermöglicht wird die Umsetzung in Deutschland durch die Deutsche AIDS-Hilfe e.V.
positive stimmen erforscht und dokumentiert
Anhand eines Fragebogens wird festgestellt, ob und wie Menschen mit HIV Diskriminierung oder Stigmatisierung erlebt haben. Es geht dabei nicht nur darum, ob Sozialarbeiter/innen HIV-Positive genauso behandeln wie nicht infizierte Menschen, sondern darum, ob diese auch das Gefühl haben, gleich behandelt zu werden. Denn: Die persönliche Wahrnehmung hat Einfluss auf das eigene Lebensgefühl. Was also macht der Umgang der Gesellschaft mit HIV und Aids mit den Menschen, die mit HIV leben? Und wie wirkt sich dieser Umgang auf die eigene Perspektive, auf das Leben mit HIV aus – inwiefern werden gesellschaftliche Bilder und damit auch Stigmatisierung verinnerlicht?
Durchgeführt werden die Befragungen im Rahmen von Interviews. Diese führen ausschließlich selbst HIV- positive Menschen, die eine Schulung durchlaufen haben. Anders als bei einer klassischen Erhebung findet ein vertrauensvolles Gespräch auf Grundlage eines entwickelten Fragebogens statt. Dieses Gespräch dauert ca. 90 Minuten. Wenn Bedarf zum weiteren Austausch besteht, können z.B. auch Kontakte zu Initiativen der Selbstorganisation hergestellt werden. Denn: Empowerment, also die Hilfe zu Selbsthilfe, ist wesentlicher Bestandteil des Projekts. Aber auch Weitervermittlungen zu Beratungseinrichtungen können erfolgen, falls das gewünscht ist.
Die Ziele von positive stimmen
Im Mittelpunkt
steht die Förderung des Engagements von HIV-Positiven und ihrer
Selbstorganisation. Es wird nicht ein weiteres Mal über Menschen mit HIV
geredet, hier kommen sie selbst zu Wort und formulieren ihre Ansichten,
Erlebnisse und Erwartungen sowie Forderungen an Politik und Gesellschaft. Die
ausgewerteten Ergebnisse sollen aufzeigen, wo (mehr) entstigmatisierende
Maßnahmen notwendig sind, wie Selbsthilfe sich noch besser fördern lässt und
welche Herausforderungen in den Fokus gehören. Im Sommer 2012 wird dies in die
Öffentlichkeit getragen.
Um möglichst viele verschiedene „Stimmen“ von Menschen mit HIV Gehör zu verschaffen, sind alle Menschen mit HIV/Aids aufgerufen, an einem Interview teilzunehmen.
Mehr Informationen zum Projekt gibt es unter www.positive-stimmen.de
Wer sich interviewen lassen möchte, kann sich direkt wenden
positive-stimmen@dah.aidshilfe.de
Filmtrailer positive stimmen: www.positive-stimmen.de/content/trailer-video-positive-stimmen
Mehr zum
internationalen Projekt: www.stigmaindex.org
Dieter Telge
Foto: Wolfgang Ikert
Dieter Telge nimmt als Interviewer an positive stimmen teil. Der 56-Jährige ist seit vielen Jahren in AIDS-Hilfen aktiv, unter anderem moderiert er aktuell einen Gesprächskreis für ältere schwule Männer. Über die eindrücklichen Erfahrungen, die er mit „positive Stimmen“ bereits gemacht hat, sprach er mit Philip Eicker:
„Mehr Sensibilität in den eigenen Reihen entwickeln“
Warum ist es wichtig, dass HIV-Positive die Interviews führen?
Telge: Das ist ja nicht in jedem Fall wichtig. Ich persönlich könnte jedem Menschen ein Interview geben. Aber viele andere HIV-Positive, vor allem solche, die Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen gemacht haben, können unsicher sein. Erstens, ob sich das Gespräch überhaupt lohnt, und zweitens, ob die Person, das ganze Verfahren überhaupt vertrauenswürdig ist. Es kommt ja darauf an, dass diese Gespräche durchgehalten werden, dass die Leute sich dabei wohlfühlen, sich nicht abkapseln und bestimmte Dinge vielleicht nicht mehr preisgeben, weil es ihnen unangenehm ist. Das kann gerade in jenen Fällen, wo es um unangenehme Erfahrungen geht, eine wesentliche Voraussetzung sein, um diese Probleme zu dokumentieren. Deshalb ist es wichtig, dass Menschen mit Migrationshintergrund die Chance bekommen, von ihresgleichen interviewt zu werden. Dasselbe gilt für Frauen, für Schwule – und ganz allgemein für Positive. Jeder soll sich das Setting heraussuchen können, das ihm am besten entspricht. Und ganz wichtig: Vorher müssen wir die Rahmenbedingungen klären: Zu Anonymität und Datenschutz der Beteiligten gibt es bei „positive stimmen“ ausführliche Regelungen, die sich Interessierte in Ruhe durchlesen können, bevor sie entschieden, ob sie überhaupt mitmachen wollen. Alle erfragten Daten werden so eingegeben, dass später keine Rückschlüsse auf die Interviewten gezogen werden können und natürlich bin ich auch selbst zur Verschwiegenheit verpflichtet.
Du hast erwähnt, Positive würden sich auch überlegen, ob sich die Teilnahme an so einem Projekt überhaupt lohnt. Was könnte denn dagegen sprechen?
Telge: Erst mal nimmt man natürlich an: Positive sind dankbar für die Gelegenheit, ihre Stimme zu erheben. Aber das baut ja stark auf der Annahme auf, dass in der Aidshilfe nur Gutmenschen arbeiten, die schon sehr sensibel sind für Diskriminierung und Stigmatisierung. Die persönlichen Erfahrungen sind leider oft ganz andere. Da müssen wir als Interviewende auch im Einzelfall Überzeugungsarbeit leisten, müssen für das Projekt werben. Aids- und Selbsthilfe ist ja – wie auch die Schwulen- oder Transcommunity – etwas janusköpfig: Auch dort sind fehlbare Menschen aktiv, die nicht davor geschützt sind, andere zu diskriminieren oder zu stigmatisieren. Für solche Fehlentwicklungen müssen wir immer aufmerksam sein und ihnen streitbar entgegentreten. Die „positiven stimmen“ nehme ich als wichtigen Versuch wahr, mehr Sensibilität in den eigenen Reihen zu entwickeln.
Was ist für dich das Ziel der „positiven stimmen“?
Telge: Was ich toll finde: Durch das Projekt werden Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen aus ganz unterschiedlichen Lebenswelten zusammengetragen – nicht nur bezogen auf HIV und Aids. Aber über das Merkmal HIV können sie gebündelt und dokumentiert werden. Mich haben die Umfrageergebnisse aus anderen Ländern und Kontinenten zum Teil sehr erschreckt. Und ich bin sehr gespannt, was in unserem Land zu bilanzieren sein wird. Sollten dabei so erschreckende Erfahrungen zutage treten wie anderswo, dann hat das Projekt schon eine wichtige Aufgabe erfüllt.
Was genau hat dich so erschreckt?
Telge: Während der Schulung schilderte eine Interviewerin ihre Erschütterung über einen Bericht ihrer Gesprächspartnerin, einer Frau aus Afrika, die selbst gelernt hatte, ihre heftigen Erfahrungen – notgedrungen – lässig zu nehmen. Zumindest hat sie uns das so präsentiert. Aber die Interviewerin war so angerührt, dass sie anfing zu weinen. Da wurde mir plötzlich klar: Ähnliche Gefühle hatte ich nach meinen eigenen Diskriminierungserlebnissen eigentlich hinter mir lassen wollen, aber ich würde sie nicht loswerden. Es war eine sehr wichtige Erfahrung, sich dessen bewusst zu werden und sich dabei in der Gruppe aufgehoben zu fühlen. Ein solcher Moment kann ja auch später in einem Interview entstehen. Unter Umständen muss ich den Menschen, mit dem ich spreche, in einer ähnlich krisenhaften Gesprächssituation auffangen.
„positive stimmen“ will Menschen mit HIV ein Forum schaffen. Welche Stimmen werden denn deiner Meinung nach noch nicht ausreichend wahrgenommen?
Telge: Es ist nicht so, dass einzelne Gruppen gänzlich fehlen. Sie sind aber unterschiedlich laut wahrzunehmen. Nur: Bei einer Gesamtheit, die zumindest hierzulande noch immer zu zwei Dritteln aus schwulen, weißen, deutschen Mittelschichtsmännern besteht, werden zum Beispiel einzelne engagierte Frauen mit HIV nicht so stark wahrgenommen. Dazu kommt: Menschen mit Migrationshintergrund oder mit Drogenerfahrungen haben vielleicht auch ganz andere Prioritäten in ihrem Leben, als dass sie sich immerzu zum Thema HIV lautstark zu Wort melden könnten. Das bedeutet leider, dass sie unter Umständen viel weniger wahrgenommen werden.